15. Februar 2022 1 Likes

Neuerscheinung: Frederik Pohls Klassiker „Mensch Plus“

Eine Leseprobe aus dem Meisterwerk der Science-Fiction

Lesezeit: 9 min.

Die Menschheit steht kurz davor, sich in einem globalen Krieg zu vernichten und die Erde mit in den Abgrund zu reißen. Deswegen wird ein Marskolonisten-Programm gestartet, aber um auf unserem unwirtlichen Nachbarplaneten ohne Hilfsmittel zu überleben, müssen die Körper der Siedler verändert werden. Roger Torraway ist das erste erfolgreiche Produkt des Mensch-Plus-Programms. Äußerlich hat er nur noch wenig mit seinen Mitmenschen gemein. Aber innerlich ist er nach wie vor ein Mann – und genau hier liegt sein Dilemma …

 

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Fitz-James Deshatine kam grinsend und nickend herein und sah genau aus wie im Fernsehen, nur kleiner. Ohne vorherige Aufforderung bildeten die Leute vom Labor einen Halbkreis, und der Präsident ging herum und drückte jede Hand, während der Projektdirektor neben ihm die Leute vorstellte. Deshatine war großartig vorbereitet. Er besaß das Talent des Politikers, jeden Namen zu erfassen und irgendeine persönliche Reaktion zu zeigen. Zu Kathleen Doughty: »Freut mich, Irisches in dieser Mannschaft zu sehen, Doktor Doughty.« Zu Roger: »Wir sind uns schon einmal begegnet, Colonel Torraway. Nach der hervorragenden Leistung mit den Russen. Warten Sie, das muss sieben Jahre her sein, als ich Vorsitzender des Senatsausschusses war. Vielleicht erinnern Sie sich.« Natürlich erinnerte sich Roger – und war geschmeichelt und wusste, dass ihm geschmeichelt wurde, dass der Präsident sich erinnerte. Zu Dorrie: »Guter Gott, Mrs. Torraway, wie kann ein hübsches Mädchen wie Sie sich an einen von diesen Wissenschaftler-Burschen verschwenden?« Roger erstarrte ein wenig, als er das hörte. Es war nicht so sehr die Tatsache, dass ihn das herabsetzte, es war die Art von leerem Kompliment, die Dorrie immer verabscheute. Aber sie verabscheute es nicht. Es kam vom Präsidenten der Vereinigten Staaten und ließ ihre Augen aufblitzen. »Was für ein wunderbarer Mann«, flüsterte sie, während sie jeden seiner Schritte verfolgte.

Als er den Halbkreis durchschritten hatte, sprang er auf das kleine Podium und sagte: »Nun, meine Freunde, ich bin hergekommen, um zu sehen und zu hören, nicht, um zu reden. Ich möchte aber doch jedem von Ihnen dafür danken, dass er sich mit dem Unfug abfindet, den man ertragen muss, wenn ich irgendwo bin. Ich bedaure das. Es ist nicht meine Idee. Man sagt mir nur, dass es notwendig sei, solange es so viele Sonderlinge gibt. Und solange die Feinde der freien Welt bleiben, was sie sind, und wir die offenen, vertrauensvollen Menschen, die wir sind.« Er grinste Dorrie direkt an. »Sagen Sie, haben Sie Ihre Fingernägel eintunken müssen, bevor man Sie hereingelassen hat?«

Dorrie lachte melodisch und überraschte damit ihren Mann. (Sie hatte sich wutentbrannt darüber beklagt, dass ihr Nagellack ruiniert sei.)

»Gewiss, Mr. President. Genau wie bei meiner Maniküre«, rief sie.

