23. August 2025

Superhelden und Berufsverbrecher (Teil 1)

Criminal bis Winter Soldier: Das kriminell gute Comic-Schaffen von Ed Brubaker

Lesezeit: 12 min.

Zum Einstieg eine Warnung. Comic-Star Ed Brubaker ist einer meiner Lieblingsautoren, wird von mir in einem Atemzug mit Don Winslow und Dennis Lehane genannt – Brubakers Textkästen und Dialoge klingen genauso literarisch wie die der größten lebenden Krimi-Romanciers. Dieser Text über ihn und sein Schaffen – diese Werkschau – wird also sicher nicht ohne Superlative oder Schwärmerei auskommen. Verdient ist das allemal, dennoch soll diese kurze Warnung vorangestellt werden. Ebenso diese Offenlegung: Als Redakteur für Panini habe ich über die Jahre schon Brubaker-Comics wie „Catwoman“, „Gotham Central“ oder „Iron Fist“ mit Vorworten etc. versehen. Im ersten Teil dieses Features geht es um seine Arbeiten für die Superheldenverlage. Im zweiten um seine unabhängigen Werke.

 

Ed Brubaker wurde 1966 in Bethesda, Maryland in den USA geboren, verbrachte seine Kindheit als Sohn eines Navy-Geheimdienstoffiziers aber u. a. auf dem berühmten Militärstützpunkt Guantanamo Bay im Südosten Kubas. Seinen Einstieg in die Comic-Szene fand Brubaker Ende der 1980er, Anfang der 1990er im Independent-Bereich, meistens als Autor, hin und wieder damals aber sogar noch als Autor und Zeichner in einem. Heute kennt man ihn in erster Linie für eine lange „Captain America“-Saga um das Debüt von Winter Soldier, für „Daredevil“, „Batman“, „Catwoman“ und „Sleeper“, und natürlich für seine vielen Zusammenarbeiten mit Zeichner Sean Phillips – allen voran das Krimi-Epos „Criminal“, das als Streaming-Serien-Adaption auf Prime Video im Anflug ist. Davor hat Brubaker bereits an TV-Serien wie „Westworld“, „Too Old Too Die Young“, „Angel of Death“ und „Batman: Caped Crusader“ mitgewirkt.

 

Von Kuba ins Sandman-Universum

Viele von Ed Brubakers frühen Comic-Geschichten wurden Anfang der 1990er in der Anthologie-Heftreihe „Dark Horse Presents“ veröffentlicht, parallel zu „Hellboy“ und „Sin City“. Im schwarz-weißen Krimi-Serial „An Accidental Death“ hat Brubaker 1992 mit Zeichner Eric Shanower („Age of Bronze“) z. B. seine Kindheit auf Guantanamo Bay in einem düsteren Coming-of-Age-Krimi um zwei Jungs und ein totes Mädchen kanalisiert. Man konnte schon hier erste „Criminal“-Vibes spüren. Genauso 1995 in der Detektivgeschichte „Here and Now“ mit Künstler Stefano Gaudiano („Daredevil“). Für „Dark Horse Presents“ entstand aber auch eine Godzilla-Story mit Dave Cooper („Weasel“), und mit Zeichner Jason Lutes (später Schöpfer der „Berlin“-Trilogie) setzte Bru den etwas überkonstruierten aber unterhaltsamen Noir-Thriller „Herbstfall“ um.

Anfang der 1990er hat Brubaker zudem seinen Schwarzweiß-Comic „Lowlife“ geschrieben und gezeichnet, der semiautobiografisch seine kleinkriminelle, dröhnende Slacker-Generation zum Thema hat, wobei der Amerikaner zeichnerisch in der Ecke von Chester Brown und Harvey Pekar stand. Die Welt hat mit Ed Brubaker, der danach primär aufs Schreiben setzte, allerdings nicht einen ihren besten Zeichner an die Tastatur verloren.

