2. Juli 2016 3 Likes

Sex und Motoren

Erinnerungen und Gedanken zu J. G. Ballard „Crash“

Lesezeit: 12 min.

Erstmals seit David Cronenbergs Crash (1996) ist mit High Rise gerade wieder eine Verfilmung eines J.-G.-Ballard-Textes in den Kinos angelaufen. Aber wer war dieser Autor, der mit seinen Romanen und Erzählungen regelmäßig die Grenzpfade zwischen Realismus und Science-Fiction beschritten hat? In einem 2014 im Guardian veröffentlichten Essay, den wir dank freundlicher Unterstützung der Literaturzeitschrift Krachkultur hier veröffentlichen können, erinnert sich die preisgekrönte Autorin Zadie Smith an Ballard, an ihre Lektüre seiner Texte und vor allem an „Crash“ – ein Roman, der zusammen mit „Die Betoninsel“ (Concrete Island) und „Der Block“ (High Rise) eine lose Trilogie gegenwartskritischer, urbaner Dystopien bildet.
 

Einmal bin ich J. G. Ballard begegnet. Und zwar bei einem Auffahrunfall. Wir segelten mitten in der Nacht die Themse runter. Ich weiß gar nicht mehr, warum. Eine British-Council-Sache vielleicht. Ein Boot voller junger britischer Autoren, von denen viele betrunken waren. Einige hatten gerade angefangen, stapelweise diese schäbigen Tagungsraum-Stühle über Bord zu werfen. Ich war 23 und erst seit ein paar Monaten eine junge britische Autorin, und ich weiß noch, wie ich mir wegen der Stühle Sorgen machte. Unbotmäßiges Verhalten war nichts für mich. Ich war froh, überhaupt mit im Boot zu sitzen. (Das war übrigens kein Vergnügungsdampfer, eher ein schwimmendes Kettenhotel mit Möbeln aus einem alten Versandkatalog. Ein Ballard-Boot. Alles braun und grau mit ein bisschen von dem Orange aus der Londoner U-Bahn.) Ich schlich mich von den Stuhlwerfern weg und stand plötzlich direkt vor Ballard. Mondgesicht, glänzende Glatze, strähnige Haarvorhänge an beiden Seiten – er sah aus wie der Wiedergänger eines geschassten Priesters.

J. G. Ballard
J. G. Ballard (1929–2009)

Die nächsten zehn Minuten bestanden aus einem qualvollen Gespräch, bei dem wir offenbar irgendjemandem als Illustration für den englischen Ausdruck „cross purposes“ dienten – wir redeten völlig aneinander vorbei. Jedes Buch, das mir gefiel, hasste er. Keinen meiner Lieblingsfilme hatte er gesehen. (Zu den bildenden Künsten wagten wir uns erst gar nicht vor.) Unser einziger gemeinsamer Bezugspunkt war anscheinend King’s College, Cambridge, aber als ich ihn strahlend mit einer Liste der Bücher langweilte, die ich für meine Abschlussprüfung hatte lesen müssen, verdüsterte sich sein Mondgesicht verachtungsvoll. Irgendwann sagte er gar nichts mehr, lehnte sich an einer hohlen dorischen Säule an und starrte nur noch vor sich hin.

Ich war uninteressant. Das eigentliche Problem lag noch viel tiefer. James Graham Ballard war auf der Innenseite geboren worden, in eine koloniale Oberschicht hinein, in die Herzkammer der britischen Gesellschaft. Aber aus dieser engen Passform war er ausgebrochen, und er hatte so ziemlich als einziger Autor seiner Generation ein autonomes Hinterland gegründet, das mit dem Mutterland fast nichts zu tun hatte. Im Gegensatz dazu war ich irgendwo ganz weit draußen geboren worden und tat alles, um ins Zentrum vorzurücken. Meine Begegnung mit Ballard war also, genau wie meine Auseinandersetzung mit seinem Werk bis dahin, vor allem eine verpasste Gelegenheit – die berühmten Schiffe, die im Dunkeln aneinander vorbeifahren. Mir gefiel der Reich-der-Sonne-Ballard irgendwie, und ein paar Sci-fi-Geschichten hatte ich gern gelesen, aber mit den Romanen konnte ich nichts anfangen. Gerade Crash hatte mich immer ziemlich fertig gemacht, schon als Teenagerin, die in der Einflugschneise von Heathrow wohnte, und dann als junge Feministin an der Uni, die gegen den „Phallozentrismus“ zu Felde zog und sehr wenig Verständnis für einen Penis hatte, der sich in die Beinwunde einer behinderten Autofahrerin schiebt.