»Das tut mir leid. Es heißt, damit wolle man sich vergewissern, dass Sie keine geheimen biochemischen Gifte haben, mit denen Sie mich kratzen könnten, wenn wir uns die Hand geben. Nun ja, man muss eben tun, was verlangt wird. Abgesehen davon« – er lachte leise – »sollten Sie, wenn Sie meinen, dass das für die hübschen Damen unerfreulich sei, mal sehen, was meine alte Katze macht, wenn sie das mit ihr tun. Nur gut, dass sie nicht wirklich Gift an den Krallen hatte, das letzte Mal. Sie hat drei Secret-Service-Leute, meinen Neffen und zwei von ihren eigenen Kätzchen erwischt, bevor sie fertig war.« Er lachte, und Roger war ein wenig erstaunt darüber festzustellen, dass er, Dorrie und die anderen einfielen. »Jedenfalls bin ich dankbar für Ihre Liebenswürdigkeit«, sagte der Präsident und kam zur Sache. »Und ich bin noch tausendmal dankbarer für die Art, wie Sie das Projekt Mensch Plus durchziehen. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, was es für die freie Welt bedeutet. Da draußen ist der Mars, der einzige Grundbesitz ringsum, den zu haben sich lohnt, abgesehen von dem, auf dem wir jetzt alle stehen. Bis zum Ende dieses Jahrzehnts wird er jemandem gehören. Es gibt nur zwei Möglichkeiten. Er wird ihnen gehören oder uns. Und ich möchte, dass er uns gehört. Sie hier sind diejenigen, die dafür sorgen werden, dass es dazu kommt, weil Sie uns den Menschen geben werden, der auf dem Mars leben kann. Ich möchte Ihnen aus ganzem Herzen im Namen aller Menschen in den demokratischen Ländern der freien Welt dafür danken, dass Sie diesen Traum möglich machen. Und nun«, sagte er, einen Versuch zu höflichem Applaus unterdrückend, »wird es Zeit, dass ich aufhöre zu reden und anfange zuzuhören. Ich möchte sehen, was mit unserem Plus-Menschen geschieht. General Scanyon, Ihr Stichwort.«

»Jawohl, Mr. President.«

Vern Scanyon war Direktor der Laborabteilung des Grissom-Instituts für Raummedizin. Er war außerdem pensionierter Zweisternegeneral und benahm sich auch so. Er schaute auf die Uhr, warf seinem Assistenten (manchmal nannte er ihn seinen Stabsoffizier) einen Blick zu und sagte: »Wir haben noch einige Minuten, bis Commander Hartnett seine Aufwärmtests abgeschlossen hat. Vielleicht sehen wir ihn uns eine Minute über die Monitoranlage an. Dann werde ich versuchen, Ihnen zu erklären, was heute geschehen wird.«

Es wurde dunkel im Raum. Ein Fernsehprojektionsschirm hinter dem Podium leuchtete auf. Ein Scharren wurde hörbar, als einer der Kellner einen Stuhl für den Präsidenten heranschob. Er murmelte etwas. Der Stuhl wurde zurechtgerückt, der Präsident nickte, schattenhaft im Flackern des Projektionsschirms erkennbar, und hob den Kopf.

Der Schirm zeigte einen Mann.

Er sah nicht aus wie ein Mann. Sein Name war Will Hartnett. Er war Astronaut, Demokrat, Methodist, Ehemann, Vater, Amateurschlagzeuger, ein wunderbar eleganter Tänzer; aber für das Auge war er nichts von alledem. Für das Auge war er ein Monstrum.

Er sah in keiner Weise menschlich aus. Seine Augen waren glühende, rot facettierte Kugeln. Seine Nasenflügel bauschten sich in Fleischfalten, wie die Schnauze eines Sternmull-Maulwurfs. Seine Haut war künstlich, die Farbe war von normaler, starker Sonnenbräune, die Beschaffenheit aber von der einer Rhinozeroshaut. Nichts, was an ihm sichtbar war, hatte das Aussehen, mit dem er geboren worden war. Augen, Ohren, Lungenflügel, Nase, Mund, Kreislaufsystem, Wahrnehmungszentren, Herz, Haut – alles war ersetzt oder verändert worden. Die sichtbaren Veränderungen waren nur die Spitze des Eisbergs. Was man in ihm geschaffen hatte war viel komplexer und wichtiger. Er war zu dem einzigen Zweck umkonstruiert worden, dass er ohne künstliche Hilfen auf der Oberfläche des Planeten Mars leben konnte.