1995 entstand Brubakers erste Arbeit für DC, genauer gesagt das Vertigo-Label, unter dem damals „Preacher“, „Sandman“, „Hellblazer“ und andere wichtige Comics erschienen. Für einen One-Shot nahmen sich Autor Brubaker und erneut Eric Shanower als Zeichner Prez vor, den in den 1970ern von Captain America-Miterfinder Joe Simon erschaffenen Teenager-Präsidenten der USA. Brubaker und Shanower spannen die obskure Legende allerdings in einem coolen Roadmovie über Prez’ angeblichen Sohn und seine Freunde auf der Suche nach dem alt gewordenen Teen-US-Präsidenten aus einer anderen Ära fort.

Brubaker biss sich bei DC fest: 1999 erschien bei Vertigo der genre-typische Hardboiled-Comic-Krimi „Scene of the Crime“, an dem Brubaker, Zeichner Michael Lark („Lazarus“) und Tuscher Sean Phillips („Marvel Zombies“) erstmals zusammenarbeiteten – bis heute sehr ordentliche Detektivkrimi-Kost von Kreativen, die der Comic-Szene noch viel Freude bereiten sollten. Außerdem verfasste Brubaker um den Jahrtausendwechsel seine eigene, von u. a. Warren Pleece („2000 AD“) illustrierte Vertigo-Serie „Deadenders“ über Vespa-fahrende Kids in der postapokalyptischen Stadt, die aber kein Glanzlicht im Portfolio darstellt. Interessanter war da 2001 schon ein längerer Fall im „Sandman“-Spin-off „Dead Boy Detectives“, das auch noch die britische Comic- und Steampunk-Legende Bryan Talbot („Grandville“) visualisierte.

 

Frischer Wind in Gotham City

Vom Vertigo-Label ging es für Brubaker DC-intern weiter nach Gotham City, da er 2000 die „Batman“-Heftserie als Autor übernahm. Kurze Standortbestimmung: Nach dem Mega-Crossover „Niemandsland“ über ein Erdbeben-erschüttertes, apokalyptisch anmutendes Gotham, begann die Ära New Gotham. Ed Brubaker und Autorenkollege Greg Rucka führten eine neue Riege Kreativer an, die Chuck Dixon, Alan Grant, Norm Breyfogle und andere Veteranen als Macher der Bat-Comics ablösten. Zwischen 2001 und 2003 schrieb Brubaker nach „Batman“ dann auch noch die Bat-Traditionsserie „Detective Comics“, in der 1939 die Legende des Dunklen Ritters begonnen hatte. 2001 wirkte er an der Anthologie-Miniserie „Batman: Turning Points“ über Jim Gordon mit und verbeugte sich mit inhaltlichen Bezügen vor Alan Moores und Brian Bollands Klassiker „Batman: The Killing Joke“.

Brubakers Batman war grundsolide und profitierte schon damals von der Krimi-Affinität des US-Autors: seinem Händchen für Cops und Gangster, seiner Vorliebe für stimmungsvolle Kastentexte als Erzähler oder Ich-Erzähler. Nur die Auswahl der Gegner war nicht ganz so glücklich, und der langjährige „Nightwing“-Zeichner Scott McDaniel sah stilistisch schon sehr cartoonig, bei allem frischen Wind sehr nach 90er aus. Beachtenswert ist sicher noch das von Brubaker angeführte Crossover über Bruce Wayne als Mordverdächtigen, wobei er u. a. die US-Jubelnummer „Batman“ 600 schrieb. Im Prestige-One-Shot „Batman: The Man Who Laughs“ hat er mit Zeichner Doug Mahnke noch den ersten Auftritt des Jokers, über die Dekaden hinweg an Millers und Mazzucchellis „Batman: Das erste Jahr“ geschweißt, neu inszeniert. Alles in allem nicht der beste Batman-Run aller Zeiten, aber Brubaker und der Mitternachtsdetektiv haben schon gut zusammengepasst.