Wovor hatte ich so Angst? Naja, erst mal vor dieser West-Londoner Psychogeographie. Ich hatte in meiner Jugend ziemlich viel Zeit damit verbracht, durch den Londoner Westen zu laufen und über abweisende Betontreppen vierspurige Straßen zu überqueren und so zu Freunden zu gehen, in deren Häusern die Fenster oft schwarz von den Abgasen der A41 waren. Aber das kam mir damals alles völlig normal vor, wie es eben war, vielleicht sogar schön, deshalb schienen mir erst Ballards Beschreibungen die liebgewonnene Architektur meiner Kindheit zur Ungeheuerlichkeit werden zu lassen:

Da „lagen die Überführungen wie kopulierende Riesen übereinander, gewaltige Beine, die den Rücken eines anderen umklammert hielten.“ Und „[a]ls ich mir die stumme Landschaft näher betrachtete, wurde mir klar, daß die gesamte Zone, welche die Landschaft meines Herzens definierte, nun von einem künstlichen Horizont begrenzt wurde, der von den aufstrebenden Säulen und Gestaden der Schnellstraßen und deren Zufahrten und Überführungen gebildet wurde. Diese umgaben die Fahrzeuge unter mir wie ein mehrere Meilen durchmessender Krater.“

Ganz genau so sieht es auch wirklich in Neasden an der nördlichen Londoner Umgehungsstraße aus, aber trotzdem ist es ziemlich erschütternd, wenn man das, was einem lieb und teuer ist, mit einer so klinischen Präzision beschrieben sieht. („Romanschriftsteller sollten wie Wissenschaftler handeln, die einen Kadaver sezieren“, sagte Ballard mal.) Ballard hatte sich vorgenommen, das scheinbar Natürliche, das normal, vertraut und rational Wirkende auf seine Psychopathologie hin zu untersuchen. Viele haben schon gesagt, auch er selbst, dass sein Verfremdungstalent auch auf seine ungewöhnliche Biographie zurückgeht:

„Im Krieg habe ich mir angewöhnt, die Welt als Bühne zu sehen. Der bequeme Alltag mit Schulen, der eigenen Wohnung und dem ganzen Rest, das konnte alles von heute auf morgen vorbei sein.“

Mit 15 verließ er das darnieder liegende Schanghai, wo er den Krieg verbracht hatte, und ging nach England, um in Cambridge Medizin zu studieren. Aber er konnte England verständlicherweise lange nicht richtig ernst nehmen. Dadurch entstand eine Kluft zwischen ihm und seinen Kommilitonen, denn die nahmen England bierernst. Aber Skeptizismus allein würde Ballard noch nicht zu einem herausragenden Autor machen. Denken Sie jetzt mal an die berühmte Szene in David Lynchs Blue Velvet, wo die Kamera in den gepflegten Vorstadtrasen hineinschwenkt und das dystopische Gewimmel darunter einfängt. Ballard macht auch so etwas, aber er macht es seinem Publikum noch schwerer. Bei ihm ist die Dystopie nicht verborgen. Sie liegt auch nicht in der Zukunft, wie in vielen Filmen oder Romanen. Sie ist nicht der Subtext. Sie ist der Text. Dr. Helen Remington, die Überlebende eines Autounfalls, fragt sich, „wie die Leute es nach so etwas noch fertigbringen, ein Auto überhaupt nur anzusehen, geschweige denn, eines zu fahren.” Und trotzdem fährt sie weiter, wie wir alle, und wenn sie auf der Autobahn einen Unfall sieht, fährt sie etwas langsamer, damit sie genau hinsehen kann. Wie die Figuren in Crash sind wir motivierte Teilnehmer in der von Ballard so genannten „allgemein verbreitete[n] Katastophe, bei der jedes Jahr Hunderttausende Menschen getötet und Millionen verletzt werden“. Thanatos, der Todestrieb, ist keine geheime Schwäche von manchen Autofahrern; Autofahren ist Thanatos.

„Wir leben in einer von Fiktionen aller Art beherrschten Welt […]. Wir selbst leben in einem voluminösen Roman. […] Die Fiktion ist bereits vorhanden. Aufgabe des Schriftstellers ist es, die Realität zu erfinden.“ Die Welt als Text: Ballard macht als einer der ersten britischen Romanschriftsteller diese französische Theorie für sein Schreiben fruchtbar. Seine Romane wenden sich vor allem gegen die Welt der Werbung, in der immer alles gutgeht, als könnte es gar nicht anders sein. Die Werbung trichtert uns seit langem ein, dass beim Auto zwischen so unwahrscheinlichen Dingen wie Geschwindigkeit und Selbstbewusstsein oder Ledersitzen und Familienglück ein enger Zusammenhang besteht. Ballard hebt dagegen andere Zusammenhänge hervor, die wir lieber verdrängen oder vergessen wollen.

