4. Mai 2015 6 Likes

„Erinnerung gibt dem Leben Bedeutung“

Ein Gespräch mit „Tomorrow & Tomorrow“-Autor Thomas Sweterlitsch

Lesezeit: 7 min.

Thomas Sweterlitsch machte an der Carnegie Mellon University seinen Master in Literaturwissenschaft und Kulturtheorie. Danach arbeitete er zwölf Jahre lang in der Carnegie Library For the Blind and the Physically Handicapped, einer Bibliothek für Menschen mit Sehbehinderung und körperlicher Behinderung. Sweterlitsch lebt mit Frau und Tochter in Pittsburgh, Pennsylvania und twittert unter @LetterSwitch. Der Cyberpunk-Hardboiled-Thriller „Tomorrow & Tomorrow“ (im Shop), Auftakt der diezukunft.de-Edition, ist sein erster Roman. Im Interview spricht er über seine Einflüsse, die Digitalisierung unserer Welt und vieles mehr.

Hallo Tom. Wie wurdest du zum Science-Fiction-Autor?

Während meiner Zeit am College schieb ich Gedichte. In meinen frühen Zwanzigern erstellte ich Bild-Text-Collagen, die heftig vom Surrealismus beeinflusst waren, von Max Ernst und der willkürlichen Ästhetik von Autoren wie Jackson Mac Low und John Cage. Doch ich hegte auch immer eine große Zuneigung für Horror-Geschichten – Stephen King, Poe, Shirley Jackson und zahllose billige, schäbige Taschenbücher. Der Versuch, mir einen Weg durch diese verschiedenen Interessen zu bahnen, hat mich frustriert, bis ich das Kurzgeschichten-Werk von Philip K. Dick entdeckte, und Romane wie „Die ersten ihrer Art“ von Theodore Sturgeon und „Tiger! Tiger!“ von Bester. Diese Art Science-Fiction schien die mutige Stilistik der Dichtkunst mit dem extremen Humanismus des Horror-Genres zu kombinieren. Science-Fiction ist also eine Kombination meiner größten Einflüsse.

Und du bist vermutlich auch ein Fan von Krimis, oder?

Ja, definitiv. Chandler, Jim Thompson, James Ellroy. In letzter Zeit habe ich Jo Nesbø und Benjamin Black gelesen. Und ich bin ein glühender Bewunderer von Simenons roman durs.

Warum wurde dein Roman-Debüt ein Hybrid aus Science-Fiction und Hardboiled-Krimi?

Science-Fiction hat für sich genommen keinen Plot – so gut wie jede Science-Fiction-Geschichte leiht sich Handlungs-Elemente aus anderen etablierten Genes. Geschichten über Imperien oder Verbrechen. Krimis mit Mordfällen im Mittelpunkt sind meine bevorzuge „Engine“ für eine Science-Fiction-Story. Anders ausgedrückt, denke ich von Science-Fiction manchmal als Sprache, doch der Krimi gibt mir etwas zu sagen.

Chandler, Gibson – sind die Autoren, die dich beeinflusst haben, dieselben, die dich inspirieren?

Chandler und Gibson sind für mein Schaffen beide essentiell. Die Frage nach der Unterscheidung von Einfluss und Inspiration ist sehr interessant – ein Autor wie Stewart O’Nan inspiriert mich, und doch liegen wir stilistisch, denke ich, Welten auseinander. Im Augenblick ist J. G. Ballard wohl der Autor, der ganz und gar die Art von Fiction verkörpert, die ich anstrebe.

Kannst du uns ein bisschen was über die Ursprünge von „Tomorrow & Tomorrow“ erzählen?

