22. August 2018 1 Likes

Ein Turm voller Welten

Steampunk mal anders: Der Roman „Im Turm“ von Josiah Bancroft

Lesezeit: 3 min.

Von weit her kommen die Menschen zum berühmten Turm von Babel, der so hoch in den Himmel reicht, dass niemand sicher weiß, wie viele Stockwerke er wirklich hat. Ob man mit dem Zug oder als Teil einer Karawane anreist, spielt für den ersten Eindruck keine Rolle: Schon von Weitem ragt der Turm wie eine dünne Nadel empor und teilt den Horizont. Neuankömmlinge staunen zunächst über das Gewimmel auf dem riesigen Markt, der den Turm in dessen wandernden Schatten umgibt und ständig in Bewegung zu sein scheint. Mächtige Luftschiffe umschwirren indes den imposanten Turm und versorgen die sagenumwobenen Stockwerke, während Steinschlag im Eingangsbereich eine nicht unbeträchtliche Gefahr darstellt und eine mechanische Uhrwerkspinne die alte Außenmauer des gewaltigen Gebäudes in Stand hält. Aber Vorsicht! So wundersam der Turm und seine Umgebung auch sein mögen, bergen sie doch viele Gefahren.

Thomas Senlin, ein Lehrer aus einem abgelegenen kleinen Fischerdorf, muss das in Josiah Bancrofts Roman „Im Turm“ ausgerechnet in seinen Flitterwochen am eigenen Leib erfahrenen. Denn als Senlin im Gewusel des Marktes seine frisch angetraute Ehefrau Marya verliert, bleibt dem Intellektuellen nichts anderes übrig, als das legendäre, einschüchternde Bauwerk zu betreten und seine Gattin zu suchen, obgleich die harsche Realität sich stark vom glorifizierenden Reiseführer unterscheidet. Letztlich ist jedes Stockwerk ein Ringreich und eine Welt für sich. Im ersten Stock dreht sich z. B. alles ums Theater, im zweiten stehen die Bäder und ein See im Mittelpunkt. In den Geschossen herrschen außerdem eigene Regeln und Gesetze. Wer diese nicht befolgt – oder seine Rechnungen nicht mehr bezahlen kann – landet in einem Käfig an der Außenmauer oder wird geschoren, um als Sklave auf Jahre hin Güter durch den Turm zu schleppen …

„Im Turm“ wurde von Josiah Bancroft 2013 ursprünglich in Eigenregie veröffentlicht, bevor die großen Verlage auf das Buch aufmerksamen wurden und sich die Rechte am ersten Band und den geplanten drei Fortsetzungen sicherten. So, wie Bancroft in den 90ern einmal Comic-Zeichner bei Marvel werden wollte, hatte der ehemalige Dozent anfangs vor, sein von Italo Calvinos Klassiker „Die unsichtbaren Städte“ inspiriertes Werk in Form von Prosagedichten zu inszenieren. Obwohl er diese Idee am Ende glücklicherweise verwarf, ist die klare, geradezu melodiöse Prosa der Endfassung, die Sabine Thiele ins Deutsche übertragen hat, an vielen Stellen noch immer ein Gedicht. Das Wesen des steifen und mutlosen, im Angesicht seiner Probleme über sich hinauswachsenden Thomas Senlin fängt Bancrofts feine Sprache jedenfalls wunderbar ein. Senlin wurde von manch einem englischsprachigen Kritiker gar mit dem genauso snobistischen und unvollkommenen Helden Bilbo Beutlin verglichen, was die Veranlagung angeht. Markig (und passend, da Tolkiens „Hobbit“ neben Bradburys „Das Böse kommt auf leisen Sohlen“ einen immensen Einfluss auf den jungen Bancroft hatte, der seine Abenteuer am liebsten ebenfalls vom Sofa aus erleben würde). Senlin zu klassifizieren, stellt sich jedoch als allemal leichter dar, als „Im Turm“ einer spezifischen fantastischen Genre-Ecke zuzuordnen. Luftschiffe, Automaten, Elektrizität, Motoren, Maschinen und Piraten machen die Einsortierung schwer, betonen zugleich die Andersartigkeit und das Besondere des Settings. Science-Fantasy trifft es durchaus, Steampunk abseits des üblichen Rahmens noch besser.

Die ersten Stationen von Senlins vertikaler Heldenreise durch die faszinierend fremdartigen Ringreiche des Turms von Babel sind genretranszendierende Fantastik für Leser von China Miéville, Jack Vance und Gene Wolfe. Selbst wenn nicht jede Idee zündet und nicht jedes Kapitel vom Tempo her überzeugt, ragt Josiah Bancrofts Roman sprachlich und konzeptionell wie das titelgebende Bauwerk turmhoch aus dem Standard heraus.

Josiah Bancroft: Im Turm • Heyne, München 2018 • 448 Seiten • E-Book: 11,99 Euro (im Shop)

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