 

Catwomans großer Coup

Noch besser passte Bru aber zu Catwoman. Ab 2002 schrieb er Selina Kyles neu gestarteten Soloserie und zementierte sie als diebische Antiheldin der Bat-Familie. Gezeichnet wurde die Serie anfangs von Comic-Maestro Darwyn Cooke („The New Frontier“), der auch das coole, realistische Redesign von Catwoman verantwortete. Parallel inszenierte Cooke schreibend und zeichnend noch die Graphic Novel: „Selina’s Big Score“ als Prequel, die klar durch die „Parker“-Krimis von Donald Westlake alias Richard Stark inspiriert war. Dadurch, dass Cooke und Brubaker beide große Fans der Bücher von Westlake/Stark waren, klickten sie an „Catwoman“ entsprechend. (Jahre später sollten Ed Brubaker und Sean Phillips in vielfacher Weise am zweiten, 2022 posthum erschienenen Sammelband der „Martini Edition“ von Cookes genialen „Parker“-Comic-Adaptionen mitwirken und u. a. eine eigene Parker-Kurzgeschichte beisteuern.)

Brubaker, Cooke und Co. gelangen in „Catwoman“ superbe Krimi-Geschichten über Selina, der sie noch den abgebrühten Detektiv Slam Bradley, die Ärztin Leslie Thompkins und Ex-Junkie Holly an die Seite stellten. Catwoman wurde zum Rache- und Schutzengel von Gothams East End und dessen Entrechteten. Die Serie blieb auch nach Cookes frühem Abgang lange stark, für ihn übernahmen Zeichner wie Brian Rader („Batman Adventures“) oder Cameron Stewart („Batgirl“) – für einen wunderbar augenzwinkernden Meta-Zweiseiter über Hollys Rückkehr von den Toten fanden sogar erneut Bru und Eric Shanower zusammen. Nur am Schluss ging der Katze unter Bru die Luft aus. Davon abgesehen ist Brubakers „Catwoman“ bis heute ausgesprochen lesenswert.

 

Die Cops in Batmans Stadt

Bereits 2001 hatten Brubaker und Phillips „Batman: Gotham Noir“ realisiert: Ein Elseworlds-Heft mit einem hollywoodmäßigen Krimi-Alternativwelt-Remix des Bat-Mythos, der Ex-Cop Jim Gordon als herrlich abgehalfterten Privatdetektiv praktisch in ein Raymond-Chandler-Szenario warf. Die 64 Seiten präsentierten Brubaker und Phillips vor ihren großen Hits „Sleeper“ und „Criminal“ erstmals als gut funktionierendes Autor/Zeichner-Gespann an einem mustergültigen Noir- bzw. sogar Hardboiled-Krimi. Man könnte also reinen Gewissens sagen: zukunftsweisend. 2002 half Phillips als Gastzeichner noch an einem „Batman“-Heft des US-Autors mit Catwoman aus.

In die DC-Periode von Ed Brubakers Schaffen fällt natürlich auch die Top-Serie „Gotham Central“, die er mit Co-Autor Greg Rucka („The Old Guard“, „Whiteout“) und Zeichnern wie Michael Lark, Stefano Gaudiano und Steve Lieber („The Superior Foes of Spider-Man“) schuf. „Gotham Central“ ist ein bockstarkes Krimi-Serial über die Cops in der Welt von Batman – als realistisches Police Procedural so gut wie Ed McBains Romanserie über das 87. Revier, das Fernsehjuwel „NYPD Blue“ und dergleichen. Die Storylines von Brubaker und Rucka boten und bieten perfekte Polizeikrimis um Renee Montoya und andere Gothamer Cops: Ihre Kämpfe auf dem Revier, in den Straßen, in ihrem Privatleben, mit Gangstern, mit sich selbst, miteinander, aber auch mit dem Joker, Mr. Freeze, Two-Face, und mit dem langen Schatten von Batman. Müsste man die beste DC-Serie der 2000er benennen, wäre „Gotham Central“ eine gute Wahl.

