20. März 2023

Die Sterne lügen, der Kapitalismus zermürbt, aber Kreativität verbindet

Phantastik-Comic-Neuheiten im März

Lesezeit: 5 min.

Mangaka Junji Ito nimmt sich Frankenstein vor, Liv Strömquist zerlegt die Astrologie, Léa Murawiec bringt in ihrem Debüt die Logik der digitalen Aufmerksamkeitsökonomie zu einem dystopischen Ende. Und die Comicfestivals der Zukunft finden auf dem Mond statt.

 

Léa Murawiec: Die große Leere

Die Zürcher Edition Moderne hat sich seit David Baslers Staffelübergabe an die jüngere Verleger*innengeneration zu einem kleinen Labor für avantgardistisch beflissene SF-Comics entwickelt. „Die große Leere“, das mehrfach preisgekrönte Graphic-Novel-Debüt der französischen Zeichnerin Léa Murawiec, ist der nächste Wurf. Optisch ein farbminimalistischer Hybrid aus Manga- und Cartoon-Einflüssen, inhaltlich ein latent dystopischer Zukunftsentwurf mit satirischen Anklängen.

Das Leben in einer Metropole von morgen steht vollständig unter dem Druck der Aufmerksamkeitsökonomie: Nur mediale Präsenz führt zu Anerkennung, ist nicht nur der Gradmesser für ein gutes Leben, sondern die zentrale Identitätsstütze. Im wahrsten Sinne, denn als die Protagonistin Manel Naher herausfindet, dass eine Prominente denselben Namen wie sie trägt, steht ihre Existenz auf dem Spiel. Murawiec entwirft eine Gesellschaft, die als Heilkraft für dieses lebensbedrohliche Dilemma nur den Ausweg zulässt, den technologischen Selbstdarstellungsdruck entweder zu erhöhen oder zu sterben. Identitäre Dauerselbstoptimierung als Säule der psychischen Gesundung, kollektive Fremdwahrnehmung als Ticket ins individuelle Glück, das Leben ein existentieller Wettbewerb um Aufmerksamkeit – der Neoliberalismus ist dem Plot offensichtlich längst auf der Spur. Murawiec reicht ihm nur ein paar weitere Werkzeuge.

Léa Murawiec: Die große Leere • Edition Moderne, Zürich 2023 • 208 Seiten • Hardcover • € 34,00

 

Liv Strömquist: Astrologie

An „Die große Leere“ ließe sich mit Liv Strömquists neuem Comicessay prima anknüpfen. Es geht um Astrologie und die Frage, wofür selbige eigentlich ein Symptom ist und warum sie gerade jetzt einen Aufschwung erlebt. Unter den theoretischen Stichwortgebern befindet sich Adorno und grundsätzlich ist der analytische Weg zu den Zerfallserscheinungen des Kapitalismus nicht weit. Ein Erklärungsansatz lautet, dass „in einer Ära extremen Narzissmus‘ Astrologie eine weitere Möglichkeit bietet, sich obsessiv mit dem eigenen Ich zu befassen“. Eine weitere, dass „die randomisierten, chaotischen, erlogenen Antworten der Astrologie das einzige sind, was in Zeiten radikaler Ungewissheit glaubwürdig erscheint“. Wie eine Art degenerierte Vernunft bietet sich die Astrologie als Substitut der Erklärung von gesellschaftlichen Prozessen an, die wir individuell nicht beeinflussen können, und da ist es letztlich eins, ob der rückläufige Merkur eine Wirtschaftskrise auslöst oder ein unentwirrbares Finanzsystem. Weil wir in einer Gesellschaft leben, in der Rationalität und Irrationalität parallel existieren, ist die Astrologie eine Abbildung dieses Paradoxons. Wie immer findet Strömquist für ihre (oftmals geliehenen) Thesen schreiend komische Beispiele, ein Minimalmakel wäre höchstens, dass diesmal die Bildebene dem Text nur noch selten eine zusätzliche Pointe verleiht.

