22. Oktober 2015 2 Likes

„Der Marsianer“ im Reality-Check, Teil 4

Rettungsmanöver extrem – der lange Flug der „Hermes“ vom Mars zur Erde und zurück

Lesezeit: 5 min.

„Bringt ihn zurück“, lautet die Forderung der gesamten Welt an die NASA. Gemeint ist der auf dem Mars gestrandete Astronaut Mark Watney aus Andy Weirs Bestseller Der Marsianer (im Shop), dessen Verfilmung von Ridley Scott derzeit in den Kinos zu sehen ist. Das Zurückbringen ist jedoch alles andere als einfach. Die Stellung der Planeten zueinander, die Geschwindigkeit des Schiffes, die Menge des zur Verfügung stehenden Treibstoffes und nicht zuletzt die Zeit, die Watney bleibt, ehe ihm die Lebensmittel ausgehen, sind Faktoren, die bei der Planung der Rettungsaktion berücksichtigt werden müssen. In Der Marsianer hat ein Mann schließlich die zündende Idee für ein gewagtes Rettungsmanöver – aber würde das bei einer echten Mission zum Mars auch funktionieren?

 

Achtung! Der nachfolgende Text ist ein einziger, gigantischer Spoiler. Ich habe Sie gewarnt!

 

Der Mann der Stunde in Film und Buch ist der Astrodynamiker Rich Purnell. Statt eine weitere Sonde auf den langen Weg zum Mars zu schicken, berechnet er einen neuen Kurs für die Hermes, das Raumschiff der Crew. Er lässt sie mit einem sogenannten Gravity Turn die Erde umrunden, was sie auf eine Rückkehrbahn zum Mars bringt. Die Sonde, die dafür gedacht war, Mark Watney Lebensmittel zukommen zu lassen, wird jetzt zur Versorgung der Männer und Frauen an Bord der Hermes eingesetzt. Wie realistisch ist dieses Manöver? Würde es auch in Wirklichkeit funktionieren?

Timing ist bekanntlich alles. Das trifft in besonderem Maße auch auf Andy Weirs Roman (im Shop) zu, denn für die Story ist es entscheidend, dass die Astronauten über Thanksgiving auf dem Mars sind, sodass Mark Watney seine Kartoffeln zur Verfügung hat. Für Weir bedeutete das vor allem: Rechnen, rechnen, rechnen. Denn um die Ares-3-Mission realitätsnah zu beschreiben, musste er auch Rücksicht auf die Stellung der Planeten zueinander nehmen, um das passende Startfenster bestimmen zu können. Dazu programmierte er eine App, die es ihm erlaubte, mit Flugbahnen und Orbits „herumzuspielen“, erklärte er bei einem Google Talk. Alle weiteren Manöver der Hermes, auch die Rettungsaktion, ergeben sich aus dem Startzeitpunkt sowie aus dem Antrieb des Schiffes.

Die beiden NASA-Missionsplanerinnen Laura Burke und Melissa McGuire haben für das Magazin Inside Science genauer nachgerechnet und bestätigen die Machbarkeit der verschiedenen Flugbahnen der Hermes bei Hin- und Rückreise. Sie stellten fest, dass man beim Hinflug rund 30 Tonnen Treibstoff sparen könnte, wenn die Hermes früher starten würde – dann hätte Mark Watney allerdings keine Kartoffeln zur Verfügung, weil die Mission vor Thanksgiving wieder beendet wäre. An der Rückkehrbahn der Hermes hatten die beiden nichts auszusetzen – ihre Flugbahn nach Abbruch der Mission (im Roman nach sechs Tagen, bei Ridley Scott sind es 18 – Ridley Scott glaubte nicht, dass Watney nach nur sechs Tagen eine ausreichende Menge Fäkalien zur Düngung seiner Kartoffeln zur Verfügung haben würde) ist die energetisch günstigste. Die Missionsdesigner einer echten Mars-Mission rechnen mit einer Gesamtdauer von rund 500 Tagen für eine sogenannte Short-Stay-Mission à la Der Marsianer. Dabei ist der Aufenthalt auf der Planetenoberfläche mit durchschnittlich 30 Tagen relativ kurz, weswegen man in aktuellen Planungsentwürfen die Long-Stay-Missionen mit einer Gesamtdauer von circa 1000 Tagen, von denen die Astronauten etwa die Hälfte auf dem Mars verbringen, den Vorzug gibt. (Mehr Informationen rund um lange und kurze Missionen sowie Flugrouten zum roten Planeten finden Sie in unserem Sachbuch Der Weg zum Mars (im Shop).)

