In Ursula Poznanskis „Cryptos“ ist der Tod (k)eine Illusion
Von Schein und Sein virtueller Welten
Hügelige Landschaft, friedliche Schäfchen, sanfter Wellengang, verlassene Burgruine: Kerrybrook ist ein idyllisches irisches Dorf. Doch Kerrybrook ist nicht real. Das Dörfchen ist das Werk der 17-jährigen Weltendesignerin Jana Pasco. Ihre Schöpfung ist virtuell, ihre Bewohner nur die Avatare lebender Personen. Als in Kerrybrook ein Mord geschieht, beginnt Jana zu ermitteln – und muss hinter den Schein blicken.
Die österreichische Bestsellerautorin Ursula Poznanski befasst sich in ihren SF-Thrillern regelmäßig mit aktuellen technischen Entwicklungen – und ist damit oft sehr nah am Puls der Zeit. Ob Computerspiele, Datenbrille, Drohne oder nun die virtuelle Realität: Ihre Geschichten sind weniger der erhobene Zeigefinger, als viel mehr spannende Auseinandersetzungen mit den Möglichkeiten der Technik. Das macht auch den großen Reiz ihrer All-Age-Thriller aus, die sich zudem durch ihre Pageturnerqualitäten auszeichnen. Wenn knapp 450 Seiten wie im Flug vergehen, hat die Autorin eben alles richtig gemacht.
„Cryptos“ bildet da keine Ausnahme. Doch der neue Roman unterscheidet sich deutlich von Poznanskis letzten Werken. Anders als etwa „Thalamus“ und „Erebos 2“ spielt „Cryptos“ nicht in der Gegenwart, sondern in einer nicht allzu fernen dystopisch-anmutenden Zukunft. Denn die Auswirkungen des Klimawandels haben die Erde und ihre Bewohner geprägt. Die Menschheit hat die Erde buchstäblich gegen die Wand gefahren. Einziger Ausweg: virtuelle Realitäten, die die Ernährung der „Spieler“ vereinfachen und bei dem die Menschen vor dem Elend vor der Haustür nur wenig mitbekommen. Wer im London des 17. Jahrhunderts weilt, dem Müßiggang in Jane Austens Romanen frönt, oder Dinosaurier in der Kreidezeit beobachtet, stellt zudem keine Fragen an die mächtige Elite, die Nahrungsmittel, Wasser und Welten kontrolliert. Brot und Spiele hat eben schon im alten Rom funktioniert. Poznanskis Weltenbau überzeugt dabei auf ganzer Linie und sorgt für das ein oder andere beklemmende Gefühl beim Lesen. Was wäre, wenn unsere Zukunft genauso aussähe?
Keine Sorge, „Cryptos“ ist weit davon entfernt, in Kulturpessimismus zu verfallen. Im Gegenteil: Poznanski zeigt auch auf, welche Chancen die Technik bietet, wenn sie Schul- und Schulungswelten erwähnt oder beschreibt, wie Wissenschaftler in einer Forschungswelt das Umkehren des Klimawandels simulieren könnten. Und jetzt mal Hand aufs Herz: Welcher Phantastik-Fan kann schon der Vorstellung widerstehen, eine Welt zu besuchen, die von Crichton, Stoker, Verne oder Wells inspiriert ist?
Neben dem Zukunftssetting gibt es in „Cryptos“ noch einen weiteren Unterschied zu Poznanskis vorherigen Romanen: Die Wahl des Helden. Denn mit Jana gibt es zum ersten Mal seit drei Jahren wieder eine jugendliche Heldin, die von der Autorin auf ein Abenteuer geschickt wird. Dabei muss Jana Rätsel lösen, Vertraute finden und sich damit abfinden, dass sie in der Realität sterben könnte, sollte sie in einer der Welten das Zeitliche segnen. Somit ist der Tod keine Illusion, der die Bewohner normalerweise aus der digitalen in die analoge Welt führt.
Ein besonderer Höhepunkt des Romans ist Janas Flucht von einer Welt in die andere. Hier kann Poznanski ihrer Kreativität freien Lauf lassen und eine Vielzahl unterschiedlichster Räume entwerfen. Von Fantasywelten über Kriegsschauplätze, Gefängnisse, Spiegelwelten bis hin zur Urzeit reicht die Bandbreite an Realitäten, die Jana durchqueren muss. Erst dann trifft sie auf diejenigen, die ihre Fragen beantworten können. Eines sei jetzt schon verraten: Der Blick hinter die Fassade wird noch mehr Abgründe enthüllen, als die Autorin sie im Verlauf des Romans andeutet. Dass Jana dadurch einem Plan auf die Schliche kommt, bei dem die Mörder bereit sind, über mehr als nur eine Leiche zu gehen, ist das Tüpfelchen auf dem I – und sorgt noch für einen überraschenden Plottwist zum Ende hin.
Mit „Cryptos“ legt Ursula Poznanski einen packend erzählten SF-Thriller vor, der mit dystopischen Motiven und Genreklassikern spielt. Dabei stellt sie ihren Leserinnen und Lesern auch die Frage, in welcher Welt wir leben möchten – und macht deutlich, dass unser aller Zukunft davon abhängt, ob wir den Klimawandel stoppen können oder nicht. Ausgeklügelter Weltenbau, rasante Erzählweise, Parallelen zur Wirklichkeit und eine sympathische Heldin, machen ihr neuestes Werk wirklich lesenswert – und zu einem großen Lesevergnügen.
Ursula Poznanski: Cryptos • Loewe, Bindlach, 2020 • 448 Seiten • 19,95 € • Empfohlen ab 14 Jahren • Erhältlich seit dem 12. August 2020
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