Diese perversen Zusammenhänge sind der Antrieb der Autos in Crash und von Dr. Robert Vaughan, Ballards berüchtigtester Figur. Dessen „seltsame Vision vom Automobil und seiner idealen Rolle in unserem Leben” steht mit Ballards eigener im Einklang. Wenn wir diese Zusammenhänge einmal erkannt haben, fallen sie uns immer auf, ob wir wollen oder nicht.

Beispielsweise besteht auch ein Zusammenhang zwischen unseren weichen Körpern und der Hardware das Armaturenbretts: „Das aggressive Styling des massengefertigten Cockpits und die übertriebenen Ausbuchtungen der Instrumente steigerten mein wachsendes Bewußtsein einer neuen Verbindung zwischen meinem Körper und dem Auto“. Es besteht ein Zusammenhang zwischen unserer Todesangst und unserer Sensationslust: „Die Lichter auf den Dächern der Polizeiautos drehten sich und zogen immer mehr und mehr Zuschauer zum Unfallort”. Und wie wir nun wissen, hängen auch Berühmtheit und Autounfälle eng miteinander zusammen:

„Sie saß wie ein Göttin in dem Unfallwagen, welcher zum Schrein wurde, der mit dem Blut einer unbedeutenden Opfergabe für sie geweiht worden war. Obwohl ich fast sechs Meter von ihr entfernt neben einem Tontechniker stand, schienen die unvergleichlichen und einzigartigen Konturen ihres Körpers das Auto zu verwandeln. Ihr linker Fuß stand auf dem Boden, sowohl die Türverankerung als auch das Armaturenbrett schienen sich von ihrem Knie wegzubeugen. Es war fast so, als hätte der ganze Wagen sich als Geste der Hommage um ihren Körper deformiert.“

Diese Vision einer fiktiven Elizabeth Taylor, geschrieben 25 Jahre vor dem Tod von Prinzessin Diana, ist zukunftsweisend wie so vieles in Ballards Science-Fiction. Woher wusste er so etwas? Woher wusste er, dass wir als Preis für unsere Anbetung von Promis und Schönheiten (mitsamt ihrer einzigartigen Körper und Persönlichkeiten) einmal nichts weniger als das blutige Opfer jener Angebeteten verlangen würden? Natürlich gab es Indizien: die Geschichte der geköpften Jayne Mansfield, Jimmy Dean mit seinem prophetischen Autokennzeichen („Too fast to live, too young to die“: zu schnell für dieses Leben, zu jung für den Tod), Grace Kellys von einem Baum durchbohrtes Auto. Nur Ballard erkannte, wie das alles zusammenhing. Wer einmal sah, schaut nicht mehr weg. Was sind Lindsay Lohans Verwarnungen wegen Trunkenheit am Steuer anderes als eine Art makabres Vorspiel?

Trotzdem ist man bei der ersten Ballard-Lektüre geschockt. Mich verstörte der Zusammenhang zwischen Sex und Motorisierung aus irgendeinem Grund, obwohl er in die Alltagssprache längst Eingang gefunden hat. Im Englischen spricht man von „sex on wheels“. Wir sehen jemanden ein Motorrad kaufen und sagen, er hat eine Midlife-Crisis. Wir sagen, mit einem dicken Auto will jemand von seinem kleinen Schwanz ablenken. Aber in der Literatur über unsere sexuellen Beziehungen mit Autos behalten wir natürlich die Kontrolle über alles. Wir entscheiden selbst, was wir im Auto machen. In Ballards Welt ist das nicht so:

„Was mir bei all diesen Affären auffiel, die sie mir ohne Verlegenheit beschrieb, war die Tatsache, daß sie alle in einem Automobil stattgefunden hatten. Alles hatte sich im Wageninnern abgespielt, entweder im Parkhaus beim Flughafen, nachts in der Wartungsbox ihrer Garage oder in Seitensträßchen der nördlichen Umgehung, als würde die Präsenz des Wagens allein ein Element aufrechterhalten, das dem Geschlechtsverkehr einen Sinn gab.“

