Das Wechselspiel von Geist und Körper
Octavia E. Butler entwirft in „Wilde Saat“ eine Utopie mit Widerhaken
Ein dank Körperwechsels quasi unsterblicher Geist und eine selbstbestimmte Frau, die ihre Gestalt beliebig zu verändern vermag – dies sind die konfliktträchtigen Hauptfiguren von „Wilde Saat“ (im Shop), einem der herausragenden Romane von Octavia E. Butler. Ursprünglich bereits 1980 veröffentlicht, glänzt das Buch nicht nur dank seiner ungewöhnlichen Auffassung von Science-Fiction, sondern wartet mit einer verblüffend aktuellen Geschlechterkonzeption auf. Kein Wunder, dass der Roman gerade für eine Verfilmung als TV-Serie vorbereitet wird.
„Doro entdeckte die Frau durch einen Zufall. Er wollte wissen, was von einem seiner Zuchtdörfer übrig geblieben war.“ Doro ist ein Mann, doch sein Geschlecht beruht nicht auf Zufall, sondern auf freier Wahl: Sein Geist lebt seit 3.700 Jahren und vermag den Körper nach Belieben zu wechseln. Aus diesem evolutionären Vorteil hat Doro eine Strategie entwickelt, denn er sammelt außergewöhnliche Menschen – etwa solche, die Gedanken lesen oder Gegenstände durch Geisteskraft bewegen können. Doro verstärkt diese Fähigkeiten mittels Zuchtprogrammen in eigens gegründeten Kolonien; dabei geht er wenig rücksichtsvoll vor: Das mit dem Körperwechsel einhergehende Töten ist neben der Zucht seine liebste Beschäftigung.
Trotz seiner Dominanz spürt Doro sofort, dass Anyanwu etwas besonderes ist, als er ihr im Jahr 1690 in den Weiten Afrikas begegnet. Die ihm zunächst in Gestalt einer alten Frau erscheinende Heilerin vermag ihren Körper zwar nicht zu verlassen, kann ihn aber beliebig umgestalten. Die Verwandlung in einen Mann gelingt ihr, die bereits dreihundert Jahre lebt, ebenso leicht wie die in einen Leoparden. Für Doro ist Anyanwu „wilde Saat“, also eine zufällige Mutation, und er weiß, dass er ihre Gene jenem Pool hinzufügen muss, an dem er bereits seit Jahrtausenden arbeitet. Nachdem sie sich die Gestalt einer attraktiven Frau gegeben hat, zögert Doro daher nicht, sich mit ihr zu vereinigen – zumal er mit dem Nachlassen ihres Widerstands rechnet, wenn seine Kolonie in Nordamerika erreicht ist. Dort würde sie schon noch „Gehorsam und Unterwürfigkeit lernen“, wie er meint. Doch Doro irrt sich. Anyanwu weiß um ihre Stärken, und sie ist schon lange nicht mehr bereit, sich dem Willen anderer unterzuordnen. Das Duell, das sich zwischen ihr und Doro entwickelt, wird sich bis 1840 hinziehen – und erst zum Schluss eine für die Frau akzeptable Balance finden. Dabei bleibt allerdings offen, ob diese von Dauer ist.
Octavia E. Butler (1947–2006) gehört zu den wichtigsten farbigen SF-Autorinnen und ist für ihr Werk mehrfach ausgezeichnet worden; ihre Erzählung Bloodchild (1984; dt. Blutsbrut bzw. Blutsbande) gelang es, die vier bedeutendsten SF-Preise – darunter Hugo und Nebula – auf sich zu vereinen. Respekt hat sie sich insbesondere mit ihrer Xenogenesis-Trilogie (1987–1989, im Shop) verschafft. Als Frau afroamerikanischer Herkunft, die in ihren Büchern Fragen um Geschlecht und Ethnie thematisiert, kommt Butler Pionierstatus zu; tatsächlich erweist sich auch Wilde Saat in dieser Hinsicht als anschlussfähig. Die Geschichte Anyanwus, die die sich frei entscheiden kann, welche Gestalt sie annehmen möchte, setzt eine verblüffende Leichtigkeit des Geschlechterwechsels voraus. Dieser ist selbstverständliche Grundlage des Buchs, das eine Utopie mit Widerhaken entwirft: Doros Siedlungen sind „Sammelbecken verschiedenartigster Menschen“, und niemand „käme auf die Idee, sich über das Aussehen und die Hautfarbe des anderen Gedanken zu machen“. Aber die Kolonien stehen im Zeichen eines autoritären Herrschers, dem jedwede Skrupel fern sind, weshalb er bedenkenlos mit Sklavenhändlern paktiert. Entsprechend gerät die rassistische Perspektive in den Fokus: „Zivilisation ist die Weise, wie ein Volk lebt. Unzivilisiertheit ist die Weise, wie die anderen leben.“
Wild Seed steht chronologisch am Beginn der fünfbändigen Patternist-Serie (1976–1984), die die angesprochenen Themen weiter ausführt und vertieft; allerdings ist der Roman in sich abgeschlossen und kann daher für sich gelesen werden. Es fällt auf, wie sehr das Buch typische Genremotive gegen den Strich bürstet oder schlichtweg ignoriert – wer glaubt, SF hätte grundsätzlich etwas mit Wissenschaft, Technik und Zukunft zu tun, sieht sich auf das angenehmste getäuscht. Tatsächlich hätte der ruhig und klug erzählte Roman mit nur wenigen Änderungen der Fantasy zugeordnet werden können, an die durchgehend erinnert. Von daher ist Wilde Saat auch für all jene geeignet, die der SF skeptisch gegenüberstehen. Dem entspricht die geschmackvolle Umschlaggestaltung, bei der Designerin Nele Schütz Weltklasse abgeliefert hat.
Octavia E. Butler: Wilde Saat • Roman • Aus dem Amerikanischen von Will Platten • vollständig überarbeitete Ausgabe, Heyne, München 2021 • 477 S. • Erhältlich als Taschenbuch und eBook • Preis des Taschenbuchs € 9,99 • im Shop • Leseprobe
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