3. Januar 2020

Band of Brothers in Trumps Amerika

Die komplette Staffel „Life is Strange 2“ im Test

Lesezeit: 7 min.

Als sich Square Enix dazu entschloss, das vom französischen Entwicklerstudio Dontnod produzierte Episoden-Abenteuer Life is Strange 2015 auf den Markt zu bringen, standen zunächst einige Fragezeichen im Raum. Zwar trumpften die übernatürlich angehauchten Erlebnisse von High-School-Girlie Max und ihrer besten Freundin Chloe mit grandiosem Indie-Rock-Soundtrack, pittoresker, wenn auch grob konturierter Grafik und dezentem Retroambiente auf, doch selbst in Zeiten häufig eher gameplayarmer Adventures und des allgemeinen Siegeszugs serieller Erzählformen, erschien ein anhaltender Hype um eine damals völlig neue Marke dennoch eher unrealistisch. Doch die fünf Episoden trafen ähnlich wie etwa Stranger Things im Serienbereich einen Nerv, der Life is Strange rückblickend vom Geheimtipp zum echten Meilenstein für das Genre avancieren ließ, den eine bis heute begeisterte Fangemeinde mit Artworks und weiteren Reminiszenzen bis heute in Ehren hält.

Nach einer Prequel-Fortsetzung namens Before the Storm, in der man statt Heldin Max das Vorgeschehen zu den buchstäblich stürmischen Ereignissen rund um Zeitmanipulationen im Küstenstädtchen Arcadia Bay aus der Sicht von Chloe durchleben durfte, standen Entwickler wie Publisher vor einer schweren Wahl. Sollten sie wirklich ihr bestehendes Figureninventar trotz Prequel und epischer Schicksalswahl am Ende von Teil 1 einfach weiterführen oder sich einer neuen Herausforderung zuwenden, um das Erbe ihres Hits nicht in dessen erzählerisch herausragender Substanz zu gefährden? Bekanntermaßen fiel die Entscheidung zugunsten einer nur lose im gleichen Universum angedockten Fortsetzung (erhältlich für PS4, Xbox One und PC), die sich weiterhin an der seriellen Grundstruktur und der zwischen düsterer Melancholie und träumerischer Hoffnung tänzelnden Stimmung der beiden Vorgängerstaffeln orientierte.

Um die Community auf das Neuland sanft einzuschwören, stellte Dontnod dem zweiten Teil eine Zusatzepisode unter dem Titel The Awesome Adventures of Captain Spirit (hier unser damaliger Review) voran, in der die eigentlichen Neuprotagonisten immerhin schon einen Kurzauftritt verbuchen und weitere Nebenfiguren wie der verspielte Superhelden-Nerd Chris ihr Debüt feiern konnten. Sicher kein schlechter Schachzug war dabei, dass die Macher bewiesen, sich auch beim fast ausschließlich auf Dialoge spezialisierten Gameplay treu geblieben zu sein und dem Spielfluss keine unnötigen Features aufgezwungen zu haben. Im Anschluss an Captain Spirit lernten wir dann vor gut über 1 ½ Jahren tatsächlich die beiden US-Latino-Brüder Sean und Daniel Diaz richtig kennen, deren Schicksal das Rückgrat der seit letztem Dezember mit Folge 5 abgeschlossenen zweiten Life is Strange-Hauptstaffel bildet.

Zusammen mit ihrem alleinerziehenden Vater Esteban wohnen der 16-jährige Sean und der wesentlich jüngere Daniel ohne jeden Kontakt zu ihrer Mutter in Seattle im Norden der USA. Während Seans Alltag von seinem Zeichentalent, der Schule, dem Abhängen mit seiner besten Freunden Lyla und seinem Faible für Mitschülerin Jenn geprägt ist, interessiert sich Daniel ganz altersgemäß für Spielzeug und Superheldenfiguren. Das gute Verhältnis zu Esteban, der den beiden als Automechaniker ein solides Mittelstandsleben sichert, wird nur von gewöhnlichen Spannungen zwischen Vätern und Söhnen temporär getrübt.

