Gesellschaftsutopie
In „Germany 2064“ entwirft Martin Walker ein Bild von Deutschland, das in knapp 50 Jahren Realität werden könnte.
„Wie werden wir in der Zukunft leben?“ Diese Frage hat schon Generationen von Autorinnen und Autoren umgetrieben und zu diversen, heute als Klassiker geltenden Romanen, inspiriert. Gleiches gilt für Künstlerinnen und Künstler, die sich in der Vergangenheit mit mal mehr, mal weniger realistischen Vorstellungen von der zukünftigen Erde auseinander gesetzt haben. Manches wurde Realität, manches ist in Vergessenheit geraten und manches ins Kuriositätenkabinett verbannt worden. Dennoch ist es eine Tatsache, dass die Science-Fiction mit ihren Subgenres der Utopie und Dystopie wie geschaffen, wenn nicht sogar prädestiniert dafür ist, derzeitige Entwicklungen aufzugreifen und aus ihnen spannende, erschreckende oder logisch scheinende Visionen vom Morgen zu entwerfen.
Mit seinem jüngsten Werk, „Germany 2064. Ein Zukunftsthriller“, geht auch Bestsellerautor Martin Walker diesen Weg, um seinen Leserinnen und Lesern eine gesamtgesellschaftliche Darstellung des Lebens in 50 Jahren zu präsentieren. Der gebürtige Schotte ist nicht nur hierzulande vor allem durch seine Kriminalromane um den Polizeichef Bruno bekannt, der in Walkers Wahlheimat, dem südfranzösischem Périgord, bislang acht Fälle gelöst hat. Kriminalfälle spielen auch in „Germany 2064“ eine wichtige Rolle. Es ist jedoch die andere Seite des Romanciers, die immer wieder durchscheint und dem Buch das gewisse Etwas gibt: die des Historikers und politischen Journalisten, der 25 Jahre für den Guardian tätig war und bis heute ein aktives Mitglied der Denkfabrik „Global Business Policy Council“ ist. Es waren die Ergebnisse eines Seminars, eben jenes Think Tanks, die den Autor zum Schreiben seiner Utopie veranlassten.
Seit es 2048 zu einer von Studenten und Senioren getragenen Revolution kam, ist Deutschland in zwei komplementäre Welten geteilt. Neben den hochtechnologisierten Städten, die keine Wünsche offen lassen und vollkommen unter staatlicher Kontrolle stehen, gibt es die sogenannten „Freien Gebiete“, die aus den Naturschutzgebieten hervor gegangen sind und zur Heimat von Aussteigern, Kreativen und Biobauern wurden. Einer der Orte, an dem sich die Bewohner beider Reiche treffen, ist der Hof von Klaus Miller. Hier gibt es nicht nur rustikales Bioessen und Wein, das den Gesundheitschip manches Gastes ordentlich durcheinander bringt, sondern auch eine Bühne für Künstler. Während eines Konzerts verschwindet die Sängerin Hati Boran spurlos vom Gelände und ist weder über ihren PersonalCommunicator (eine Art Smartwatch 2.0 mit Hologrammtechnik, kurz „PerC“ genannt), noch über ihr Gesundheitsimplantat zu orten. Da ihr Bruder ein einflussreicher Politiker und die Schwester eine nicht minder mächtige Geschäftsfrau ist, schlägt der Fall hohe Wellen. Kommissar Bernd Aguilar und sein Automatisierter Partner „Roberto“, der bei einer Schießerei Bernds Leben rettete und daraufhin ein neues Upgrade bekommen hatte, übernehmen die Ermittlungen. Schnell kommt der Verdacht auf, dass Hati entführt wurde – und zwar von einem Roboter, der genauso modern ist wie Roberto und aus der gleichen Firma stammt. Doch aus welchem Grund?
Im Laufe der Ermittlungen gibt Walker einen tiefen und durch zumeist reale Zitate fundierten Einblick in die Entwicklung, die das Land seit 2014 genommen hat bzw. nehmen könnte. Im Zentrum steht hierbei Friedrich Wendt, der 112-jährige Patriarch des Wendt-Konzerns. Sowohl er als auch seine Firma sind Symbole für „Made in Germany“ und die bevorstehende Zukunft. Aus dem einstigen Automobilzulieferer Wendt wurde einer der größten Robotik-Betriebe weltweit und Dank des medizinischen Fortschritts, sind alte Haudegen wie Fred aus der Industrie kaum wegzudenken. Er hat miterlebt, wie Privatsphäre zu einem Fremdwort und Elektroautos autonom wurden, wie Lebenserwartung und Fertilität auf über 90 Jahre stiegen, oder Banken obsolet wurden, als sich das mobile Bezahlen durchsetzte und Finanzinstitute zu einer Kooperation mit Telekommunikationsunternehmen gezwungen wurden.
Doch die schöne neue und nahezu perfekte Welt hat auch ihre Schattenseiten. Krieg, Kriminalität und Krisen existieren nach wie vor. Die autonomen und weitestgehend führungslosen „Freien Gebiete“ fürchten um ihre Existenz seit sich dort kriminelle Kartelle einnisten und von Politikern als Gefahr angesehen werden. In Afrika regiert das Chaos. Kriegsroboter aus den USA und Cyborgs aus Russland und Fernost stellen auch die von Wendt propagierte friedliche Roboternutzung in Frage. Die Entführung von Hati Boran scheint das Lebenswerk des Alten und alles, wofür er und auch die „Freien Gebiete“ stehen, zu hinterfragen.
Apropos Cyborgs: die Robotik ist eines der zentralen Themen im Roman. Ausgehend von den Asimov’schen Gesetzen wird diskutiert, wie der Mensch in Zukunft mit Robotern à la Roberto umgehen soll. Die soziale Beziehung mit ihnen stellt nicht nur Bernd vor neue Herausforderungen. Obwohl er seinen AP seit Jahren kennt, ist er von dessen technischen Neuerungen und dem immer menschlicher werdenden Verhalten zunehmend eingeschüchtert. Was macht den Menschen, was den Roboter aus? Welches Verhalten ist noch ethisch vertretbar, welches strafbar?
Mit „Germany 2064. Ein Zukunftsthriller“ hat Martin Walker einen der interessantesten Romane des Bücherherbsts 2015 vorgelegt. Der Schriftsteller steht mit seiner Utopie auf einer Stufe mit „1984“ und „Schöne neue Welt“, bleibt jedoch im Gegensatz zu Orwell und Huxley ein Optimist. Die gesamtgesellschaftliche Entwicklung ist in sich schlüssig und zeigt, wie Facebook, Stuttgart 21, Finanzkrise 2008 oder der Bologna-Prozess unsere Welt verändern könnten. Egal ob Politik, Bildung, Finanzen oder Gesundheit, alle Teilbereiche des menschlichen Lebens und des sozialen Zusammenseins werden sich wohl radikal verändern und machen (vielleicht) auch nicht vor des Deutschen liebstem Kind, dem Auto, halt. Ob Walker, seinem Co-Autor Dr. Otto Schulz und der Denkfabrik der visionäre Weitblick eines Hugo Gernsback gelungen ist, oder dieser bereits in wenigen Jahren von der Realität eingeholt sein wird, zeigt sich – wie so oft – erst in der Zukunft.
Martin Walker: Germany 2064. Ein Zukunftsthriller • Aus dem Englischen von Michael Windgassen • Diogenes, Zürich 2015 • 432 Seiten • € 24,00
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