Meine Frau und ich verbrachten unsere Flitterwochen in Prag. Jahre später fand ich eine Karte, die wir benutzt hatten, um uns in dieser Stadt zurechtzufinden. Als ich die Straßen nachverfolgte und unsere Fotografien betrachtete, begann ich mich zu fragen, ob ich Prag jemals wiedersehen würde, und das brachte mich dazu, über eine Figur nachzudenken, die eine Stadt lediglich mithilfe einer interaktiven Karte besuchen könnte. Ich schrieb eine Kurzgeschichte mit dem Titel „The City Lies Within“, über einen Charakter, der in Prag lebt und den Geist seines zerstörten Heimatlands nur über eine interaktive digitale Karte bereisen konnte, die „Archiv“ hieß. Diese Kurzgeschichte war die Saat für „Tomorrow & Tomorrow“.

Bist du erstaunt, schockiert oder gar erschrocken darüber, wie stark unser Alltag vernetzt ist und wie schnell die Digitalisierung voranschreitet?

Erstaunt, schockiert, erschrocken – ja, all diese drei Emotionen treffen zu. Gleichzeitig glaube ich jedoch, dass das wahrscheinlich die Empfindungen der meisten Menschen sind, die das mittlere Lebensalter erreichen, völlig unabhängig von der Epoche. Dennoch gibt es zwei Aspekte unserer digitalisierten Kultur, die mir Sorgen bereiten: Erstens: Die Fragilität unserer digitalen Infrastruktur (egal ob aufgrund von Hackern oder des Verlusts von Informationen etc.). Und Zweitens: Wie leicht wir unsere Erwartungen bezüglich Privatsphäre verwirkt und abgetreten haben an Firmen, die uns mit Informations-Dienstleistungen versorgen. 

Ist Cyberpunk mit seinem Schwerpunkt auf dem Zusammenspiel von Menschlichkeit und Technologie der beste Weg, um zu beschreiben, welche Richtung unsere Welt in naher Zukunft nehmen wird?

„Neuromancer“ war so vorausschauend darin, die Gesichtspunkte unserer digitalen Welt zu beschreiben, und durchdrang mit seinem Einfluss die gesamte Kultur – und obwohl „Neuromancer“ jetzt 30 Jahre alt ist, arbeitet jeder Science-Fiction-Autor noch immer in seinem Schatten. Unsere Schwierigkeit mit Cyberpunk heute ist, dass speziell Gibson brillant ist und seine Arbeit frisch und relevant, jedoch vieles andere, das als Cyberpunk gesehen wird, komplett in den 1980er-Jahren feststeckt. In gewisser Hinsicht denke ich, dass die „Außenseiter“-Wirkung von Cyberpunk – der „Punk“-Part – zu Mainstream gemacht wurde, was nach Aktualisierungen verlangt für die Art und Weise, wie Autoren an Cyberpunk herangehen. Alfonso Cuaron beschreibt seinen Film „Children of Men“ als einen „Anti-Blade Runner“, denn während die Referenzen in „Blade Runner“ im Futurismus verwurzelt sind, liegen die Wurzeln von „Children of Men“ in unserer derzeitigen Welt. Diese beiden Filme sind ein hervorragendes Beispiel dafür, wie Cyberpunk upgedated werden kann, um unsere aktuelle Welt zu reflektieren.

Drogen sind ein Thema in deinem Roman. Denkst du, die Menschen werden bei voranschreitender Verschmelzung von Realem und Digitalem so abstumpfen, dass es wegen der Reizüberflutung kaum noch natürliche Impulse gibt?

Nicht zwangsläufig, nein – Drogen sind schon länger Teil der Gesellschaft als unsere boomende hyper-digitale Kultur, und sie werden auch über diese Ära hinaus da sein, und sei es aus keinen anderen Gründen als der Entspannung oder der Therapie. Ich im Roman schreibe darüber, dass Süchte eine falsche Antwort auf Verlangen und Sehnsucht sind, und ich glaube, unsere über-digitale Welt erhöht und erschafft Verlangen und Sehnsucht. Drogen sind lediglich eine Form der „Abhängigkeit“ in „Tomorrow & Tomorrow“ – dazu kommen Trauer, Selbsthilfe, Erholung, Junk Food, Pornografie, Alkohol, Entertainment, etc.

Du hast in einer Bibliothek für körperlich behinderte Menschen gearbeitet – nutzen wir digitalen und technologischen Fortschritt ausreichend, um das Leben von Menschen mit Behinderung zu verbessern?