Das ändert sich allerdings schlagartig, als bei einem tragischen wie banalen Zwischenfall ein übereifriger Polizist Esteban erschießt und Daniel dabei plötzlich telekinetische Kräfte entfesselt, die wiederum den Cop das Leben kosten. Von Panik erfasst und besorgt um seinen Bruder, entscheidet Sean kurzerhand, gemeinsam mit Daniel zu türmen und in Mexiko eine neue Existenz für beide Brüder aufzubauen. Die Behörden heften sich natürlich an ihre Fersen und fahnden nach den fast mittellosen Jungs auf ihrer Reise quer durch die USA.

Anders als Max in Teil 1, deren Zeitmanipulationsfähigkeit auch für Spieler aktiv zur Verfügung stand, sind wir in der Rolle von Sean darauf beschränkt, Daniels durchaus kraftvolle Telekinese passiv mitzuerleben. Immerhin können wir ihm aber mittels brüderlicher Autorität anleiten, seine Power gezielt zu benutzen und so in mancher Schwierigkeit ebenfalls heikle Entscheidungen für ihn zu treffen. Ein Figurenwechsel findet über die gesamte Staffel nicht statt und es ist unsere Aufgabe als großer Bruder, für Daniel zu sorgen und ihm ein bestmögliches Vorbild zu sein. Auf der Flucht zwingen uns viele Begegnungen mit teils dramatischen Folgen dazu, uns zwischen bestimmten Herangehensweisen zu entscheiden, die unser Verhältnis zu Daniel gestalten. Bestehlen wir etwa an einer Tankstelle aus Hunger andere Menschen und denken nur an uns? Respektieren wir in einem Park Tiere und die Natur? Oder belügen wir unseren Bruder und hilfreiche Fremde, um sie oder uns selbst vor potenziell unschönen Folgen zu schützen?

Wie für Life is Strange üblich, amalgamieren unsere einzelnen, nicht immer klar in ihrer unmittelbaren Konsequenz einsichtigen Entscheidungen zu einer Grundrichtung im Verhältnis der Charaktere, die am Ende auch zu einem von mehreren Endings führt. Während das Erzähltempo gerade in Gefahrensituationen eine schnelle Wahl provoziert, lassen uns ruhige Momente Zeit zum Überlegen, ob wir unseren Mitmenschen aggressiv, misstrauisch oder offen und mitfühlend begegnen.

Spielerisch hat Teil 2 dabei letztlich sogar weniger als die Abenteuer von Max und Chloe zu bieten. Unsere Aktionen mit Sean beschränken sich komplett darauf, die stets leicht überschaubaren Settings wie Häuser, Zeltlager oder Flussufer nach Gegenständen abzusuchen, die sich anklicken lassen um mehr über Charaktere und Situationen zu erfahren. Rätsel oder kleinere Geschicklichkeitstest, die bei Auftreten ohnehin völlig belanglos daherkommen, sucht man während des Ganzen mit der Lupe. Kurzum: Wer kein Fan der Vorgänger oder der Telltale-Adventures ist, kommt hier definitiv kaum bis gar nicht auf seine Kosten.

Dann und wann eröffnet sich uns die Möglichkeit, mit Sean einzelne Panoramen oder Ausschnitte zu zeichnen, obgleich wir dazu paradoxerweise nur die Richtungspfeiler des Gamepads wahllos hin und her drücken müssen, um im Handumdrehen ein perfektes Artwork in unser Notizbuch zu zaubern – man möchte feststellen: eine sehr strange Designidee. Tatsächlich besteht das Gameplay im Kern darin, für sich selbst zu bestimmen, ob man sich die liebvollen Details der Settings nach und nach „erklickt“ und so tiefer in die Gefühlswelt der Charaktere eintaucht oder sich möglichst schnell damit begnügt, die meist offensichtlichen Plotpoints für das Weiterkommen anzusteuern und so allerdings viel Atmosphäre einzubüßen.

