15. August 2024

„Gagarin – Einmal schwerelos und zurück“: Zum Wegschweben schön

Science-Fiction in der Hochhaussiedlung

Lesezeit: 3 min.

Gagarin – Einmal schwerelos und zurück“ ist ein Film, der mehr Dopamin freisetzt als 50.000 Likes auf Instagram, dabei dreht sich die Geschichte um das Schwinden einer real gewordenen Utopie, doch der Film von Fanny Liatard und Jérémy Trouilh, der beschämenderweise bereits im September 2020 Premiere feierte, wirft zwar einen wehmütigen Blick zurück, blickt aber ebenso mit Zuversicht nach vorne.

Gagarin ist der Name einer 2019 abgerissenen Hochhaussiedlung in einer Pariser Vorstadt, die benannt wurde nach dem sowjetischen Kosmonauten Juri Gagarin, der sich am 12. April 1961 in einer Stahlkugel mit einem Bullauge als erster Mensch mit einer Rakete in eine Erdumlaufbahn schießen ließ. 106 Minuten umrundete sein Raumschiff die Erde, bevor er nach geglücktem Wiedereintritt in die Erdatmosphäre an einem Fallschirm im Wolga-Gebiet landet. Die Pariser Stadtväter holten den Weltraumreisenden daraufhin nach Paris, um eine neue, moderne, vor allem für Arbeiter gedachte Wohnsiedlung einzuweihen. Gagarin wurde zu einem bunten, pulsierenden Mikrokosmos, geprägt von Gemeinschaftsgefühl, von Zusammenhalt.

Doch Jahrzehnte später ist die Siedlung baufällig geworden und soll abgerissen werden, was dazu führt, dass die Bewohner allmählich ausziehen. Der 16-jährigen Juri (beeindruckende Vorstellung von Newcomer Alséni Bathily, der seine Figur offen und sympathisch, aber immer auch ein klein wenig rätselhaft anlegt), benannt nach dem russischen Kosmonauten, lebt in der Siedlung bei seiner Mutter, die aber immer öfter wochenlang zu ihrem neuen Liebhaber verschwindet. Der Junge will sich mit dem Gedanken nicht anfreunden, dass es seine geliebte Heimat bald nicht mehr geben soll. Obwohl nicht alles perfekt ist, hängt er an dieser Form des Zusammenlebens und hat sich selbst zum Hausmeister ernannt, der sich emsig um die Instandhaltung bemüht, um Gagarin noch irgendwie zu retten. Unterstützt wird er dabei von seinem Freund Houssam, weitere Hilfe kommt vom Romni-Mädchen Diana. Doch vergebens. Als die Räumung offiziell startet, verschanzt sich Juri im siebten Stock und baut sich eine Raumkapsel …

„Gagarin – Einmal schwerelos und zurück“ bewegt sich irgendwo zwischen Milieu-Studie, Liebesgeschichte und magischen Realismus, der Soundtrack pendelt analog dazu zwischen sphärischen und geerdeten Klängen. Das aus einem Kurzfilm hervorgegangene Spielfilm-Debüt beschreibt anfangs den Mikrokosmos Gagarin als einen wunderbar authentisch und lebendig wirkenden Schmelztiegel unterschiedlichster Ethnien und Charaktere, zeigt deren Hilfsbereitschaft und gemeinsame Aktivitäten ohne dabei in Sozialromantik zu versinken, suhlt sich aber eben auch nicht in Armutsklischees.

Der Kitt, der diese Menschen zusammenhält, ist jederzeit spürbar, die Wohnsiedlung ist im Kern die Manifestation einer Utopie, die unter die Räder einer letztendlich regressiven Moderne gerät. Natürlich ist Gagarin für Juri ein gewisser Ausgleich für desolate Familienverhältnisse, die Siedlung gibt ihm Halt. Er scheint sich aber ebenso bewusst zu sein oder zumindest zu spüren, das mit der Zersprengung dieser Gemeinschaft generell mehr für jeden Einzelnen verloren gehen, als in einem neuen Leben hinzugewonnen wird, Lofts in der Großstadt, wie von seinem Kumpel vorgeschlagen, die Menschen nun mal auseinander- und nicht zusammenbringen.

Dementsprechend ist die Siedlung nicht nur Kulisse, sondern Protagonist, von dessen Vergangenheit man mittels alter Originalaufnahmen immer wieder erfährt und der mit tiefer Faszination und einer höchst einfallsreichen Bildsprache mit Verneigung vor „2001 – Odysee im Weltraum“ (1968) als eine Art losgelöst in der Zeit stehende Festung inszeniert wird, die die Welt draußen hält.

Mit zunehmender Laufzeit verschwinden die anderen Menschen aus der Handlung, die zusehends surrealer wird, und das Geschehen fokussiert sich auf Yuri, Diana und die nicht wirklich störende, aber im Grunde verzichtbare Figur des Drogendealers Dali. Es kommt zu einer amüsant-süßen Annäherung zwischen Juri und Anna und „Gagarin – Einmal schwerelos und zurück“ kulminiert in eine berührende Lobpreisung auf die Kraft der Fantasie, die bezeichnenderweise einem 16-jährigen innewohnt – was wiederum die Frage aufwirft, wieso eigentlich immer noch so viel Alte an der Macht sind.

Gagarin – Einmal schwerelos und zurück • Frankreich 2020 • Regie: Fanny Liatard, Jérémy Trouilh • Darsteller: Alséni Bathily, Lyna Khoudri, Jamil McCraven, Finnegan Oldfield, Farida Rahouadj, Denis Lavant • ab dem 15. August 2024 im Kino

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