Der frühere Missionsabbruch im Buch und die ideale Rückflugbahn beschert der Hermes einen entscheidenden Vorteil: Sie hat ausreichend Treibstoff zur Verfügung, um das gewagte Rich-Purnell-Manöver fliegen zu können. Dabei umrundet die Hermes die Erde, nimmt Vorräte auf, die mit einer Raumkapsel in den Orbit geschossen werden, und kehrt zum Mars zurück, den sie ebenfalls umrundet, wobei sie Mark Watney im MAV (Mars Ascent Vehicle) „einsammelt“, ehe sie wieder  in Richtung Erde fliegt. Die dafür benötigten Geschwindigkeiten sind enorm: Der Mars wird mit 5,4 Kilometern in der Sekunde in einer Höhe von nur 100 Kilometern umrundet – das ist sehr schnell für ein Rendezvousmanöver im All. Zudem darf dabei kein Fehler passieren, denn die Flugbahn des Schiffes und der beiden Raumkapseln, die es erreichen müssen, sind so beschaffen, dass es nur eine Chance auf ein Treffen gibt. Verpassen die Fahrzeuge einander, überschneiden sich die Routen nicht wieder, denn die Hermes tritt in beiden Fällen ja nicht in einen geschlossenen Orbit um Erde beziehungsweise Mars ein, sondern fliegt nach einer halben Umkreisung ja wieder in den interstellaren Raum. Auf dem Papier sind solche sogenannten hyperbolischen Manöver machbar, aber extrem schwierig und risikoreich.

Das Purnell-Manöver verlängert die Mission um 533 Tage und rund 965 606 400 Kilometer – und setzt die Hermes-Crew damit einer anderen Gefahr aus: Der Strahlung im All. Die Flugbahn, die sie nach der Umkreisung der Erde wählen muss, um schnellstmöglich zurück zum Mars zu kommen, führt Schiff und Besatzung sehr nahe an die Sonne heran, weit innerhalb der Venusbahn. Sie nähern sich der Sonne auf etwa 72 420 480 Kilometer (die Grenze bei Missionsplanungen der NASA für eine solche Annäherung liegt bei 120 700 800 Kilometern). Die Hermes bekommt deswegen etwa viermal so viel Strahlung ab wie die Erde, hätte diese kein schützendes Magnetfeld. Wie sich eine solche Dosis auf die Bordelektronik auswirken könnte, können wir nicht sagen. Die Crew würde auf dem Flug etwa ein Sievert abbekommen – das ist die zwanzigfache Jahresdosis eines Kernkraftwerk-Mitarbeiters.

Dass das Rich-Purnell-Manöver funktioniert, liegt aber vor allem an der Hermes selbst. Andy Weir ging von einer Beschleunigung von zwei Millimetern pro Sekunde pro Sekunde aus. Das ist nicht viel: Von null auf hundert Stundenkilometern bräuchte das Schiff dreieinhalb Stunden. Gerechnet auf die Gesamtflugzeit von 124 Tagen summiert sich das jedoch ganz schön auf. Die Hermes benutzt ein Antriebssystem, das derzeit noch in den Kinderschuhen steckt: VASIMR, kurz für Variable Specific Impulse Magnetoplasma Rocket. Dabei wird Gas so weit erhitzt, dass es zu Plasma wird, und anschließend über einen Elektromagneten beschleunigt und ausgestoßen, was das Schiff antreibt. Diese Methode ist überaus energieintensiv, sodass ein VASIMR-Schiff einen Kernreaktor bräuchte, der den Antrieb versorgt. Kernreaktoren sind jedoch alles andere als klein und leicht zu transportieren. Vom heutigen Stand der Technik gesehen ist VASIMR noch zu unzuverlässig – das System wurde noch nie im All getestet – und zu ineffizient. Wenn sich diese Mängel beheben lassen, verspricht VASIMR Flugzeiten zum Mars von 39 Tagen. Die Hermes hat also einen wirklich starken „Motor“ unter der „Haube“ – und genau deswegen kann sie das schnelle und riskante Rich-Purnell-Manöver fliegen. Weir und Scott haben ihre Hausaufgaben also wirklich gemacht.

Mehr Informationen zur Flugbahn der Hermes finden Sie in dem Inside-Science-Artikel „Inside The Spaceflight Of ‚The Martian‘“ auf Insidescience.org. Alles über bemannte Missionen zum Mars und die perfekte Flugbahn dafür gibt es in dem Sachbuch Der Weg zum Mars (im Shop) nachzulesen.

Titelbild: © 20th Century Fox / Grafik: Insidescience.org

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