Er war ein Cyborg – ein kybernetischer Organismus. Er war halb Mensch, halb Maschine, die beiden ungleichartigen Teile so zusammengefügt, dass selbst Will Hartnett bei den Gelegenheiten, wo er sich im Spiegel betrachten durfte, nicht wusste, was von ihm und was hinzugefügt war.

Trotz der Tatsache, dass nahezu jeder im Saal bei der Erschaffung des Cyborgs mitgewirkt, trotz der Vertrautheit, die jeder mit seinen Fotos, dem Fernsehbild und seiner Person selbst hatte, gab es ein unterdrücktes Ächzen. Als die Fernsehkamera Hartnett erfasste, machte er gerade, ohne jede Anstrengung zu zeigen, Liegestütze. Der Blick ging aus einer Entfernung von etwa einem Meter auf seinen seltsam geformten Kopf, und immer, wenn er sich hochstemmte, kam er mit den Augen auf Kamerahöhe, und die Facetten, die ihm Vielfachsicht auf die Umgebung gestatteten, glänzten.

Er sah sehr merkwürdig aus. Roger, der sich an die alten Fernsehfilme aus seiner Kindheit erinnerte, fand, dass sein guter, alter Kumpel viel unheimlicher aussah als irgendeine belebte Karotte oder ein Riesenkäfer in den Horrorfilmen. Hartnett war in Danbury, Connecticut, geboren. Alle sichtbaren Kunstprodukte, die er trug, waren in Kalifornien, Oklahoma, Alabama oder New York hergestellt. Aber nichts davon sah menschlich oder auch nur terrestrisch aus. Er wirkte marsianisch.

In dem Sinn, dass die Form der Funktion entspricht, war er Marsianer. Er war für den Mars gestaltet. In gewissem Sinn war er auch schon dort. Das Grissom-Institut hatte die besten Marsnormtanks der Welt, und Hartnetts Liegestütze wurden auf Eisenoxidsand ausgeführt, in einer Druckkammer, wo der Gasdruck auf zehn Millibar gesenkt worden war, nur ein Prozent des Drucks auf der anderen Seite der doppelten Glaswände. Die Temperatur der spärlichen Gasmoleküle um ihn wurde bei fünfundvierzig Grad Celsius unter null gehalten. Batterien starker Ultraviolettlampen fluteten die Szene mit dem genauen Spektrum des Sonnenlichts an einem Wintertag auf dem Mars.

Wenn der Ort, wo Hartnett sich befand, nicht wirklich der Mars war, kam er ihm nah genug, um sogar einen Marsianer – falls es je so etwas gegeben hatte – in jeder Beziehung bis auf eine zu täuschen. In jeder außer dieser einen Beziehung hätte ein Ras Thavas oder eine Molluske von H. G. Wells aus dem Schlaf erwachen, sich umschauen und zu dem Schluss kommen können, dass er sich wirklich auf dem Mars befände, an einem Spätherbsttag in den mittleren Breiten, kurz nach Sonnenaufgang.

Der einzigen Anomalie konnte einfach nicht abgeholfen werden. Er war der gewohnten Erdschwerkraft unterworfen, statt des Bruchteils der Anziehung, die für die Marsoberfläche passend gewesen wäre. Die Ingenieure waren so weit gegangen, die Kosten dafür zu berechnen, den ganzen Marsnormbehälter mit einer umgebauten Düsenmaschine hochzufliegen und in einer vorausberechneten Parabel hinabzustürzen, um wenigstens für zehn oder zwanzig Minuten jeweils die richtige Marsschwerkraft zu erzeugen. Sie hatten sich wegen der hohen Kosten anders entschieden und die Auswirkungen dieser einen Unstimmigkeit bedacht, eingeschätzt, einberechnet und schließlich abgetan.

Das einzige, was niemand bei Hartnetts neuem Körper befürchtete, war, dass er zu schwach für irgendeine Belastung sein mochte, die man ihm zumuten würde. Er stemmte bereits Gewichte von einer halben Tonne. Wenn er den Mars endlich erreichte, würde er in der Lage sein, solche Lasten herumzuschleppen.