1973 verurteilten viele geschockte Leser solche Passagen als verstiegene Pornografie. 30 Jahre später machte eine ganz ähnliche Szene in England Schlagzeilen und wurde sogar durch ein eigenes Wort geadelt: dogging. (Im Mittelpunkt des Skandals stand übrigens einer der bekanntesten Fernsehstars des Landes …)


Zadie Smith

Was einen an Crash so mitnimmt, ist nicht, dass Leute in oder in der Nähe von Autos Sex haben, sondern dass die Technologie bis in unsere intimsten menschlichen Beziehungen vordringt. Dass nicht mehr der Mensch die Technik entwirft, sondern die Technik den Menschen. Auch das deutete sich seit langem an, beispielsweise in Marinettis Futuristischem Manifest von 1909, das von dem modernen Wunsch spricht, die alten Götter und Mythen durch die eleganten Linien und die brutalen Lehren des Automobils zu ersetzen. Auch da gibt es einen orgasmischen Autounfall: „Als ich wie ein schmutziger, stinkender Lappen unter meinem auf dem Kopf stehenden Auto hervorkroch, fühlte ich die Freude wie ein glühendes Eisen erquickend mein Herz durchdringen.“

Aber Marinettis Text ist überdreht und bewusst absurd („Wir gingen zu den drei schnaufenden Bestien, um ihnen liebevoll ihre heißen Brüste zu streicheln. Ich streckte mich in meinem Wagen wie ein Leichnam in der Bahre aus, aber sogleich erwachte ich zu neuem Leben unter dem Steuerrad, das wie eine Guillotine meinen Magen bedrohte“), während Ballard nüchtern und sachlich schreibt. Der Blick des Arztes, leidenschaftslos, unnachgiebig:

„Er stützte sich auf den linken Ellbogen und fuhr fort, sich in der Hand des Mädchens zu reiben, als würde er an einem aus mehreren stilisierten Positionen bestehenden Tanz teilnehmen, die Modell und Elektronik, Geschwindigkeit und Richtung der näherkommenden Wagen zelebrieren sollten.”

Marinettis heißblütige Dichter und Künstler haben mit der Ikone des Rennwagens gerungen. Ballards Figuren begutachten ihre Autos distanziert. Das Eiskalte an Ballards Stil ist teilweise eine Folge davon, dass er das Machtverhältnis zwischen Mensch und Technologie umkehrt. Dadurch verlieren seine Figuren an Innerlichkeit und eigenverantwortlichen Handlungsspielräumen. Sie sehen genau so massenproduziert aus wie das, was sie machen oder kaufen. Seine Erzähler und seine verkrachten Erzähler scheren sich nicht um menschliche Befindlichkeiten:

„Vaughan hatte offensichtlich nur geringes Interesse an mir, ihn interessierte nicht das Verhalten eines vierzigjährigen Produzenten von Werbefilmen, sondern die Beziehungen zwischen einem anonymen Wesen und seinem Auto, die Stellungen seines Körpers auf den polierten Zelluloseflächen und Sitzpolstern, die Silhouette seines Gesichts vor den Armaturen.“

Es scheint fast, als betrachte der sadistische Stalker Vaughan die Menschen als lebende Versuchsobjekte für Wittgensteins Aufforderung: „Frage nicht nach der Bedeutung, sondern frage nach dem Gebrauch!” Ballard nannte Crash den ersten „pornographischen Roman über die Technologie“, und damit meinte er nicht nur bestimmte Inhalte, sondern die Pornographie als Organisationsprinzip. Nirgendwo sonst werden Menschen so deutlich auf ihren „Gebrauch“ hin untersucht. In Crash ist der Unterschied zwischen Menschen und Dingen verschwindend klein geworden. Dinge machen sogar von Dingen Gebrauch. (Und ein verrückter Stalker wie Vaughan verkörpert dabei eine ganz neue Erzählerperspektive.)

Man kann natürlich nicht bestreiten, dass einige erbärmliche Eigenschaften der Pornographie hier zum Vorschein kommen: Oberflächlichkeit, Wiederholungen, ein Mangel an Entwicklung. „Blut, Samen und Kühlerflüssigkeit“ fließen immer gleich seitenweise zusammen, und die Sexszenen kehren wieder wie ein Trauma. Die Oberflächlichkeit ist sicher kein Zufall. Ballard geht es um die Banalität unserer Psychopathologie:

„Auf der Fahrt zum Straßenverkehrslaboratorium hatte ich den Vorschlag gemacht, wir sollten zwischen den Reservoirs westlich vom Flughafen anhalten. Während der letzten Wochen hatte Helen Remington ihre Aufmerksamkeit von mir abgewendet, als gehörten der Unfall und ich zu einem vergangenen Leben, dessen Realität sie nicht mehr länger anerkennen konnte.“

Für mich ist das ein Ballard-Satz par excellence: Er zeigt eine Landschaft ohne Natur, in der Menschen nicht mehr miteinander im Gespräch sind, sondern nur noch massenproduzierte Gesten austauschen. (Reservoirs sind für Ballard, was Wolken für Wordsworth waren.) Natürlich löste nicht dieser Mangel an Innerlichkeit die wütende Debatte über die Moral des Buches (und später von David Cronenbergs Film) aus. Da ging es eher um das Penetrieren der Wunde einer behinderten Frau.

