Wirtschaftliche Menschenzucht
Ein Klassiker: Oskar Panizzas „Die Menschenfabrik“
Zwei Bücher machen noch keine Reihe. Doch die bisherige Auswahl ist erstklassig. Nach E. M. Forsters „Die Maschine steht still“ hat Hoffmann und Campe die nächste feine phantastische Erzählung im handlichen Format veröffentlicht. Dieses Mal von einem Deutschen: Oskar Panizzas „Die Menschenfabrik“ aus dem Jahr 1890.
Panizzas Leben böte genug Stoff für einen Roman. Geboren 1853 wuchs er in einem streng christlich geprägten Elternhaus auf. Er schaffte nur auf Umwegen den Schulabschluss, arbeitete als Arzt in einer Nervenheilanstalt in München und begann schließlich eine Karriere als atheistischer und später auch anarchistischer Schriftsteller. Inspiriert von Autoren wie Edgar Allan Poe und E. T. A. Hoffmann verfasste er realistische, satirische, groteske, phantastische Literatur. Panizza kam mehrmals mit der wilhelminischen Obrigkeit und der katholischen Kirche in Konflikt und lebte zeitweise im schweizerischen und französischen Exil. Verurteilt wurde er schließlich wegen seiner ‚blasphemischen‘ Satire „Das Liebeskonzil“. Depressionen, Halluzinationen und Verfolgungswahn prägten die Zeit nach seiner Haftentlassung. 1904 gelang es ihm, sich selbst einweisen zu lassen. Ein Jahr später wurde er entmündigt und lebte bis zu seinem Tod 1921 in einer Nervenheilanstalt. Im Dritten Reich wurden seine Werke zum Teil von den Nationalsozialisten für ihre Zwecke vereinnahmt. Erst in den 1960er und 1980er Jahre wurden seine Werke neu entdeckt und analysiert.
„Die Menschenfabrik“ ist Teil des Erzählbandes „Dämmerungsstücke“. Der namenlose Ich-Erzähler verirrt sich beim Wandern und sucht Zuflucht im nächstbesten Gebäude. Die Tore der Fabrik öffnen sich, und ein freundlicher, kleiner Mann erklärt dem Besucher, worum es sich handelt: eine Menschenfabrik. Es folgt eine Führung durch das düstere Werk, bei der der Erzähler versucht, die ungeheuerliche Existenz des Unternehmens zu begreifen.
In „Die Menschenfabrik“ vermischen sich phantastische Motive mit Zeitkritik. Religion, Philosophie und Kapitalismus sind die zentralen Themen in dieser kurzen Erzählung. Der Direktor der „Menschenfabrik“ formt und backt seine Menschen aus Lehm, so wie einst Gott Adam und Eva in der Genesis. Diese so geschaffenen ‚Golems‘ sind zur Unterhaltung da und imitieren bestimmte Verhaltensweisen der Menschen. Ihnen mangelt es aber an Eigenschaften, die den Menschen zum Menschen machen. Und so führt der Erzähler auch Philosophen wie Hegel und Herbart an, um den Direktor von seinem Fehlverhalten zu überzeugen. Dabei möchte der doch nur Geld verdienen und von dem vermeintlichen Konkurrenten Hegel nichts hören.
Panizzas Erzählung sind seine Vorbilder durchaus anzumerken. Bemerkenswert ist aber, wie er durch seine Motivwahl die Klassiker des Genres vorweg nimmt: den Horror aus Gustav Meyrinks „Der Golem“, die industrielle Fertigung von ‚Menschen‘ aus Karel Čapeks „R. U. R.“, und die Optimierung dieser neuen ‚Menschen‘ wie sie auch in Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“ geschieht. Dabei wird auch die Frage aufgeworfen, ob es sich bei den ‚Menschen‘ aus der Menschenfabrik um einen evolutionären Schritt oder ein Beispiel für Degeneration handelt. Damit greift Panizza ein weiteres brisantes Thema seiner Zeit auf. Auch stilistisch überzeugt seine Kurzgeschichte. Sie ist durch und durch modern. Mal ergeht sich der Erzähler in ellenlangen Kommentaren, ein anderes Mal spielt der Autor wieder mit der Interpunktion. So entsteht ein realistisches Bild dieser Fabrik, die allem widerspricht, für das ein gottesfürchtiger Mensch des ausklingenden 19. Jahrhunderts steht.
Bei all der Historizität sollte eines nicht unerwähnt bleiben: Panizzas Geschichte wirkt heute aktueller denn je. In unserer auf Gewinnmaximierung getrimmten Welt ist die Erschaffung künstlichen (Menschen-)Lebens theoretisch längst möglich. Nur die von Panizzas Protagonisten schmerzhaft vermisste Moral und die Erinnerungen an die Geschichte des 20. Jahrhunderts bewahren uns noch vor einem huxley‘schen Szenario. Humanoide Roboter auf unseren Straßen dürften dennoch nur eine Frage der Zeit sein. Und selbst für Panizzas gelungene, aberwitzige Pointe ließe sich das ein oder andere Äquivalent im Hier und Jetzt finden.
Oskar Panizzas „Die Menschenfabrik“ vereint all das, wofür sein Werk steht: Sie ist eine realistische, satirische, groteske, ganz und gar phantastische Geschichte. Obwohl sie thematisch ein Kind ihrer Zeit ist, wirkt sie nicht zuletzt aufgrund von Panizzas Schreibstil so modern und aktuell. Dieses kleine, feine Büchlein macht sich perfekt neben den großen des Genres und regt auch heute, knapp 130 Jahre nach seiner Ersterscheinung zum Nachdenken an.
Oskar Panizza: Die Menschenfabrik • Mit einem Vorwort von Joachim Bessing • Hoffmann und Campe, Hamburg, 2019 • 64 Seiten • 14,00 €
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