2003 schuf Ed Brubaker mit Zeichner Ryan Sook („Arkham Asylum: Living Hell“) noch eine „Batman: Black & White“-Kurzgeschichte für US-Heft 14 der Reihe „Gotham Knights“. Deshalb erwähnenswert, weil Brubaker eine für ihn typische Krimi-Story über einen Ex-Kriminellen schrieb: Einen Hausmeister, der früher ein Bankräuber mit einer nichtgeladenen Waffe gewesen ist, seinen Fehler noch während des Überfalls bereut hat und von Batman laufen gelassen wurde – unter der Auflage, sich nichts mehr zuschulden kommen zu lassen, was der Dunkle Ritter kontrollieren würde. Der Ich-Erzähler sagt, dass das wohl nur eine Drohung war, doch er erinnert sich immer daran und bleibt umso mehr auf Kurs. Am Ende wird gezeigt, dass Batman eine Liste mit Leuten wie dem Hausmeister hat und ungesehen Stippvisiten macht.

 

Sleeper: Undercover bei Superschurken

In den Jahren 2003/2004 gab es wieder eine ganz wichtige Wegmarke für Ed Brubaker und Sean Phillips als kreatives Duo: Die Serie „Sleeper“, die bei DCs WildStorm-Label veröffentlicht wurde, also nicht im Universum von Batman und Co., sondern im Kosmos der Teams WildCats und Authority (damals waren die beiden Universen noch voneinander getrennt). „Sleeper“ hatte 24 US-Hefte, allesamt von Phillips gezeichnet, dazu kam eine Prolog-Miniserie mit Artwork des Neuseeländers Colin Wilson, den Comic-Fans für „Die Jugend von Blueberry“ und „Wonderball“ kennen. „Sleeper“ war und ist eine grandiose Superhelden-Spionage-Geschichte über einen Agenten mit schmerzbasierten Energie-Superkräften, der bei den Schurken deep undercover geht – und dabei nicht nur im System der Guten verloren.

„Sleeper“ hat teils einen ziemlichen „The Boys“-Vibe (startete aber zwei Jahre vor der Comic-Serie von Ennis und Robertson, um diese Referenz richtig einzuordnen), wenngleich ein paar Sachen nach über 20 Jahren politisch sicher nicht mehr korrekt sind. Davon ungeachtet, begeistert „Sleeper“ in allen Epochen mit toller Super-Spionage-Action im WildStorm-Kosmos, den Jim Lee in den 90ern bei Image begründet hatte – kennen muss man davon aber nichts, „Sleeper“ ist komplett eigenständig lesbar und rockt alles weg. Auch, weil zu spüren ist, dass Brubaker und Phillips als Kreativteam ein perfect match sind, Brubakers düstere Krimis und Phillips kantige Zeichnungen perfekt zusammen passen. Bei der Gelegenheit noch ein paar Worte zu Sean Phillips: Im Verlauf seiner Karriere hat der englische Künstler Titel wie „Hellblazer“ von Paul Jenkins, „Kid Eternity“ von Ann Nocenti, „WildCats“ von Joe Casey, „Marvel Zombies“ von Robert Kirkman und „Marvel MAX: Kingpin“ von Bruce Jones gezeichnet.

2004 steuerte Brubaker ohne Phillips überdies zwei Hefte zur „Tom Strong“-Serie über den Pulp-SF-Abenteurer bei, den Alan „Watchmen“ Moore für sein America’s Best Comics-Imprint bei WildStorm erfunden hat, und den James Gunn gerade als Inspiration für das neue Film-DCU anführte. Im selben Jahr schrieb Bru auch eine Strecke um das eben genannte Superhero-Team Authority von WildStorm, „Authority: Revolution“, gezeichnet von Dustin Ngyuen („Descender“). Das noch der Vollständigkeit halber, obwohl es alles deutlich im Schatten von „Sleeper“ passierte.