Ich studierte noch, als die Daily Mail gegen den Film zu Felde zog, und war auf beunruhigende Weise einer Meinung mit den Zensoren: Mein Möchtegern-Feminismus wies eine Schnittmenge mit deren selbstgerechter Empörung auf. Beide hatten wir Unrecht: Crash geht es gar nicht darum, Behinderte zu demütigen oder Frauen zu entwürdigen, und die Zeitungskampagne ist ein erschreckendes Zeugnis dafür, wie man linksliberale Identitätspolitik durch ein paar einfache Tricks so manipulieren kann, dass eine für das Gemeinwohl sprechende, ehrlich wütende Stimme darüber zum Schweigen gebracht wird. Niemand bestreitet, dass die Unbehinderten die Behinderten ausnutzen oder dass Männer Frauen ausnutzen. Aber Crash ist ein tiefgründiges Buch darüber, wie überhaupt jeder alles ausnutzt. Und wie alles jeden ausnutzt. Und trotzdem gibt es Hoffnung:

„Die Stille dauerte an. Hier und dort räkelte sich ein Fahrer hinter dem Lenkrad, wenn ihm im heißen Sonnenlicht unbehaglich wurde, und ich hatte das Gefühl, als wäre die Welt plötzlich stehengeblieben. Die Verletzungen meiner Knie und meiner Brust waren Fanale, verbunden mit einer ganzen Reihe von gekoppelten Transistoren, die mir selbst unbekannte Signale übermittelten, welche diese riesige Stasis aufheben und die Fahrer befreien und ihren wahren Zielen zuführen würden, den Paradiesen elektrischer Schnellstraßen.“

Immer mischen sich bei Ballard Zukunftsangst und Vorfreude, und es gibt einen Ort, an dem Dystopie und Utopie sich treffen. Denn irgendwie müssen wir doch zugeben, dass wir genau das bekommen haben, wovon wir immer geträumt haben. Unsere sehnlichsten Wünsche sind in Erfüllung gegangen. Die Träume sind wahr geworden – alle: weltumspannende Kommunikation ohne Verzögerung, Eintauchen in virtuelle Welten, Biotechnologie. Das war alles mal ein Traum. Ganz ruhig und sorgfältig und mit Blick auf viele enge Zusammenhänge macht Ballard uns klar, dass Träume oft pervers sind.

Aus dem Englischen von Christophe Fricker
 

Krachkultur 17Zadie Smith, geboren 1975 im Norden Londons, lebt heute in New York. Ihr erster Roman „Zähne zeigen“, 2001 erschienen, wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, von der Kritik gelobt und ein internationaler Bestseller. Der Roman „Von der Schönheit“, 2006 erschienen, war auf der Shortlist des Man Booker Prize 2005 und gewann 2006 den Orange Prize. 2014 erschien ihr vielgepriesener Roman „London NW“. Zuletzt erschienen auf Deutsch ihre Gelegenheitsessays „Sinneswechsel“ (Kiepenheuer & Witsch, 2015).

Der Essay „Sex and Wheels“ erschien erstmals im Juli 2014 in The Guardian. © 2014 Zadie Smith. © der deutschen Übersetzung: Krachkultur Verlag.

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Die Übersetzungen der Zitate in diesem Essay sind folgenden Ausgaben entnommen: J. G. Ballard, Crash. Übers. v. Joachim Körber, München: Goldmann, 1996; J. G. Ballard, Das große Herz der Frauen. Übers. v. Joachim Körber, München: Piper, 1993; J. G. Ballard, „Einige Anmerkungen zu Crash“. In: ders., Crash, übers. v. Joachim Körber, München: Goldmann, 1996. S. 4–12; Filippo Tomaso Marinetti, „Manifest des Futurismus“. In: Futurismus: Geschichte, Ästhetik, Dokumente, hg. v. Hansgeorg Schmidt-Bergmann, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1993. S. 75–80.

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