Liv Strömquist: Astrologie • Avant-Verlag, Berlin 2023 • 176 Seiten • Softcover • € 22,00

 

Alexadre Clérisse: Lose Blätter

Ein Kopist des ausgehenden Mittelalters fragt sich: „Wie würde die Welt sein in fünf Jahrhunderten? Könnten die Bilder sich auf dem Pergament bewegen? Wäre vielleicht das Pergament selbst infrage gestellt?“ Ein zwölfjähriger Nachwuchszeichner der Gegenwart findet in einer Abtei alte Drucklettern und erlebt seinen ersten großen Inspirationsschub. Eine Zeichnerin führt in den 2050er Jahren die berühmte Comicserie ihres Vaters fort, aber es läuft mit der Zeit immer schleppender. Um Hilfe kann sie ihn schlecht bitten, besucht er doch ein Comicfestival auf dem Mond (es könnte übrigens besser besucht sein). Und alle drei entspringen womöglich demselben kreativen Geist.

Der französische Zeichner Alexandre Clérisse ist in der Phantastik gut geschult: 2014 veröffentlichte er zusammen mit Szenarist Thierry Smolderen eine verspielte Biografie des unter dem Pseudonym Cordwainer Smith schreibenden SF-Autors Paul Linebarger. 2016 verbeugten sie sich in „Ein diabolischer Sommer vor den italienischen „Diabolik“-Comics und 2020 erschien „Ein Jahr ohne Cthulhu“, ihre Lesart des Lovecraft-Kosmos als wunderschöner Werbegrafik-Bildersog. „Lose Blätter“ ist Clérisses aktuelle Solo-Arbeit und fügt sich tadellos ins beeindruckende Gemeinschaftswerk – eine Reflexion über Künstler*innen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die mit sich und ihrer Umgebung hadern.

Alexadre Clérisse: Lose Blätter • Carlsen, Hamburg 2023 • 144 Seiten • Hardcover • € 25,00

 

Junji Ito: Frankenstein

Manga-Star Junji Ito ist ein Meister der surrealistischen Groteske, schließlich hat er uns mit „Uzumaki“ die Angst vor Spiralen eingeflößt. Bei Carlsen erscheint seit einigen Jahren eine schöne Ito-Hardcover-Bibliothek im einheitlichen Look. Der aktuelle Band enthält fast ein Dutzend Horror-Kurzgeschichten, die aus diversen Magazinveröffentlichungen zusammengetragen wurden, am umfangreichsten ist die Adaption von Mary Shelleys Roman. Diese nimmt sich aus wie eine auf den ersten Blick erstaunlich pflichtschuldige Ehrung, aber beim literaturhistorischen Urtext für Itos bizarres Kabinett der Körperdeformationen ist Demut vielleicht die beste Währung. Wir wissen ja längst, wozu er in der Lage ist.

Junji Ito: Frankenstein. Storys zwischen Wahn & Wirklichkeit • Carlsen Manga, Hamburg 2023 • 418 Seiten • Hardcover • € 24,00

 

James Tynion IV, Werther Dell’edera: Something is Killing the Children – Teil 5

Manchmal haben schlechte Nachrichten auch ihr Gutes. Der Meldung, dass „1899“, die Netflix-Nachfolgeserie der „Dark“-Showrunner Jantje Friese und Baran bo Odar, nicht fortgesetzt wird, folgte schon bald eine für Comic-Leser*innen erheblich erfreulichere Notiz: Statt Frust zu schieben, bereiten beide nun die nächste Netflix-Produktion vor (und dies, wie man liest, sehr gut dotiert): die TV-Verfilmung des Horrorcomics „Something is Killing the Children“. Süßer die Glocken nie klingen, denn James Tynion IV zeigt sich darin als rüder Zampano der Teenage Angst, wirft Kinder und Jugendliche in einer Kleinstadt Monstern, die von Erwachsenen nicht gesehen werden können, in grafisch ziemlich kompromissloser Weise zum Fraß vor. Den Weg musste „Stranger Things“ erst über mehrere Staffeln zurücklegen. Derweil kann man sich in die Comicserie einlesen, die bei Splitter mittlerweile den fünften Sammelband erreicht hat, in dem ein neuer Zyklus eingeleitet wird.

James Tynion IV, Werther Dell’edera: Something is Killing the Children – Teil 5 • Splitter Verlag, Bielefeld 2023 • 144 Seiten • Hardcover • € 22,00

 

Abb. ganz oben aus Léa Murawiecs „Die große Leere“, Edition Moderne.

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