 

Cap und Winter Solider: Tabubruch bei Marvel

2005 heuerte Brubaker als Marvel-Autor an. Sein erster Job im Haus der Ideen? Der Neustart der „Captain America“-Serie über Supersoldat Steve Rogers – in der Brubaker direkt eines der großen, bis dahin unantastbaren Marvel-Tabus brach, neben dem Tod von Spider-Man Peter Parkers Onkel Ben. Als Zeichner unterstützten ihn Steve Epting („Avengers“), Mike Perkins („Swamp Thing“), Butch Guice („Superman: Action Comics“), einmal mehr Michael Lark und andere. Brubaker nutzte seine überragend unterhaltsame Saga, um „Captain America“ wieder zur düsteren, coolen Top-Serie zwischen Spionage, Kriegscomic und moderner Marvel-Action zu machen – und killte im ersten Heft gleich mal Red Skull, zumindest auf gewisse, erst später geklärte Weise.

Und natürlich führte er schon 2005 Caps alten Sidekick Bucky Barnes, den Stan Lee und Jack Kirby im klassischen Heft „Avengers“ 4 von 1964 per Rückblende zum Kriegsopfer gemacht hatten, als russischen Auftragskiller Winter Soldier mit Gehirnwäsche und Cyborg-Arm neu ein – der kalkulierte Tabubruch. Heute ist Bucky eine der beliebtesten Figuren des Marvel Cinematic Universe, dieses Jahr war er erst wieder im „Thunderbolts“-Film zu sehen – seinen Anfang nahm die Legende des Winter Soldier in Ed Brubakers Cap-Comics, weshalb der Autor im Film „The Return of the First Avenger“ einen Cameo-Auftritt als Wissenschaftler hinlegte.

Im Mega-Crossover „Civil War“ über den Marvel-Superhelden-Bürgerkrieg brachte Brubaker dann sogar Steve Rogers um, woraufhin der längst geläuterte und wieder zu den Helden gekommene Bucky für einige Zeit zum neuen Captain America wurde, eigenes Kostüm inklusive. Steve Rogers kehrte später in einer Story von Brubaker, Bryan Hitch („Authority“) und anderen aus dem Zeitstrom zurück, ließ Bucky aber seinen Heldennamen und führte als gealterter Top-Cop erst einmal die Secret Avengers an, deren Serie Brubaker mit Zeichner Mike Deodato Jr. („Spider-Man“) initiierte.

Keine Frage: Ed Brubakers „Captain America“ gehört zu den besten Cap-Sagas. 2006 erhielt Bru für „Captain America“ einen Harvey Award, 2007 seinen ersten von sieben Eisner Awards; 2010 gab es für seinen Cap-Run unterdessen noch einen Eisner für das beste Einzelheft, das der US-Autor mit Comic-Legende Gene Colan („Die Gruft von Dracula“) verwirklicht hat. Er sollte bis 2012 Hauptautor von Caps Abenteuern bleiben. In der Superhelden-Moderne ist so eine lange Strecke selten geworden. Auch wenn Brubaker, rückwirkend betrachtet, ein bisschen eher bei Cap hätte aussteigen sollen.

 

Der Teufel in Zellenblock D: Daredevil

Parallel zu „Captain America“ übernahm Mr. Brubaker 2006 die „Daredevil“-Serie, als Zeichner stand ihm mal wieder Michael Lark zur Seite. Wenn es um Daredevil geht, gibt es für den Autor dieser Zeilen drei quintessenzielle Autoren-Strecken: Frank Miller, Brian Michael Bendis – und Ed Brubaker. „Daredevil“ wäre Ende der 1990er fast in der Versenkung verschwunden, Kevin Smith, Joe Quesada und Jimmy Palmiotti holten ihn unter dem Marvel Knights-Banner ins Rampenlicht zurück, nach ihnen steuerte David „Kabuki“ Mack das Leben von Matt Murdock, und ab 2001 war Autor Brian Michael Bendis am Drücker und begeisterte mit Zeichner Alex Maleev. Ihre lange Saga war sicherlich die unverzichtbare Vorarbeit für Brubaker und Lark – doch diese beiden toppten die süchtig machenden Storys von Bendis und Maleev dann sogar nochmals.

