17. September 2022 2 Likes

„Cyberpunk: Edgerunners“: Cyberpsychos & Herz

Netflix' und CD Projekt REDs Animationsserie der Spitzenklasse

Lesezeit: 4 min.

Frenetisch, tiefgehend, ausgezeichnete Charakterarbeit und fantastisch überzogene Action – Studio Trigger, Netflix und Videospielentwickler CD Projekt RED zeigen, was die Cyberpunk-Welt aus Mike Pondsmiths Feder besonders macht mit einer der besten Animationsarbeiten des Jahres.

1988 erschien das von Mike Pondsmith ersonnene Pen-&-Paper-Rollenspiel „Cyberpunk 2022“, was seinerzeit auf dem Roman „Neuromancer“ von William Gibson beruhte, welches letztlich 2020 dem polnischen Game-Entwickler CD Projekt RED als Basis für sein Videogame Cyberpunk 2077 diente. CDPR bauen die Marke jedoch weiter aus, mit etlichen Projekten, wie einer kürzlich angekündigten Erweiterung zu „Cyberpunk 2077“, die den Namen „Phantom Liberty“ tragen wird, und dem seit dem 13. September 2022 exklusiv auf Netflix gestreamten Anime „Cyberpunk: Edgerunners“. Als Animationsstudio zeichnen sich die Veteranen vom Kultstudio Trigger verantwortlich, das sich aus ehemaligen japanischen Animateuren des Studio Gainax („Neon Genesis Evangelion“) zusammensetzt und sich mit Hits wie „Kill la Kill“ und „Darling in the Franxx“ brüsten kann. „Edgerunners“ wartet mit dem gewohnten Adrenalin treibenden Stil auf, den man von Studio Trigger gewöhnt ist, lässt sich neben wiederkehrenden Gewaltspitzen und äußert viel Flucherei aber auch ordentlich Zeit für Charakterentwicklung.

David Martinez, ein äußerst impulsives Streetkid der korrupten, neondurchfluteten Straßen Night Citys, fristet sein mittelloses Leben an der angesehenen Arasaka Academy, die er und seine Mutter sich eigentlich gar nicht leisten können und wo er häufig in Ärger verwickelt wird. Bei einem Drive-By-Shooting wird Davids Mutter jedoch schwer verletzt. Bei der Suche nach Möglichkeiten, die Krankenhausrechnungen zu begleichen, entdeckt er in den Unterlagen seiner Mutter, dass sie ein kybernetisches Militär-Implantat höchster Ordnung gestohlen hat. Durch die Verschlimmerung diverser Umstände lässt sich David das Implantat selbst einpflanzen und will sich an seinen niederträchtigen Klassenkameraden rächen. Mit dem Implantat, Sandevistan genannt, kann David die Zeit beinahe zum Stillstand bringen, während er sich selbst jedoch frei und blitzschnell bewegen kann. Solche kybernetischen Implantate nutzen aber nicht nur die Nervenenden der Nutzer ab, sondern haben auf Dauer äußerst schädliche bis tödliche Nebenwirkungen auf die Psyche. Und zu allem Übel tauchen dann bei David auch noch die Leute auf, die ursprünglich für das Sandevistan bezahlt haben. Und David beschließt, ein Hightech-Gangster zu werden, ein sogenannter Edgerunner und Cyberpunk …

Während „Cyberpunk: Edgerunners“ zwar durch die überzogene over-the-top Action, mit viel roten Körpersäften und Kraftausdrücken aus der gewöhnlichen Menge der Animationsserien hervortritt, besticht es aber zunächst unscheinbar durch die fantastische Charakterarbeit mit den Figuren um David und seinen Edgerunnern Lucy, Maine und Co, die in den äußerst kurzweiligen zehn Episoden zu einer Familie zusammenwachsen und dann wieder vom äußerst kompromisslosen Leben in der dystopischen Cyberpunk-Welt eingeholt werden. Zu den Highlights gehören besonders die Folgen 4 und 6, die in den kurzen 24 Minuten sehr viel erreichen und den Plot und die Figuren in jeweils völlig ungeahnte Richtungen träumerisch und zugleich gewaltsam katapultieren, ohne dabei an Glaubhaftigkeit zu verlieren. Am Ende der zehnten Episode blickt man gar schwelgend melancholisch zurück zu den Anfängen,und wundert sich, wie sehr sich die Figuren in so kurzer Zeit entwickelt haben. Dabei ist gerade nochmals Episode 4 zu erwähnen, die mit etlichen kleinen Szenen und gar sekündlich schwindenden Bildern und Sequenzen enormen Zusammenhalt und Veränderung vermittelt. Daraus resultiert auch der spätere Schmerz, den man bei jedem unerwarteten Schicksalsschlag verspürt, mit dem Night City aufwartet. Von solchem Character-Writing und sinnvoller Nutzung von Zeit könnte sich gerade Netflix öfter ein Beispiel nehmen.

Zu der Animation sei gesagt, dass ein besonders gerngesehenes Merkmal die minimalistische Nutzung von 3D-Elementen ist, die zurzeit besonders japanische Animation plagt, während sich in „Edgerunners“ die Nutzung auf einen Kleinstteil im Hintergrund beschränkt, der auch noch unglaublich gut kaschiert ist. Die zentrale Action, die Fahrzeuge, die geballte Waffenpower und auch die kleinen Charaktermomente stammen stets aus gezeichneter Arbeit, die vor Seele sprüht. Und für die musikalische Untermalung, die alles befeuert, holte sich Studio Trigger Kult-Virtuoso Akira Yamaoka („Silent Hill“) ins Boot, dessen Palette von plätscherndem Synthpop bis zu brachial technischem Metal reicht, und für die richtige Stimmung in jeder Sequenz sorgt.

Mit „Cyberpunk: Edgerunners“ baut nicht nur Netflix auf dem Erfolg grandioser, erwachsener Animationsserien wie dem mehrfach Emmy-ausgezeichneten „Arcane“ auf, auch CD Projekt RED läutet eine neue Ära für „Cyberpunk 2077“ ein. Man muss nichts über „Cyberpunk 2077“ wissen, um „Edgerunners“ in vollsten Zügen genießen zu können. Und wer sich unvoreingenommen an die Serie wagt, wird mit einem der besten Animes der letzten Jahre belohnt. Egal ob Gamer, Anime-Fan oder bloßer Konsument guter Unterhaltung.

Cyberpunk: Edgerunners • Polen, Japan, USA 2022 • Stoffentwicklung: Rafal Jaki • 10 Episoden auf Netflix

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