7. Mai 2024

„Filibus. The Mysterious Air Pirate“

Ein Stummfilm von 1915 mit progressiven Ideen

Lesezeit: 4 min.

Das Leben als Meisterdiebin könnte so schön sein, wäre niemand hinter einem her. Als Baronin Troixmond (Valeria Creti) erfährt, dass auf ihr alter Ego „Filibus“ eine hohe Belohnung ausgesetzt ist, dreht sie einfach den Spieß um. Sie bietet an, bei der Ergreifung des ‒ von aller Welt für einen Mann gehaltenen ‒ Bösewichts zu helfen. Und so findet sie sich bald in einem Duell mit Detektiv Kutt-Hendy (Giovanni Spano) wieder, dem sie versucht ihre Diebstähle anzuhängen. Dafür ist ihr jedes Mittel recht.

Nicht nur Kinofans wissen, dass Science-Fiction und Film wie für einander gemacht sind. Seit die ersten Bilder über die Leinwand geflimmert sind, haben sich Regisseur:innen immer wieder fantastischer Stoffe über die Zukunft angenommen und auf Zelluloid gebannt. Damals wie heute verzaubern Filmschaffende ihr Publikum mit den Möglichkeiten, die ihnen das Medium zu ihrer jeweiligen Zeit bietet. George Méliès’ „Die Reise zum Mond“ (1902) ist hierfür ein Paradebeispiel. Er widmete sich der ‒ auch durch Science-Fiction-Romanen genährten ‒ Faszination für unseren Erdtrabanten und erfand ganz nebenbei die Stop-Motion-Technik.

Über ein Jahrzehnt später erzählt der Italiener Mario Roncoroni eine Geschichte, die die Zeitgenossen nur bedingt überzeugen konnte, aus heutiger Sicht dafür umso bemerkenswerter ist. Als „Filibus“ im März 1915 in Rom Premiere feierte, bemängelten Kritiker:innen die Ähnlichkeit zwischen der namensgebenden Titelheldin und anderen Filmverbrechern wie Louis Feuillades „Fantômas“, der von 1913 bis 1914 in den Lichtspielhäusern auf Raubzug ging. Auch die von Roncoroni eingesetzten Spezialeffekte sorgten bei einigen Zuschauer:innen eher für Gelächter als Bewunderung. Dass andere wiederum den Plot für hanebüchen hielten, mag genauso wie Italiens Kriegseintritt gegen Österreich-Ungarn zwei Monate später mit dazu beigetragen haben, dass die Meisterdiebin über 80 Jahre hinweg fast in Vergessenheit geriet.

Aus heutiger Sicht lassen sich manche Kritiken nur schlecht widerlegen. Ja, die Technik kommt kaum an die Filmkunst eines George Méliès heran. Ja, der Plot glänzt nicht gerade mit vielen Überraschungen. Ja, Figuren wie Fantômas oder Arsène Lupin prägen bis heute unser Bild eines Meisterdiebs, so wie Sherlock Holmes der Inbegriff des Meisterdetektivs ist. Doch „Filibus“ ist weitaus mehr, überrascht mit vielen kleinen Details und einer ungewöhnlichen Heldin, die Männer nur als Handlanger an ihrer Seite duldet.


Die drei Gesichter von „Filibus“

Zunächst zum Offensichtlichsten: Im Film kommen jede Menge technischer Spielereien zum Einsatz, die Science-Fiction-Fans durchaus ins Staunen versetzen können. Baronin Troixmond agiert nicht von einer Villa aus, sondern nutzt als geheime Basis für ihre Verbrechen einen kleinen Zeppelin. Von dem kaum zu hörenden Luftschiff aus seilt sie sich zu den Tatorten lautlos ab, um später auf dem gleichen Weg ebenso sang- und klanglos wieder zu verschwinden. Potenzielle Störenfriede werden mit Schlafgas ins Land der Träume geschickt, falsche Fährten mit ebensolchen Fingerabdrücken gelegt und Fotos mit einer winzigen Kamera geschossen, die genauso gut aus einem viele Jahre später gedrehten James-Bond-Film stammen könnte.

Diese Vielzahl an fantastischen Gadgets dürfte auch auf das Konto des zweiten Kreativen hinter der Kamera gehen, dem Drehbuchautor Giovanni Bertinetti. Er schrieb seinerzeit nicht nur Science-Fiction-Romane, sondern bewegte sich auch in den futuristischen Kreisen Turins. Jene wiederum könnten die Hauptfigur geprägt haben ‒ und sie dadurch zu einer auch für damalige Verhältnisse äußerst progressiven Antiheldin gemacht haben. Valeria Creti schlüpft dabei in „Filibus“ in gleich drei Rollen, die die Grenzen des damaligen Frauenbilds ausloten.

Als Baronin kleidet sie sich den Gepflogenheiten entsprechend in langen, wallenden Kleidern und mit Federn geschmücktem Hut. Sobald sie als Meisterdiebin ihre Opfer bestiehlt, ist sie unter ihrer Maske, der Newsboy Cap und der eher praktischen Beinbekleidung keinem Geschlecht mehr zuzuordnen. In der Gestalt des Count de la Brive mit kleinem Schnäuzer und in feinem Zwirn macht sie Kutt-Hendys Schwester Leonora (Cristina Ruspoli) den Hof ‒ was frau eben so macht, wenn frau die Ermittler an der Nase herum führen möchte. Für viele Filmhistoriker:innen gilt die cross-dressende Filibus daher als eine der ersten lesbischen Heldinnen des Kinos.

Diese Genderfluidität der Titelheldin ist umso erstaunlicher, beachtet man die damalige Zeit. Während auf futuristischen Partys Frauen in Männerbekleidung fast schon normal waren, waren im Alltag ‒ nicht nur ‒ Italienerinnen in vielen Dingen rechtlich benachteiligt. Wählen durften sie erst ab 1946, sich scheiden lassen ging erst ab 1970. Nicht nur vor diesem Hintergrund ist „Filibus. The Mysterious Air Pirate“ ein interessantes Stück Filmgeschichte, das bislang vor allem auf Stummfilm-Festivals zu sehen war. Von der restaurierten Fassung aus dem Jahr 2018 kann sich nun jede:r in der arte-Mediathek selbst ein Bild machen ‒ mit passender, orchestraler Musik, englischsprachigen Texttafeln und deutschen Untertiteln. Kein Film, um sich berieseln zu lassen, aber einer, um in die Historie einzutauchen ‒ und sich zu fragen, wie die Filmwelt wohl heute aussehen würde, hätte Filibus mehr Einfluss auf Kinoheldinnen gehabt.

Filibus. The Mysterious Air Pirate • Italien, 1915 • Regie: Mario Roncoroni • Darsteller: Valeria Creti, Cristina Ruspoli, Giovanni Spano, Mario Mariani • Noch bis zum 27. Juli 2024 in der arte-Mediathek

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