Storys wie Der Teufel in Zellenblock D oder Mr. Fear boten und bieten eine sensationell gute Demontage, eine wahre Dekonstruktion von Daredevil und Murdock: wahnsinnig intensiv, wahnsinnig spannend – „Daredevil“ war noch mehr als „Captain America“ unter Brubaker ein Pageturner, und wenn „Gotham Central“ von Brubaker und Co. die beste DC-Serie in der ersten Hälfte der 2000er gewesen ist, dann war „Daredevil“ die beste Marvel-Serie in der zweiten Hälfte jenes Jahrzehnts. Die Macher der ehemaligen Netflix-Adaption über den Teufel von Hell’s Kitchen haben nicht umsonst ganz genau hingesehen.

 

Großes Comic Kung Fu: Iron Fist

2007 startete Ed Brubaker mit Co-Autor Matt Fraction („Thor“) und einem Zeichner-Team um David Aja („Hawkeye) noch die Serie „The Immortal Iron Fist“, in der sie Marvels Kung-Fu-Helden Danny Rand aka Iron Fist neues Leben einhauchten. Das gelang den Machern quasi aus dem Stand heraus. „The Immortal Iron Fist“ war ein großes, da clever gemachtes Marvel-Comic-Vergnügen: Brubaker, Fraction, Aja und Co. nahmen die lange Mythologie des früheren Hero for Hire mit der Flammenfaust, bereiteten sie einsteigerfreundlich neu auf und machten daraus mit pulpigem Vergnügen etwas ganz Großes, das ohne Vorwissen genossen werden konnte und kann.

Brubaker hat für Marvel Ende der 2000er noch andere Sachen verfasst: Die starke Miniserie „The Marvels Project“ über die Ursprünge des Marvel-Universums im Zweiten Weltkrieg, „Books of Doom“ über das Leben von Dr. Doom, Storys zu Crossover-Events wie „Avengers vs. X-Men“ oder „Fear Itself“ – und er hat sogar ein, zwei Jahre lang den Mutanten-Flaggschiff-Titel „Uncanny X-Men: X-Men“ getextet, flankiert von der Miniserie „X-Men: Deadly Genesis“. Das war alles grundsolide, aber mit nicht so viel Brubaker-Magie versehen wie seine anderen Comics. Gerade bei seinen X-Men hatte man das Gefühl, Brubaker wollte schlichtweg auch mal die X-Men schreiben, diese Kerbe im Holster.

Seine kurioseste Marvel-Arbeit aus dieser Ära war indessen sicher das von Andrea Di Vito („Annihilation“) illustrierte Heft „What If Aunt May Had Died Instead of Uncle Ben?“, das den Spidey-Mythos auf den Kopf stellte und einen lebendigen, auf andere Weise vom Schicksal geschlagenen Ben zum Leitstern für den jungen Peter Parker machte. Womit Brubaker nach der Rückkehr von Bucky ein weiteres Marvel-Tabu gebrochen hat, wenn auch in einer „Was wäre, wenn…?“-Alternativwelt-Geschichte mit traditionell-konzeptionell gedehntem Regelwerk.

Fortsetzung folgt im zweiten Teil, mit „Criminal“, „Fatale“, „Pulp“ und vielem mehr.

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Christian Endres berichtet seit 2014 als Teil des Teams von diezukunft.de über Science-Fiction. Er schreibt sie aber auch selbst – im Mai 2024 ist bei Heyne sein SF-Roman „Wolfszone“ erschienen.

 

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