In gewissem Sinn wirkte Hartnett auf der Erde grausiger, als das auf dem Mars der Fall gewesen wäre, weil seine Telemetrieausrüstung so monströs war wie er selbst. Puls-, Temperatur- und Hautwiderstandsensoren klebten an Schultern und Kopf. Sonden reichten unter die zähe künstliche Haut, um seine inneren Strömungen und Widerstände zu messen. Sendeantennen ragten wie ein Reisigbesen aus seinem Tornister. Alles, was in seinem System vorging, wurde unablässig gemessen, verschlüsselt und auf die 100-Meter-pro-Sekunde-Breitband-Aufzeichnungsbänder übertragen.

Der Präsident flüsterte etwas. Roger Torraway beugte sich vor und hörte den Schluss: »… er hören, was wir hier sagen?«

»Nicht, bis ich uns an sein Kommunikationsnetz anschließe«, sagte General Scanyon.

»Aha«, sagte der Präsident langsam, aber was immer er hatte sagen wollen, wenn der Cyborg ihn hören konnte, er sprach es nicht aus. Roger spürte einen Stich des Mitgefühls. Er selbst musste immer noch überlegen, was er sagte, wenn der Cyborg mithören konnte, und zensierte, was er sprach, selbst dann, wenn Hartnett nicht dabei war. Es war einfach nicht recht, dass etwas, das Bier getrunken und ein Kind gezeugt hatte so hässlich sein durfte. Alle Worte, die von Belang sein mochten, wirkten nur ärgerlich.

Der Cyborg schien entschlossen zu sein, seine Übungen endlos fortzusetzen, aber jemand, der laut den Rhythmus angegeben hatte – eins und zwei, eins und zwei –, hörte auf, und der Cyborg hörte auch auf. Er stand auf, methodisch und ganz langsam, so, als übe er einen neuen Tanzschritt. Mit einer Reflexbewegung, die keine Funktion mehr erfüllte, rieb er mit dem Rücken seiner dickhäutigen Hand seine kunststoffglatte und brauenlose Stirn.

Roger Torraway rückte in der Dunkelheit seitwärts, um am berühmt kantigen Profil des Präsidenten vorbei besser sehen zu können. Selbst am Umriss konnte Roger erkennen, dass der Präsident die Brauen ein wenig zusammengezogen hatte. Roger legte den Arm um die Hüfte seiner Frau und fragte sich, wie das sein musste, in einer empfindlichen und heimtückischen Welt der Präsident von dreihundert Millionen Amerikanern zu sein. Die Kraft, die durch den Mann in der Dunkelheit vor ihm floss, konnte binnen neunzig Minuten Fusionsbomben in jede entlegene Ecke der Welt schleudern. Es war die Kraft des Krieges, die Kraft der Bestrafung, die Kraft des Geldes. Die Macht des Präsidenten hatte das Projekt Mensch Plus überhaupt erst in Gang gebracht. Der Kongress hatte sich gegen die Finanzierung nie gesträubt und wusste nur ganz allgemein, was vorging: das Ermächtigungsgesetz hatte den Titel »Gesetz zur Schaffung ergänzender Raumforschungseinrichtungen nach dem Ermessen des Präsidenten« getragen.

»Mr. President«, sagte General Scanyon, »Commander Hartnett würde Ihnen gerne einige Fähigkeiten seiner Prothesen vorführen. Gewichtheben, Hochsprung, was Sie wünschen.«

»Ach, für einen Tag hat er genug gearbeitet«, sagte der Präsident lächelnd.

 

Lesen Sie weiter in: Frederik Pohl: Mensch Plus • Meisterwerke der Science-Fiction • Aus dem Amerikanischen von Tony Westermayr • Vollständig überarbeitete Ausgabe, Wilhelm Heyne Verlag, München 2022 • 352 Seiten • Als Taschenbuch und E-Book erhältlich • € 10,00 (TB) im Shop

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