Viraler Voyeurismus
Das App-Game „Sara Is Missing“ als kleiner Seismograf unserer Zeit
Mit Blick auf die enorme gesellschaftspolitische Bedeutung, die (a)soziale Medien wie Twitter, Facebook oder Snapchat schon seit mehreren Jahren auch im Sinne eines Nährbodens für alternative Fakten spielen, überrascht es nicht, dass immer mehr zeitgenössische Texte, Filme, Serien oder Games sich den aktuellen Inputs des mobilen Webs annehmen. Dabei lassen sich mehrere basale Tendenzen benennen, die sich speziell bezüglich der kritischen Implementierung der Thematik im Kontext ihrer Stories unterscheiden. Während Filme wie das im letzten Jahr erschienene Nerve die Sensationslust nach kurzweiligen und schnell konsumierbaren Spektakeln ohne eigene (Mit-)Verantwortung mithilfe einer schnittigen Thriller-Handlung letztlich an uns Zuschauer adressieren, Serien wie Mr. Robot sich kritisch mit unserem Umgang mit Informationen und deren Manipulierbarkeit auseinandersetzen, gibt es auch völlig banale Titel wie Ubisofts Open-World-Game Watchdogs 2, das seine grundsätzlich interessante Thematik eines Hacker-Krieges hinter den Kulissen unseres Alltags inhaltlich leider zu einer dümmlichen Posershow verkümmern lässt. Dass auch kontemporäre Games wesentlich klüger mit medialer Gegenwart im Rahmen ihrer eigenen spiellogischen und narrativen Prozesse umgehen können, bewies zuletzt vor allem der brillante Social-Simulator Orwell.
Wesentlich weiter als alles Genannte greifen insbesondere der asiatischen Horror-Tradition entsprungene Medienhorrorfilme wie Ringu oder The Call auf die Angst des Nutzers vor dem Medium zurück, wobei hier meist mithilfe übernatürlicher Kräfte eine mediale Entfremdung zwischen Mensch und Medium aufgebaut wird. Damit bleibt letztlich eine Trennung bestehen, wie sie Filme wie Nerve eben nicht durchgehen lassen. Nicht eine mysteriöse Kraft ist eigentlich für den Schrecken verantwortlich, sondern wir als User, die mit unseren strikten Binärentscheidungen zwischen Like/Unlike selbst an der Unheimlichkeit der Welt mitwirken. Oder anders formuliert: Neugier, die dazu in der Masse an Clicks ohne festen Adressaten verschwimmt, wirft deutlich mehr Problempotenzial auf als ein tragisch verendetes Mädchen mit langen Haaren, das wie in Ringu nach seinem Ableben dem Topos der Hexe nur vermeintlich neues Leben einhaucht. Aus einem ohnehin „alten“ Medium wie dem Fernseher zu entsteigen, gäbe heute auch kaum mehr Likes.
Vor diesem, zugegebenermaßen weit gefassten Hintergrund, erschien vor einiger Zeit mit der kostenlosen Smartphone-App Sara Is Missing ein Horror-Game, das gleich mehrere der hier anzitierten Aspekte in sich vereint. Schon das Interface, das (vergleichbar mit der Inszenierung eines Desktops im Film Unknown User) wie die Benutzeroberfläche eines handelüblichen Smartphones dargestellt wird und uns so die komplette Spielzeit suggeriert, wir würden tatsächlich ein normales Phone benutzen, vermittelt stimmig die Kernintention des Games, sich mit seiner Thematik so nah wie möglich an unserem mobilen Alltag zu orientieren. Zunächst scheint auch die Ausgangslage von Sara Is Missing sehr alltäglich bis banal: Als Spieler findet man das Smartphone einer gewissen Sara, die - überraschung - spurlos verschwunden ist. Da wir als unbeteiligter Zaungast eigentlich weder etwas mit Sara noch ihrem Verschwinden zu tun haben, könnten wir das Handy auch einfach der Polizei übergeben.
Doch da ist sie wieder, diese Neugier, die sich aus einem Gefühl der sicheren Distanz speist und mit den ersten paar Clicks durch die Privatsphäre Saras immer schön weitere Nahrung findet. Ob Adressbuch, Chats oder Bilder; nichts ist vor unseren gierigen Zugriffen sicher, obwohl wir damit der Besitzerin des Handys alles andere als einen Freundschaftsdienst erweisen. Doch die Entwickler von monsoonlab begnügten sich nicht damit, Sara Is Missing als kurzweilige und gerade damit sehr gelungene Reflexion medialen Voyeurismus ohne weitere Zusätze bestehen zu lassen. Denn da wäre noch die Horror-Tradition, die sich leider immer stärker mit ihren übergreifenden Verzerrungen auf allen Ebenen einschaltet und aus der Medienkritik einen zwar wirkungsvoll inszenierten, jedoch narrativ recht plakativen Alptraum generiert. Finden wir zunächst simple Handybildchen mit Kätzchen, Essen und allerhand weitere Verweise auf Klischees der Netzwelt, dürfen es später auch gerne Torture-Porn-Pics sein, um das Faszinationsspektrum des Internets in seiner teilweise verstörenden Breite abzustecken. Unser Schnüffeln zwingt uns zunehmend dazu, aus unserer rezeptiven Passivität auszusteigen und uns aktiv mit einigen morbiden Kontakten Saras in den Dialog zu begeben. Dazu wählen wir aus möglichen Antwort-Optionen aus und beeinflußen so den Fortgang der Handlung bis zu einem von mehreren alternativen Endings.
So steht in jedem Fall die Erkenntnis, dass kein noch so flüchtiger Click folgenlos bleibt, obwohl man monsoonlab vielleicht zuviel Ehre angedeihen lässt, wenn man ihren verstörenden Horrortrip als Appell an einen verantwortungsbewussteren Umgang mit modernen Medien deutet. Aber wer sich diese eine Stunde Gameplay gönnt, kann kaum behaupten, sich nicht zumindest ein bisschen ertappt zu fühlen. Ein neugieriger Voyeur steckt doch in jedem von uns.
Sara Is Missing ist kostenlos für PC, Mac und Android erhältlich.
Sara Is Missing • monsoonlab • Mobile-Horror
Abb. © monsoonlab
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