6. August 2019 1 Likes

Alligatoren, Pizzaboten und Zeppeline

In dem großartigen Roman „Miami Punk“ von Juan S. Guse verschwindet der Atlantik

Lesezeit: 4 min.

Was passiert, wenn sich aufgrund eines unerwarteten und vor allem unverständlichen Ereignisses die Wirtschaftslage der zweitgrößten Stadt Floridas massiv verringert? Welche Folgen ergeben sich daraus, wenn bizarre Erklärungsmodelle und wenig vertrauenserweckende Utopien überhandnehmen? Juan S. Guse hat aus dieser Prämisse in seinem Roman „Miami Punk“ ein faszinierendes Panorama voller schräger Ideen entwickelt, das vor allem eins aufzeigt: Wie gut in Krisenzeiten der soziale Zusammenhalt funktioniert – und zwar auch dann, wenn dies nicht zu erwarten wäre.

Vor der Küste von Miami Beach hat sich der Atlantik aus unbekannten Gründen um 500 Kilometer zurückgezogen. Als direkte Folge ist die Ökonomie um 70 Prozent abgesackt; zahlreiche Einwohner sind ohne Job, wollen sich dies aber nicht eingestehen und brechen trotzdem jeden Tag zu ihrer Arbeitsstätte auf. Andere vermuten hinter der neu entstandenen Wüste um die Stadt herum ein glücksverheißendes „Tal“, das sie illegal zu erreichen versuchen; dabei ist ihnen eine ominöse Gruppierung namens „Miami Punk“ behilflich. Die Polizei zeigt sich überfordert und lässt sich nicht nur von einem überdimensionierten Pizzabotendienst mit Informationen beliefern, sondern duldet auch Gruppierungen von Ringern, die sich um eine Alligatorenplage kümmern.

Bereits seit längerer Zeit findet ein teils alternativ, teils spirituell ausgerichteter „Kongress“ in Miami statt, der unterschiedliche Thesen zur Lage der Stadt und zum Umgang mit dem Phänomen des Ozeanrückgangs erörtert. Er tagt in einem riesigen Gebäudekomplex namens Rowdy Yates, der einst ein Prestigeobjekt der Stadt war, nun aber deutliche Zeichen von Verwahrlosung trägt. Dem Kongress gegenübergestellt ist die „Behörde 55“, die im Auftrag der Verwaltung erforscht, was es mit den Vorträgen und Versammlungen auf sich hat. Außerdem findet in Miami ein international besetzter Wettbewerb um das klassische Computerspiel „Counter Strike“ statt, das bewusst in einer veralteten Version gespielt wird.

Vor dieser Kulisse entwickelt Guse (Jg. 1989) eine Vielzahl an Figuren, die auf die unterschiedlichsten Weisen miteinander verbunden sind. Im Mittelpunkt des Buchs stehen die Programmiererin Robin, die an einem revolutionären neuen Computerspiel namens Das Elend der Welt arbeitet, und ihre Partnerin Daria, die Recherchen für die Behörde 55 nachgeht. Ein dritter Strang behandelt einen deutschen Informatiker aus Wuppertal, der zusammen mit seinem Team beim Spielen von „Counter Strike“ überraschende Entdeckungen macht. Doch dies sind nur die Hauptlinien des Romans, der mit sicherer Hand Einzelepisoden und Nebenstränge zu einem geschlossenen Ganzen anordnet.

Guse zeigt sich hierbei ausgesprochen genreaffin. Der 1989 geborene Autor, dessen erster Roman „Lärm und Wälder“ (2015) bereits als Science-Fiction klassifiziert werden konnte, bringt in „Miami Punk“ immer wieder Anspielungen auf mutmaßliche Lieblingslektüren unter; zu nennen wären etwa Frank Herberts „Dune“ (1965; dt. „Der Wüstenplanet“, im Shop), Neil Stephensons „Snow Crash“ (1992, im Shop) und – nicht wirklich überraschend – William Gibsons „Mona Lisa Overdrive“ (1988, im Shop). Die Liste lässt sich mit Philip K. Dick und Arno Schmidt, aber auch mit den Phantasten Julio Cortázar, H.P. Lovecraft und Bruno Schulz fortführen. Tatsächlich erinnert Guse formal im besten Sinne an Autoren wie Thomas Pynchon („Gravity’s Rainbow“, 1973; dt. „Die Enden der Parabel“) oder David Foster Wallace („Infinite Jest“, 1996; dt. „Unendlicher Spaß“), kommt aber entschieden leichtfüßiger daher. Sein qualitativ auf einer Höhe mit Dietmar Dath („Pulsarnacht“, 2012, im Shop), Christopher Ecker („Der Bahnhof von Plön“, 2016) und Georg Klein („Miakro“, 2018) anzusiedelnder Roman liest sich ausgesprochen unterhaltsam, obwohl typische Genresituationen konsequent vermieden werden. Vorhersehbar ist hier wenig, und auserklärt wird auch nichts. Viele Details bleiben – wie im wirklichen Leben – offen, was die Glaubwürdigkeit des Erzählten enorm verstärkt.

Ganz offensichtlich war Guse nämlich nicht daran gelegen, eine weitere deprimierend dystopische Zukunft zu entwerfen, sondern er setzt auf das mehr oder weniger reibungslos ablaufende Miteinander realistisch konzipierter Charaktere. Deren Erfahrungen und Nöte sind es dann auch, die den Roman prägen. Hierbei hat Guse seine Erfahrungen als Soziologe eingebracht – das im Buch wichtige Motiv der sinnentleerten Arbeit lässt sich etwa auf die Ausführungen von David Graeber („Bullshit Jobs“, 2018) zurückführen. Tatsächlich verfügt der Roman über einen erfreulich weitgefassten intellektuellen Hintergrund, der auch Autoren wie Hubert Fichte, Fernando Pessoa oder José Saramago umfasst.

Mit „Miami Punk“ kann man sich lange und ausgesprochen beglückend beschäftigen. Der Roman erinnert er an ein vielschichtiges Gesellschaftspanorama, das unaufgeregt entwickelt wird und gerade dadurch eine große Anziehungskraft entwickelt. Das Ergebnis ist nichts weniger als ein Meilenstein in der deutschsprachigen Science Fiction und hat das Zeug zum Kultbuch – immer vorausgesetzt, dass es sein Publikum findet.

 

Juan S. Guse: Miami Punk • Roman • S. Fischer Verlag • € 26 • E-Book • € 22,99

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