11. Januar 2016 3 Likes 1

Vom Vergessen

Was wir eigentlich meinen, wenn wir fragen, wann die Zukunft beginnt

Lesezeit: 4 min.

„Es war ein sonderbarer Morgen“, schreibt Stefan Zweig in seinem autobiographischen Buch „Die Welt von Gestern“. „Man trat stumm vom Radio zurück, das eine Botschaft in den Raum geworfen, die Jahrhunderte überdauern sollte, eine Botschaft, die bestimmt war, unsere Welt total zu verändern und das Leben jedes einzelnen von uns … Abermals war eine Zeit zu Ende, abermals begann eine neue Zeit.“ Es ist der Morgen des 3. Septembers 1939. Großbritannien, wo Zweig seit 1934 im Exil lebt, erklärt Deutschland – nach dessen Überfall auf Polen zwei Tage zuvor – den Krieg.

Eine neue Zeit … Zweigs Buch, seine 1941 in Brasilien verfassten Erinnerungen an das Europa vor den beiden Weltkriegen, ist mir während der Weihnachtstage beim Stöbern im Bücherregal in die Hände gefallen, und schon nach wenigen Sätzen hat es mich nicht mehr losgelassen – es schien mir die adäquate Lektüre nach einem hysterischen Jahr, in dem so vieles nach einer neuen Zeit geklungen hat: die europäische Währung vor dem Zusammenbruch, die dramatischen Flüchtlingsbewegungen, die Terroranschläge, das Ringen um einen Weltklimavertrag. Aber wann und wie beginnt eigentlich eine neue Zeit? Wann und wie beginnt eigentlich die Zukunft?

Die „Neue Zeit“ ist nicht nur die ästhetische und ideologische Obsession der Science-Fiction, sie ist die Grundlage fast jeden Räsonierens über die Zukunft: Irgendetwas geschieht, irgendetwas wird erfunden, irgendetwas kommt in Gang, das uns gleichsam in die Zukunft katapultiert, etwas, das den Übergang zwischen zwei wie auch immer gearteten Epochen markiert. Nicht alles ist neu in der neuen Zeit; seriöse Zukunftsforscher und -schriftsteller wissen, dass die Vergangenheit nie ganz verschwindet, dass wir große Teile davon mitnehmen auf unserem Weg in die Zukunft. Aber „neu“ ist dennoch das entscheidende Wort – das (technische, politische, gesellschaftliche) Neue ist der Fetisch einer Zivilisation, die sich im permanenten Aufbruch in die „Welt von Morgen“ sieht.

Nur sehr selten fällt dieses Neue, wie bei Stefan Zweig im September 1939, mit einem konkreten historischen Moment zusammen; und wenn es das tut, dann ist es fast immer nur im Nachhinein möglich, einen solchen Moment zu identifizieren. Lassen Sie das Jahr 2015 einmal Revue passieren: Welchen Moment haben Sie als eklatanten Bruch mit der Vergangenheit empfunden? Wann genau hatten Sie das Gefühl, dass etwas unwiederbringlich zu Ende geht und etwas Neues beginnt? Ich weiß, der Vergleich mit dem Ausbruch eines Weltkrieges klingt unangebracht, aber man muss kein Politikexperte sein, um zu erkennen, dass die Welt um uns herum in Bewegung ist, dass die Globalisierung nicht mehr nur eine ökonomische Tatsache ist und dass sich das im vergangenen Jahr in aller Deutlichkeit gezeigt hat. Das Leben auf dem Planeten Erde verändert sich gerade, und es verändert sich womöglich schneller, als wir uns das gedacht oder gewünscht haben, aber … eine „neue Zeit“?

