23. Februar 2017 2 Likes 1

Ein Wortmaler der Entropie

Science-Fiction als Paradoxon: Die Reihe SF-Personality porträtiert J. G. Ballard

Lesezeit: 4 min.

Der Brite James Graham Ballard (1930–2009) gehört zu den herausragenden Autoren der modernen Science-Fiction, obwohl die oft überraschend engen Grenzen des Genres seiner surrealen Phantasie, seiner Experimentierfreude und seinem stilistischen Vermögen nicht gerecht werden. Nachdem im vergangenen Jahr mit High Rise die dritte große Verfilmung eines seiner Werke in die Kinos kam (die anderen sind Empire of the Sun und Crash), legt Hans Frey nun eine ebenso kenntnisreiche wie spannende Studie über Ballards Werk vor, die sich für Anfänger wie Fortgeschrittene gleichermaßen eignet.

Hans Frey: J. G. Ballard - SF-PersonalityBallard wird vor allem für sein Kurzgeschichtenwerk geschätzt. So handeln die Erzählungen um die elegante Künstlerkolonie Vermillion Sands („Die tausend Träume von Stellavista“) von singenden Orchideen, wuchernden Skulpturen und neurotischen Häusern, während an einem kobaltblauen Himmel Wolkenbildner in Segelfliegern ihre Arbeit verrichten. Andere Geschichten berichten von einer Welt, in der bemannte Raumfahrt längst Geschichte ist. Umgeben von verödeten Landebahnen ragen die alten Startrampen von Kap Kennedy in den Abendhimmel „wie die rostigen Chiffren einer in Vergessenheit geratenen Himmelsalgebra“. Hier warten Spürtrupps auf die letzten heimkehrenden Raumkapseln, um Souvenir- und Kultgegenstände einzusammeln („Der tote Astronaut“). Doch auch Ballards Romane – allen voran „The Drowned World“ (1962, dt. „Karneval der Alligatoren“), „The Crystal World“ (1966, dt. „Kristallwelt“) und „Crash“ (1973) – haben seinen Ruf begründet, einer der einfallsreichsten und stilistisch virtuosesten Autoren der SF zu sein. Die traumhaft-unwirkliche Stimmung, die Ballards Texte oft kennzeichnet, hat ihm in der englischsprachigen Welt bereits das Adjektiv „ballardian“ („ballardianisch“) eingetragen.

Hans Frey – Autor einer nicht minder lesenswerten Abhandlung über Alfred Bester, die ebenfalls in der Reihe SF-Personality erschienen ist – gibt zunächst einen Abriss von Ballards Leben und benennt typische Werkelemente, bevor er sich im Detail mit allen veröffentlichten Kurzgeschichten und Romanen auseinandersetzt. Für ihn ist Ballard, der „Wortmaler der Entropie“, eine singuläre Erscheinung, der einerseits „typische“ Science-Fiction geschrieben hat, andererseits die Grundprämissen des Genres so sehr ins Gegenteil verkehrte, dass man auch von einer provokanten „Anti-SF“ sprechen könne. Ballard greift dabei SF-Motive auf und formt sie in seinem Sinne um; beispielsweise verwendet er die äußere Transformation von Landschaften dazu, um die innere Wandlung seiner Figuren zu reflektieren. Die Grundzüge seines Werks wie die in Sprache gegossenen Bilder, das symbolträchtige Inventar (halbleere Swimmingpools, verrottende Flugzeuge, alles überdeckender Sand) und der spezifische Stil verorten ihn in jedem Fall als Ausnahmeerscheinung: „Es tut dem Genre gut, mit Ballard angeben zu können.“

Zwei Dinge sind besonders hervorhebenswert. Zum einen ist Frey umfassend belesen, was bedeutet, dass er Ballards Werk in ungewohnte Zusammenhänge setzen kann, wenn er zum Beispiel dessen philosophische oder religiöse Subtexte untersucht. Zum anderen hat Frey den Autor über Jahrzehnte wenig geschätzt und erst spät zu ihm gefunden, was dafür sorgt, dass sein Porträt aus wohltuender Distanz geschrieben wurde und nicht die übliche Fanverehrung transportiert. Dies führt zu angenehm differenzierten Bewertungen. So hält Frey den Roman „Crash“, der gewiss Ballards schwierigstes und sperrigstes Buch darstellt, einerseits für „abscheulich“, andererseits erkennt er dessen literarischen Rang an. Es steht zu vermuten, dass Ballard mit dieser doppelten Einschätzung durchaus einverstanden gewesen wäre.

Auch sonst wartet Frey mit unkonventionellen Ideen auf. Beispielsweise ist seine Würdigung der beiden für gewöhnlich nachgeordneten Romanen „The Drought“ (1964, dt. „Die Dürre“) und „Hello America!“ (1985, dt. „Hallo Amerika!“) ebenso anregend wie debattierenswert. Ohnehin wird Ballards Langprosawerk klug und nachvollziehbar aufgegliedert, wobei Frey unter der Überschrift „Society-Romane“ auch jene Bücher behandelt, die in Deutschland bisher unverständlicherweise keinen Verleger fanden: „Super-Cannes“ (2000), „Millenium People“ (2003) und „Kingdom Come“ (2006).

Hier freilich offenbart sich das Hauptproblem dieses hervorragenden, mit unzähligen kleinen Coverabbildungen illustrierten Buches, das sowohl eine aktualisierte Ballard-Bibliographie von Joachim Körber als auch ein praktisches Register beinhaltet: Es kommt zur Unzeit. Während Ballard über die 1970er und 1980er Jahre in Deutschland kontinuierlich übersetzt und gedruckt wurde, ist er heute beinahe vergessen. Nur wenige seiner Arbeiten sind bei Kleinverlagen lieferbar, von denen die Edition Phantasia der wichtigste sein dürfte; die 2007 bei Heyne dankenswerterweise vorgelegte Gesamtausgabe seiner Erzählungen ist leider vergriffen. In Großbritannien, den USA und Frankreich bleiben Ballards Werke hingegen wie selbstverständlich in aktuellen und attraktiv gemachten Ausgaben greifbar.

Was auf dem hiesigen Markt seit längerer Zeit (und nicht nur im Hinblick auf Ballard) schiefläuft, wäre eine gesonderte Betrachtung wert. Eines aber ist gewiss: Auch wenn man nicht jeder Argumentation im Detail zustimmen mag, gibt Frey wertvolle Anregungen, um sich mit einem der größten englischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts zu beschäftigen. Und: Eine Einladung, Ballard zu lesen, ist das Buch auf jeden Fall.

Hans Frey: J.G. Ballard – Science Fiction als Paradoxon • SF-Personality 25 • Memoranda bei Golkonda • 417 Seiten • € 24,90

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Bild des Benutzers Alexander Schlicker

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