21. November 2022

„1899“ – Wider das Shyamalan-Syndrom

Die neue Serie der „Dark“-Schöpfer ist eine Mischung aus Matrix, Lost und Platos Höhlengleichnis

Lesezeit: 3 min.

Mit „Dark“ gelang dem Duo Baran bo Odar und Jantje Friese einer der größten Erfolge der deutschen Film- und Fernsehgeschichte, was zwei Konsequenzen hatte: Zum einen bekam das Duo für den Nachfolger „1899“ das höchste Budget in die Hand, dass je eine deutsche Serie hatte, zum anderen stiegen die Erwartungen ins Unermessliche, man könnte auch sagen, ins Unerfüllbare. Wie sollte man einen globalen Erfolg wie das durch diverse Zeitebenen springende, metaphysische Puzzlespiel „Dark“ auch toppen? Noch mehr Rätselhaftigkeit, noch mehr wunderliche Figuren, noch mehr 80er Jahre Referenzen?

Zumindest die ersten Folgen der ersten Staffel von „1899“ beginnen nun deutlich zurückhaltender, ja geradezu bedächtig. Schauplatz ist das Schiff Kerberos, das sich auf einer Transatlantikfahrt nach New York befindet. Eine bunte Mischung europäischer Nationalitäten finden sich an Bord, sowohl in der ersten Klasse, wo feudal gespeist wird, als auch in der Holzklasse, wo in Stockbetten auf engstem Raum genächtigt wird, man kennt das von der Titanic. Ein Funkspruch des seit Monaten verschollenen Schwesternschiffs Prometheus sorgt für eine Kursänderung, die bei den Passagieren gar nicht gut ankommt. Denn wie in regelmäßig eingestreuten Rückblenden deutlich wird, haben alle Passagiere aus den unterschiedlichsten Gründen ein großes Verlangen, Europa hinter sich zu lassen: Sei es der Pole Olek, der Däne Krester, der Spanier Ángel, die Französin Clémence oder die Engländerin Maura. Allein der deutsche Kapitän Eyk ist erpicht, der Prometheus zu Hilfe zu kommen, doch an deren Bord findet sich fast keine Menschenseele. Statt dessen ein Spiegelbild der Kerberos, nur im Zustand fortgeschrittenen Verfalls.

Nach und nach offenbart sich das Mysterium, dass bo Odar und Friese allerdings für origineller halten, als es am Ende ist. Schon dass als Titelmusik eine Version von „White Rabbit“ zu hören ist und eine sehr wichtige Tür die Binärzahl 1011 als Nummer trägt, macht die Verwandtschaft zur „Matrix“ überdeutlich. Die Rückblenden, die einem Traum bzw. Alptraum ähneln, erinnern wiederum an Aspekte von „Lost“, ein Vergleich, der sich auch durch den eingeschränkten Schauplatz aufdrängt.

Zum Ende der ersten Staffel erhöht sich zwar die Schlagzahl, entfaltet „1899“ auch visuelle Qualitäten, dennoch lässt sich das Gefühl nie abstreifen, hier kaum mehr als einem Prolog zuzusehen. Wie schon „Dark“ soll auch „1899“ über drei Staffeln laufen, ob es dazu kommt wird von den Klickzahlen bei Netflix abhängen. Für diese erste Staffel bedeutet das Rechnen mit zwei weiteren Staffeln allerdings, dass das Staffelfinale kein wirkliches Finale darstellt, sondern kaum mehr als einen Zwischenschritt.

Und ein weiteres Problem hält „1899“ davon ab, so ungewöhnlich und originell zu werden wie der Vorgänger: Neben vielem anderen war „Dark“ eine durch und durch deutsche Serie, in der Leben und Ängste der Kleinstadt Winden als Spiegel deutscher Befindlichkeiten (vor allem) der 80er Jahre gezeigt wurden. Gerade dieses verhaftet bleiben im Lokalen, dann aber ins große, universell Metaphysische gleiten, machte die Qualität aus. „1899“ dagegen ist ein europäisches Sprachengewirr ohne wirkliche Identität. Dass jede Figur vor allem ihre eigene Sprache spricht hat dramaturgisch keine Funktion, zumal im Zweifelsfall auf das Englische als Universalsprache zurückgegriffen wird.

Schlecht oder gar langweilig ist „1899“ nun allerdings in keiner Weise, viel zu souverän bedienen bo Odar und Friese die Lust an Mysterien und Spannungsmomenten, lassen es auf der Tonspur wie bekannt düster metallisch dröhnen und machen am Ende das wohl beste aus den nicht zu erfüllenden Erwartungen: Sie ziehen einfach ihr Ding durch und bieten ein weiteres Puzzlespiel an. Und das ist trotz aller Schwächen interessant genug, dass man gespannt ist, was das Duo für die folgenden Staffeln in petto hat.

„1899“ • D 2022 • Creator: Baran bo Odar und Jantje Friese • Darsteller: Emily Beecham, Aneurin Barnard, Andreas Pietschmann • 8 Folgen, jetzt auf Netflix

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