Vielleicht – darüber denke ich seit der Lektüre von „Die Welt von Gestern“ immer wieder nach – hängen wir Science-Fiction-Menschen zu sehr an dem Wort „neu“, ja, vielleicht hängt unsere ganze Kultur zu sehr an Begriffen wie „Innovation“ oder „Paradigmenwechsel“, als dass wir in der Lage sind, eine neue Zeit zu denken. Denn ist es wirklich neu, wenn sich ein Wesen, dessen Gehirn seit Millionen von Jahren nach denselben Prinzipien funktioniert, eine Virtual-Reality-Brille aufsetzt? Ist es wirklich neu, wenn ein Krieg nicht mehr mit Armeen, sondern mit Kampfjets und Drohnen geführt wird? Mir scheint, das Neue ist nicht etwas, was geschieht oder erfunden wird oder in Gang kommt – das Neue ist einfach das, worin wir leben, wenn das Alte verschwindet. Die neue Zeit beginnt mit dem Vergessen.

Damit meine ich nicht das arbiträre kollektive Vergessen von Ereignissen (wir alle wissen über den Untergang der Titanic Bescheid, aber wer kann noch etwas mit der General Slocum anfangen?), auch nicht das politisch gewünschte Vergessen („Das Vergangene vergangen sein lassen“, wie Konrad Adenauer 1949 in einer Regierungserklärung sagte). Ich meine das tatsächliche Vergessen, das von keiner „Erinnerungskultur“, von keiner kulturellen oder kommunikativen Gedächtnisarbeit aufgefangen werden kann. In „Die Welt von Gestern“ erzählt Stefan Zweig von seiner Jugend im Wien der K.-u.-k.-Monarchie und seinen Reisen durch die ganze Welt zu Beginn des 20. Jahrhunderts, er erzählt von einem Leben, das vor gerade mal etwas mehr als hundert Jahren gelebt wurde – und nichts mehr mit unserem zu tun hat. Diese Zeit steht auf Papier, Denkmäler erinnern an sie, Historiker bereiten sie auf, aber die Menschen, die in dieser Zeit gelebt haben, sind nicht nur tot, sie sind uns so fern wie die Menschen des Osmanischen Reiches, wie die Menschen unzähliger vergangener Epochen. Wir wissen nicht mehr, wie es sich anfühlt, in einer Zeit zu leben, deren entscheidendes Merkmal die Beständigkeit war, in der Grenzen nicht Völker, sondern Länder trennten, in der man sich weniger ideologisch als ganz konkret auf dem Weg in eine bessere Welt wähnte … Diese Zeit wurde in zwei Weltkriegen zerstört und wird so nie wiederkommen – und das war es, was Stefan Zweig an jenem Tag im September 1939 begriffen hat: Er wusste nicht, was die neue Zeit bringen würde (außer Tod und Zerstörung, und daran ist wahrlich nichts neu), aber er wusste, dass an diesem Tag das Vergessen beginnen würde; dass etwas, was gerade noch die Vorbereitung auf eine mögliche Zukunft war, sich in ein Zeugnis der Vergangenheit verwandeln würde.

Die Frage ist also nicht, in welchem Moment im Jahr 2015 etwas wirklich Neues begonnen hat; mir würden einige solcher Momente einfallen, aber keiner davon sagt etwas über die „Welt von Morgen“ aus. Sondern die Frage ist, was wir im Jahr 2015 zu vergessen begonnen haben.

Die Frage ist, wann die „Welt von Morgen“ zur „Welt von Gestern“ wurde.
 

Sascha Mamczaks Buch „Die Zukunft – Eine Einführung“ ist im Shop erhältlich. Alle Kolumnen von Sascha Mamczak finden Sie hier.

 

Kommentare

Bild des Benutzers Sebastian Pirling

Dazu fällt mir die Anekdote eines jüdischen Einwanderers im New York der 1920er-Jahre ein. Im Einwandererbüro auf Ellis Island wird ein Mann, ein Jude aus Osteuropa, nach seinem Namen gefragt. Er antwortet auf Jiddisch: "Shoyn vargessen." Der Beamte trägt ein: "Sean Ferguson". Das Vergessen nimmt manchmal selbst in den Namen der Menschen Gestalt an ...

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