13. Mai 2016

Der aerodynamische Junge

„Ikarus“ von Moebius und Jiro Taniguchi

Lesezeit: 3 min.

Der französische Comic-Gott Jean Giraud alias Moebius (1938–2012) veränderte mit seinen konzeptionellen Grenzerweiterungen und seinem minimalistischen Strich den Comic, den Film und letztlich die gesamte Kunst – und prägte die weltweite Ästhetik der Science-Fiction durch seine revolutionären Panel-Werke zwischen „Arzach“ und „Der Incal“ genauso wie durch seine Designs für Streifen wie „Dune“, „Alien“, „Tron“ und „Das fünfte Element“ (dass er sich trotz eines entsprechenden Angebots aus Zeitgründen gegen eine Mitarbeit an Ridley Scotts Philip K. Dick-Verfilmung „Blade Runner“ entschieden hatte, das vorzüglich zu ihm gepasst hätte, bereute er stets).

Anfang der 90er war Moebius wie besessen von „Ikarus“ alias „Icaro“. Zusammen mit dem Szeneristen Jean Annestay ersann er eigenen Aussagen zufolge fast 10.000 Seiten an Handlung für den Comic über den Jungen Icaro, der von Geburt an fliegen kann und dessen Dasein und Entwicklung komplett vom unmenschlichen, aggressiven Staatsapparat gesteuert wird. Der wiederum hat mit als minderwertig erachteten Powerklonen zu kämpfen, die sich in die Luft sprengen und Menschen mit in den Tod reißen – Icaro wäre die perfekte Waffe für diesen Konflikt. Das Comic-Projekt um den fliegenden Jungen, das Moebius zufolge fünfzehn Bände ergeben hätte, boten die Franzosen japanischen Manga-Verlagen an, und schließlich wurde Jiro Taniguchi dazu auserkoren, „Ikarus“ ab 1997 für eines der vielen Manga-Magazine in Tokio umzusetzen.

Taniguchi, der stark von Moebius und anderen frankobelgischen Größen beeinflusst wurde und diese früher regelrecht kopierte, gilt heute als westlichster aller Mangaka und wird vom Feuilleton für seine komplentativen Comics wie „Vertraute Fremde“ oder „Der spazierende Mann“ verehrt. Damals realisierte er die eher schlichte, simple Science-Fiction-Story von Moebius und verpasste ihr vom Storytelling her einen typischen Manga-Flow. Allerdings inszenierte Taniguchi lediglich den Anfang der Geschichte über den jungen Mutanten, die Wissenschaftler in seinem Gefängnis, seine einzige empathische Bezugsperson und die eiskalten Politiker im Hintergrund, wobei der 1947 geborene Taniguchi die Story komplett umarbeitete. Natürlich liegt sie immer noch irgendwo zwischen „X-Men“ und „Akira“, und auch in der Taniguchi-Fassung gibt es in Ansätzen noch die psychoanalytischen, erotischen und sexuellen Elemente, auf die Moebius beim rauschartigen Konzeptionieren der Geschichte seines aerodynamischen Menschen großen Wert gelegt hatte und später noch ausführlicher eingehen wollte. Doch Taniguchi hat alles klar dem japanischen Markt angepasst und dann in seinem ebenso klaren, immer sehenswerten Strich zu Papier gebracht, in dem er eigentlich alles zeichnen kann, ob Bergsteiger-Epos, Natur-Spaziergang, Kunst-Hommage, Action-Tribut oder Kampfsport-Drama.

Geholfen haben die großen Namen, das Engagement in West und Ost sowie die Anpassungen am Ende nichts – „Ikarus“ war beim originalen, serialisierten Erscheinen in „Weekly Morning“ nicht allzu beliebt bei der japanischen Leserschaft, und die Verantwortlichen vor Ort dürften verständlicherweise auch einigermaßen protektiv gewesen sein, was ‚invasorisches’ Comic-Material anbelangte, wie Moebius einmal selbst sagte. „Ikarus“ hob also nie richtig ab und wurde niemals die ambitionierte Saga, das Moebius im Kopf und vor Augen hatte. Es blieb beim recht offen endenden, ersten Kapitel einer größer angelegten Geschichte. Trotzdem erschienen später eine Alben-Ausgabe in Japan sowie diverse Sammelband-Editionen für den amerikanischen und den europäischen Markt.

Der Hamburger Verlag Schreiber & Leser, der zusammen mit Carlsen Taniguchis Schaffen seit Jahren verlässlich importiert und obendrein genug Moebius-Titel auf der Backlist stehen hat, brachte „Ikarus“ jetzt erstmals auf Deutsch heraus. Sehr schön ist sie geworden, diese Erstausgabe: Ein üppiges Hardcover im A4-Format, das in der originalen Leserichtung von rechts nach links bzw. von hinten nach vorne gelesen werden muss und mit einer farbigen Eröffnungssequenz beginnt, ehe es in den gewohnten Graustufen weitergeht. Schon witzig, dass mit „Ikarus“ und „Die Wächter des Louvre“ jetzt in recht kurzer Zeit zwei Taniguchis im ungewöhnlichen Großformat und als Hardcover veröffentlicht wurden. Den Anhang bildet ein von zahlreichen Taniguchi-Skizzen begleitetes Interview, das Numa Sadoul („Das große Moebius-Buch“) 2003 mit dem Meister führte.

So wird der Band für sich genommen eine recht runde Sache und ein nettes, kurioses Stück für die Sammlung, selbst wenn die einfache SF-Geschichte nicht mehr als ein großes Versprechen darstellt, das nie eingelöst wurde. Aber stellt man „Ikarus“ jetzt zu den anderen Taniguchis in den Schrank, oder in den Moebius-Schrein im Regal …?

Abb. © 2000 Jean Giraud Moebius and Jiro Taniguchi / 2016 Verlag Schreiber & Leser

Moebius & Jiro Taniguchi: Ikarus • Schreiber & Leser, Hamburg 2016  • 312 Seiten • Hardcover: 24,95 Euro

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