4. Mai 2015 3 Likes

Märchen von morgen

Ein Plädoyer für die Science-Fiction als visionäres Abenteuer – Eine Kolumne von Hartmut Kasper

Lesezeit: 4 min.

„Ja, nach Jahrtausenden kommen sie auf den Flügeln des Dampfes durch die Luft über das Weltmeer. Amerikas junge Einwohner besuchen das alte Europa. Sie kommen zu den Denkmälern hier und zu unserer versunkenen Pracht, so wie wir heute nach Südasien wandern, um dessen bröckelnde Herrlichkeiten zu sehen.“

Heute ‒ das ist das Jahr 1852, aus dem diese Geschichte stammt; und Südasien meint die Türkei. Die jungen Amerikaner gehen auf Sightseeing-Tour: „,Nach Europa‘ heißt es bei Amerikas jungem Geschlecht … Das Luftschiff kommt; es ist überfüllt mit Reisenden, denn die Fahrt geht geschwinder als zur See. Der elektromagnetische Draht unter dem Weltmeer hat schon telegraphiert, wie groß die Luftkarawane ist. Schon kommt Europa in Sicht, es sind Irlands Küsten, die sich zeigen, aber die Passagiere schlafen noch; sie wollen erst geweckt werden, wenn sie über England sind. Dort betreten sie Europas Erde in Shakespeares Land, wie es die Söhne des Geistes heißen; das Land der Politik, das Land der Maschinen, wie es andere nennen. Einen ganzen Tag wird hier Aufenthalt genommen, soviel Zeit widmet das eilfertige Geschlecht dem großen England und Schottland. Dann geht die Fahrt durch den Kanaltunnel nach Frankreich.“

In weitem Bogen über Italien, Griechenland, Türkei ‒ „Ärmliche Fischer spannen ihre Netze dort, wo die Sage von den Gärten des Harems in der Zeit der Türken erzählt“ ‒ gelangen die Lufttouristen in ihren Luftdampfern nach Deutschland.

Und betrachten es aus großer Höhe: „Dort unten liegt Deutschland – das einmal vom dichtesten Netz von Eisenbahnen und Kanälen überspannt war, das Land, wo Luther sprach, Goethe sang und Mozart in seiner Zeit der Töne Zepter trug … Einen Tages Aufenthalt für Deutschland“ ‒ das muss genügen! „,In Europa gibt es viel zu sehen‘ sagt der junge Amerikaner. ‚Wir haben es in acht Tagen gesehen, und das läßt sich recht gut schaffen.‘“

Als dieser Text erscheint, versucht sich der junge Franzose Jules Verne gerade an Tragödien und Opernlibretti ‒ und kleineren Erzählungen, in denen See- und Ballonfahrten eine wichtige Rolle spielen. Der Autor dieser Vision, in der Luftdampferkarawanen über den alten, verfallenen Kontinent kreisen wie Geier auf Jahresurlaub, ist Däne; er heißt Hans Christian Andersen. Die kurze Geschichte wird als Märchen ausgewiesen; ihr Titel lautet: „Nach Jahrtausenden“.

Andersen, im Jahr 1805 in Odense als Sohn eines bettelarmen Schusters und einer Frau geboren, die nach dem frühen Tod ihres Mannes zur Alkoholikerin wird, ist damals ein gefeierter europäischer Star: Die Könige von Dänemark, Bayern und Preußen schmücken sich mit ihm; die herausragenden Autoren seiner Zeit beherbergen ihn ‒ wenn es sein muss, wochenlang, wie im Fall Charles Dickens verbürgt (der danach allerdings den Kontakt zu Andersen abbrach). Andersen plaudert mit Alexander von Humboldt und Felix Mendelssohn Bartholdy; er fährt in Deutschland mit Begeisterung „Dampfwagen“ (das heißt: Eisenbahn) und schaut sich im Pariser Bordell für fünf Franc entkleidete Damen an ‒ ohne sich in dieser Sache weiter zu engagieren. Wenn er verliebt ist, dann in junge Herren. Er kommt viel herum; sein erstes eigenes Bett kauft er mit 61 Jahren.

Das dänische Wort für „Märchen“ lautet eventyr ‒ und bedeutet zugleich soviel wie Abenteuer.

Andersen war nicht nur Dichter, sondern ein hoch begabter Scherenschnittkünstler. Wenn er zu Besuch kam (und er kam häufig zu Besuch, schon in Ermangelung eines eigenen Bettes, siehe oben), kam er mit einer Schere – und schnitt. Und verschenkte danach die Scherenschnitte.

Den Umriss der Dinge zu erkennen und anderen sichtbar zu machen, ist zweifellos große Kunst. Keine Frage, dass Andersen diese Gabe besaß.

Mit Blicken in die Zukunft hatte er so seine eigenen Erfahrungen: Als es um die Frage geht, was der Junge lernen soll, votiert die Mutter für das solide Schneider- oder Buchbinderhandwerk; der Sohn dagegen plant, berühmt zu werden. Woraufhin die Mutter Rat sucht bei einer weitsichtigen Frau. Die Frau blickt in Karten und Kaffeesatz und sieht: „,Der wird mehr Glück haben, als er verdient‘, sagte sie voller Groll. ,Das wird ein wilder Vogel, hoch, groß und vornehm wird er in die Welt hinausfliegen ‒ einmal wird man ganz Odense für ihn illuminieren.‘“ Als er nur wenige Jahrzehnte später, am 6. Dezember 1867, zum Ehrenbürger von Odense ernannt wird, steht die Stadt illuminiert.

Manchmal, wenn ich Geschichten lese, in denen alles Wohl – oder wahlweise: alles Wehe – sich dem Ge- oder Missbrauch der Technik verdankt, denke ich, die Science-Fiction brauchte wieder mehr Lektüre aus Karten und Kaffeesatz, mehr Andersen, mehr Rückbesinnung darauf, dass sie ein eventyr zu erzählen hat.

Beispielsweise die umrisshafte Luftdampferreise der abenteuerlustigen Amerikaner ins Europa von morgen.

Hartmut Kasper ist promovierter Germanist, proliferanter Fantast und seines Zeichens profilierter Kolumnist.

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