Die Arbeit dort war eine Offenbarung dahingehend, wie Menschen im Alltag mit Technologie interagieren können und es auch tun – und hat mich wundersam erscheinenden Technologien ausgesetzt wie kochleären Implantaten oder der extremen Genauigkeit von Gehirn-Computer-Software, die Blinde wieder sehen lässt. Auf der anderen Seite gibt es wohl formulierte Sichtweisen, die sich gegen die Nutzung von Technologie aussprechen – zum Beispiel verweigert sich ein Lager innerhalb der Gemeinschaft der Gehörlosen kochleären Implantaten, um Zeichensprache zu lernen und sich darauf zu verlassen, womit sie die Auffassung durchsetzen wollen, dass Taubheit nicht mit Behinderung gleichgesetzt werden sollte. Viele der Ideen, über die Science-Fiction-Autoren nachdenken, wenn es um die Interaktion von Mensch und Technik geht, nehmen seit Jahrzehnten in der Behinderten-Gemeinschaft ihren Lauf.

Verschwenden wir Fortschritt ganz allgemein zu häufig?

Um Gibson zu zitieren: „Die Zukunft ist bereits hier – sie ist nur nicht besonders gleichmäßig verteilt.“ Fortschritt, der Einsatz von Technologie und der Zugang zu Technologie, werden immer von besonderen Interessen und den Mächtigen behindert oder gefördert. Also ja – ich denke, die Menschheit verschwendet Fortschritt. Die Reichen werden reicher …

Wünschst du dir manchmal, in einer analogeren, nicht so „zugänglichen“ Welt zu leben?

Nun, meine Welt ist ziemlich analog, so, wie sie ist! Ich persönlich passe mich Technologie äußerst spät an – ich habe jetzt etwa erst seit einem Jahr ein Handy, und ich benutze es nicht mal allzu häufig! Trotzdem bin ich im Allgemeinen begeistert von der Idee technologischen Fortschritts – ich würde es toll finden, per Zeitreise vierhundert Jahre in die Zukunft zu springen und zu sehen, was für Dinge auf uns warten. Ungeachtet unseres Interesses in digitale Kultur, machen die Veränderungen, die sie der Gesellschaft gebracht hat, eher einen Unterschied in „Typ“ anstatt in „Gattung“ – ich bin sehr neugierig, was einen Unterschied in Gattung auslösen wird.

Im Roman hat Dominic viel Ärger wegen der Erinnerung an seine Frau im Archiv. Das liegt daran, dass er nicht loslassen kann. Was ist gefährlicher: zu vergessen – oder sich zu erinnern?

Die Fähigkeit zu vergessen ist eine wesentliche Komponente unserer Befähigung, uns glücklich zu fühlen – der Fluss Lethe auf unserem Weg zu Ruhe und Zufriedenheit. Selbst unsere glücklichsten Erinnerungen sind lediglich flüchtige Impressionen.

Und was ist schmerzhafter?

Erinnern kann wesentlich schmerzhafter sein. Andererseits gibt Erinnerung dem Leben Bedeutung – eine meiner schönsten Erinnerungen ist eine Nacht, die ich mit meiner Frau in München verbracht habe; es regnete immer wieder, und spät in der Nacht versteckten wir uns im Hofbräuhaus vor einem Sturm, wo wir eine tolle Zeit hatten, als wir mit den anderen Touristen dort getrunken und gesungen haben.

Kannst du uns schon etwas über dein neues Projekt erzählen?

Mein nächster Roman heißt „Libra“ und ist ein Zeitreise-Krimi, der im südwestlichen Pennsylvania und in West Virginia angesiedelt ist. Die Hauptfigur ist Shannon Moss, ein NCIS-Agent, dessen Job es ist, das Ende der Existenz zu verhindern. Leider habe ich noch keinen Veröffentlichungstermin – das Manuskript ist diesen Juni fällig.

Autorenfoto: Sonja Sweterlitsch

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