Ein Pastor am Ende der Welt
Michel Faber überrascht mit „Das Buch der seltsamen neuen Dinge“
Romane über die Kolonisierung fremder Planeten gibt es wie Sand am Meer – aber kaum einer führt seinen Protagonisten so sehr an die persönlichen Grenzen wie Michel Faber, dessen jüngster Roman zudem – wie etwa „Der Gewissensfall“ von James Blish – eines der wenigen Beispiele für die Thematisierung von Religion innerhalb der Science-Fiction darstellt. Doch wer meint, das Christentum würde seiner Hauptfigur dabei helfen, die anstehenden äußeren und inneren Krisen zu bewältigen, sieht sich getäuscht.
Der Ex-Alkoholiker und Pastor Peter Leigh ist von dem undurchsichtigen Konzern USIC damit beauftragt worden, ein halbes Jahr lang den Einwohnern des Planeten Oasis – auf dem eine irdische Basis unterhalten wird – das Evangelium zu bringen. Oasis ist an sich eine wenig spektakuläre Welt, die in erster Linie aus flachen Ebenen besteht, über die regelmäßig Regenstürme toben. Bei den Bewohnern handelt es sich um friedlich-rätselhafte Geschöpfe mit „fötenähnlichen“ Köpfen, die in einfachen Verhältnissen leben und bereits von Peters Vorgänger Kurtzberg auf das Evangelium eingestimmt worden sind. Daher erwarten sie sehnsüchtig die Bibel, die sie „Das Buch der seltsamen neuen Dinge“ nennen. Allerdings ist Kurtzberg verschwunden, genauso wie ein mit der Sprachentschlüsselung beschäftigter Linguist. Da einige der Oasier englisch sprechen, klappt die Verständigung trotzdem recht gut, zudem werden die Menschen von ihnen mit Lebensmitteln im Austausch gegen Medikamente versorgt.
Währenddessen gibt es von zuhause beunruhigende Nachrichten: Die Erde wird immer öfter von Naturkatastrophen heimgesucht; außerdem versagt in Peters Heimat England zunehmend die Infrastruktur, wovon ihm seine nicht minder religiöse Partnerin Bea immer aufgeregter berichtet. Peter wischt diese Dinge zunächst beiseite. Er hat vollauf mit der Errichtung einer Kirche zu tun und beschäftigt sich mit den Sitten der Oasier, deren Sprache er allmählich lernt. Als deren Siedlung von einer „biblischen Plage“ heimgesucht wird, hilft er handfest mit, damit die Ernte nicht verloren geht. Doch allmählich macht auch er Beobachtungen, denen er sich immer weniger verschließen kann: Warum besteht die Kolonie aus betont durchschnittlichen Siedlern, die zudem keine engen Verbindungen zur Erde haben – mit ihm als einziger Ausnahme? Worin liegt seine Rolle, die keiner unmittelbar ökonomisch verwertbaren Tätigkeit entspricht? Und welche Ziele verfolgt der Konzern USIC? Als Bea ihm gleichermaßen von einer Schwangerschaft erzählt und davon, dass sie aufgrund verstörender Ereignisse an ihrem Glauben zweifelt, begreift er, mit welchen Verhältnissen er es tatsächlich zu tun hat – und dass seine Situation viel brisanter ist, als er zuvor dachte.
Der 1960 in Den Haag geborene englischsprachige Schriftsteller Michel Faber ist für Genreleser kein Unbekannter: Sein bei uns als „Die Weltenwanderin“ veröffentlichtes Debüt aus dem Jahr 2000 diente als Vorlage zu dem Film „Under the Skin“ (2013, Regie: Jonathan Glazer) mit Scarlett Johansson. „The Book of Strange New Things“ liegt bereits seit 2014 vor und erscheint mutmaßlich erst jetzt bei uns, weil sich die hiesige Verlagslandschaft mit ambitionierter Science-Fiction gern überfordert zeigt. Dabei hat Faber alles richtig gemacht: Sein Roman bietet – neben einer zeitlosen Liebesgeschichte – zwei hochaktuelle Themen, nämlich zum einen den Umgang mit „dem Fremden“ an sich und zum anderen den Konflikt zwischen der Weltsicht der Religion und den Gegebenheiten der Realität. Alle drei Punkte führen zu hartnäckigen Selbstzweifeln des Protagonisten, der sich in seiner bisherigen Rolle fundamental erschüttert sieht und gänzlich neu justieren muss, um weiterhin vor sich bestehen zu können. Dabei schafft er es keineswegs immer, der Gefahr der Selbsttäuschung zu entgehen.
Dieser Plot wäre grundsätzlich auch mit dem Instrumentarium des 19. Jahrhunderts (Kolonie auf fernem Kontinent, politische Wirren zuhause) durchspielbar gewesen; der Autor hat ihn jedoch in ein Science-Fiction-Szenario gekleidet, da nur mit diesem jene Form der Zuspitzung möglich ist, die Relativierungen ausschließt und die Kernkonflikte des Buchs eben nicht als historisch, sondern als gegenwärtig markiert. Dabei ist sein Umgang mit Genremotiven absolut gelungen: Die Oasier erscheinen durch ihren Sprachgebrauch tatsächlich als ausgesprochen fremdartig, was auf typographischer Ebene noch durch Sonderzeichen unterstrichen wird. Trotzdem ist ihre Lebensweise glaubwürdig und daher nachvollziehbar.
Grundsätzlich aber konzentriert sich Faber auf die Konflikte, weshalb er alles, was plakativ oder sensationell wirken könnte, zurückgefahren hat. Weder dem Raumflug noch den Eigenschaften des Planeten Oasis wird übermäßig viel Aufmerksamkeit geschenkt; auch die Figuren wirken betont durchschnittlich und unaufregend. („Hier werden alle Erwartungen untertroffen“, äußert eine der Figuren einmal.) Dies gilt auch für Peter und Bea. Beide sind durch ihren Glauben ausgezeichnet, werden aber auch durch ihn beschränkt. Das macht sie bisweilen langweilig, was das Buch bewusst in Kauf nimmt. Helden sind niemals penetrant, reale Menschen schon.
In diesem Zusammenhang ist es schade, dass der Verfasser den drohenden Weltuntergang recht handelsüblich und daher wenig überzeugend gestaltet hat. Im Kino ist die Erde einfach zu oft untergegangen, als dass man diesem Konglomerat aus uninspirierten Versatzstücken große Überzeugungskraft zusprechen könnte. Hier enttäuscht das Buch. Insgesamt aber ist „Das Buch der seltsamen neuen Dinge“ ein überzeugender, ernsthafter und erfrischend gegenwärtiger Versuch, eine krisenhafte Hauptfigur an ihre Grenzen und darüber hinaus zu führen.
Michel Faber: Das Buch der seltsamen neuen Dinge • Roman • Aus dem Englischen von Malte Krutsch • Verlag Kein & Aber • 668 Seiten • € 25,00 • E-Book: € 20,99
Kommentare