30. März 2018 3 Likes

Das Ein-Körper-Problem

Mit „Hologrammatica“ legt Tom Hillenbrand seinen zweiten aufregenden SF-Thriller vor

Lesezeit: 5 min.

Wir schreiben das Jahr 2088. Die ganze Welt ist von einem Netz aus Hologrammen überzogen. Die ganze Welt? Nein, hier und da gibt es noch weiße Flecken auf der holografischen Landkarte. Dennoch haben sich die Menschen an die entstandenen Scheinwelten gewöhnt. Es ist der ideale Zeitpunkt, um von der Bildfläche zu verschwinden und eine neue Identität anzunehmen. Vor diesem Hintergrund spielt Tom Hillenbrands Roman „Hologrammatica“, in dem es um nichts anderes geht als die Suche nach der Wahrheit in einer Gesellschaft, die ihre privatesten Geheimnisse gut zu hüten weiß.

Was macht einen guten Roman über die gar nicht so ferne Zukunft aus? Sympathische Helden? Konsequenter Weltenbau? Realistische Plots? In „Drohnenland“ zeigte Krimispezialist Hillenbrand („Teufelsfrucht“, „Gefährliche Empfehlung“), dass eine fesselnde Geschichte auf der ganzen Linie überzeugen muss und kann. Sowohl Krimi-, als auch Science-Fiction-Fans kamen vor vier Jahren nicht an Aart van der Westerhuizen vorbei, der als Europol-Hauptkommissar in Brüssel einen Mord aufklären muss, der in einem Überwachungsstaat eigentlich nicht möglich sein sollte. „Drohnenland“ brachte dem gebürtigen Hamburger gleich zwei Genrepreise ein: den Friedrich-Glauser-Preis der Krimiautorengruppe „Syndikat“ für den besten Roman und den Kurd Laßwitz-Preis für den besten deutschsprachigen SF-Roman. Kein Wunder, dass die Rufe nach einer Fortsetzung oder einem zweiten Science Fiction-Thriller aus seiner Feder nie verstummten. 

Hillebrands neuester Streich heißt „Hologrammatica“ und ist eindeutig keine Fortsetzung. Stattdessen ist er ein äußerst spannender Gegenentwurf zu „Drohnenland“. Sein neuer Held ist ein homosexueller Privatdetektiv mit einer Vorliebe für Jazz. Sein Auftrag führt ihn um den halben Globus: von London geht es nach Paris, von da nach Miami, schließlich sogar auf eine abgelegene unwirtliche Insel und ins All. Doch sein(e) Gegner scheinen immer einen Schritt voraus.

Galahad Singh verdingt sich als „Quästor“. Sein Spezialgebiet ist das Auffinden von verschwundenen Personen. Da Menschen wieder Wert auf ihre Privatsphäre legen und durch Hologramme ihr Äußeres beliebig verändern können, sind seine Fähigkeiten gefragt. Anders als zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist es in der vom Klimawandel gezeichneten Welt deutlich einfacher geworden, aus seinem bisherigen Leben auszusteigen. Neben den angesprochenen Holomasquen gibt es noch eine weitere Möglichkeit, unerkannt durch die Straßen zu spazieren: die Nutzung eines Klonkörpers. Wer sein Gehirn scannt und durch einen Quantencomputer ersetzt, kann es jederzeit kopieren und das so entstandene „Cogit“ in einen anderen, eigens dafür vorgesehenen Korpus („Gefäß“) transferieren. Wer sich hinter dem „Gefäß“ verbirgt, können die Mitmenschen nicht erkennen. Die Sache hat nur einen Haken: nach 21 Tagen muss das „Cogit“ zurück in den Stammkörper, sonst „crasht“ das Gehirn und die Person stirbt. Galahad muss für seinen neuesten Fall in jene Szene dieser „Quants“ genannten Menschen eintauchen. Er soll die Kryptoanalytikerin Juliette Perotte wiederfinden. Beruflich hat sie sich mit der Verschlüsselung der „Cogits“ auseinander gesetzt. Privat hat sie anscheinend nach einer Möglichkeit gesucht den „Braincrash“ zu verhindern. Wer das Geheimnis um die Verbindung von Körper und Geist knackt und dadurch das auch als „Ein-Körper-Problem“ bekannte „Déscartes-Rätsel“ löst, dem winkt am Ende vielleicht die Unsterblichkeit. Handelt es sich um einen Fall von Industriespionage oder steckt etwas anderes hinter Juliettes Verschwinden? Während Galahad ermittelt, erwacht auf einer verlassenen Krankenstation eine Frau. Sie hat keine Erinnerungen daran, wie sie dorthin gekommen ist, noch was sie da soll. Notizen verraten ihr, dass sie nicht zum ersten Mal gestorben und wieder erwacht ist. Doch was soll sie auf diesem rauen Eiland irgendwo im Nirgendwo?

Hologramme sind – das lässt der Titel richtig vermuten – die dominierende Technik dieses Fin de Sciècle. Hillenbrand beschreibt mit Wonne die abstrusen Züge, die dieser neu entstandene Jahrmarkt der Eitelkeiten angenommen hat und wie Galahad damit umgeht. Obwohl es für seine Arbeit erforderlich ist, einen Teil der künstlich erzeugten Realität auszublenden, ist die Konfrontation mit der realen Welt, dem „Naked Space“, fast schon schmerzhaft für ein Kind der 2050er Jahre wie ihn. Gleichzeitig ist es die perfekte Metapher für die buchstäblich „nackte Wahrheit“, die sich unter dem allzu schönen Schein verbirgt. Um Juliettes Aufenthaltsort zu lokalisieren, muss sich der Privatschnüffler nicht nur mit den sozialen und ethischen Abgründen der „Quants“ auseinander setzen, sondern auch mit einem Jahrzehnte zurückliegenden Ereignis: dem „Turing-Vorfall“ und das damit einhergehende Verbot jeglicher künstlichen Intelligenz. Denn schnell wird klar, dass Juliette bei ihren Forschungen Hilfe gehabt haben muss. Ob es sich bei dem Helfer jedoch um einen Menschen handelt, muss Galahad erst noch herausfinden.

Wie schon in „Drohnenland“ werden die technischen und gesellschaftlichen Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte behutsam eingestreut, sodass sich nach und nach ein komplettes Bild des Jahres 2088 und seiner Geschichte ergibt. Dabei gibt es auch die ein oder andere Parallele zwischen den Romanen, wie autonom fahrende Autos und den Bedeutungsverlust der USA. Auch „Hologrammatica“ besticht vor allem durch seinen Weltenbau. Die von Hillenbrand beschriebenen globalen Entwicklungen erscheinen logisch und in sich schlüssig. Der Weg, den die Menschheit heute eingeschlagen hat, scheint daher auf das eine oder andere Extrem heraus zu laufen: die totale Überwachung („Drohnenland“) oder der absolute Rückzug in private Scheinwelten mit der Aussicht auf ein unsterbliches Leben („Hologrammatica“). Rosige Aussichten für die Menschen sehen irgendwie anders aus…

„Hologrammatica“ ist nicht nur eine spannende, intelligente Auseinandersetzung mit moderner Technik und dem unausweichlich gewordenen Klimawandel, sondern auch ein durchaus verspielter Science Fiction-Roman, in dem Dicks „Jedermann-Anzug“, Asteroidenbergbau, Fahrstühle (!) ins All und Medizin auf Knopfdruck zum Alltag gehören. Wermutstropfen? Hillenbrand lässt Galahad zwar den Fall lösen, die Geschichte endet jedoch an einem Punkt, wo sie eigentlich erst richtig los gehen sollte. Fortsetzung folgt? Die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt.  

Dank „Drohnenland“ waren die Erwartungen an einen zweiten SF-Thriller von Tom Hillenbrand hoch, mit „Hologrammatica“ hat er sie alle übertroffen. Sein Roman sprüht voller phantastischer Ideen und brilliert in der Darstellung des Jahres 2088. Der Weg in den SF-Olymp ist ihm mit einem der besten SF-Erzählungen des noch jungen Jahres sicher. Bleibt nur noch eine Frage: Wann kommt die Verfilmung?

Fans sollten den eBook-Reader bereit halten: am 9. Mai erscheint mit der Kurzgeschichte „Crasher“ eine weitere Erzählung aus der Welt der Hologramme.

Tom Hillenbrand: Hologrammatica •  KiWi, Köln, 2018 •  560 Seiten • 12,00 €

Kommentare

Zum Verfassen von Kommentaren bitte Anmelden oder Registrieren.
Sie benötigen einen Webbrowser mit aktiviertem JavaScript um alle Features dieser Seite nutzen zu können.