Ein echter Vorteil im Vergleich zu den Vorgängern liegt hingegen in der Abwechslung der Handlungsorte, die uns – passend zur Fluchtthematik – neben den Wäldern um Seattle u.a. in die Wüste Nevadas oder an die Grenze zu Mexiko verschlagen. Jede Episode ist verknüpft mit einem neuen Setting und frischen Charakteren, wobei es den Machern besonders gut gelungen ist, gleich mehrere brisante und sogar konkret politische Motive in die Handlung einzuweben. Als Latinos sind die Brüder mehrfach mit handfestem Rassismus konfrontiert, der gerade an der von Donald Trump geforderten Grenzmauer zu Mexiko einen von mehreren traurigen Höhepunkten findet. Wir begegnen immer wieder vermeintlichen Außenseitern einer Gesellschaft, in der Homophobie, Sexismus und Angst vor Migration allgegenwärtig sind und wir in Seans Haut mehrfach wirklich beklemmende Szenen zu überstehen haben. Davon könnten sich viele Spiele eine gehörige Scheibe abschneiden.

Nicht nur hier zeigt sich in aller Deutlichkeit, wie klasse das Autorenteam um die Kreativköpfe Michel Koch und Raoul Barbet an den Facetten ihrer Figuren arbeiten. Auch die Spannungen zwischen den altersmäßig nicht unbedingt harmonischen Brüdern, eine unerwartete Begegnung mit ihrer Mutter oder so manch weiterer Verlust rühren in ihrer Komplexität und Intensität stellenweise fast zu Tränen. Fast jeder Charakter ist irgendwie auf der Flucht und leidet glaubwürdig an der Suche nach selbstbestimmter Identität. Die Tatsache, dass die Dialoge stets mehrere grundverschiedene Richtungen erlauben – etwa ob wir unserer Mutter verzeihen oder nicht, dass sie uns vor Jahren im Stich gelassen hat – und diese Wahl im Folgenden vom Skript ernstgenommen wird, ist neben der wie schon in den Vorgängern ungemein mitreißenden Inszenierung die größte Qualität von Life is Strange 2.

Leider wohnt der Fluchtthematik aber ein wesentlicher Kritikpunkt der Handlungsführung inne; schließlich müssen wir manche gerade erst liebgewonnene Figuren (zu) schnell wieder verlassen und gerade die letzten beiden Episoden weisen einige merkwürdige Plotkonstruktionen auf. Dass Daniel etwa in Episode 4 als eigentlich vom FBI gesuchter Flüchtiger plötzlich ganz öffentlichkeitswirksam in einer kleinen Kirchengemeinde als mit Kräften gesegneter Messias präsentiert wird, markiert einen echten Bruch mit der eigentlich sensibel vorangetriebenen Story. Auch bei der ein oder anderen Endsequenz drängen sich mehr Fragen als Antworten auf und den bald allzu selbstverständlichen Umgang mit Daniels Fähigkeiten hätte man (gerade mit Blick auf Superhelden als Metaebene der gesamten Geschichte) geschickter lösen können.

Sich auf diese Aspekte zu sehr zu versteifen, würde Life is Strange 2 aber ebenso wenig gerecht werden wie z.B. Kritik an der aus technischer Sicht höchstens durchschnittlichen Performance bei den insgesamt schwachen Gesichtsanimationen. Souverän agierende Sprecher, viele mitreißende (Musik-)Sequenzen und kleine Nebenerlebnisse wie das romantisch nächtliche Baden im Fluss mit einer neu gewonnenen Freundin oder unbeschwerte Würfelspiele mit Daniel am Kamin lassen uns dagegen so tief eintauchen in das Innenleben der Figuren, dass zu hoffen bleibt, es gäbe auch ohne Sean und Daniel weitere Fortsetzungen von Life is Strange. Allein schon den Mut aufzubringen, Rassismus derart offen wie stimmig in das Erzählte verpackt anzuprangern, verdient ebenso Respekt wie die vielen liebevollen Details, die der zurecht vielgepriesenen Retromagie rund um Teil 1 in den besten Momenten absolut ebenbürtig ist.

Alle Episoden von Staffel 2 sind nun nach Abschluss der Staffel digital oder als Retailversion (inklusive Captain Spirit-Episode und Soundtrack) für rund 40 Euro erhältlich.

Fazit

Starke Charaktere, viel Emotion und eine erneut bezaubernde Atmosphäre überzeugen. Holprigkeiten beim Plot und einige aufgesetzte Twists trüben da nur leicht ein insgesamt packendes Erlebnis.

Life is Strange 2 • Dontnod/Square Enix • Adventure • PS4/Xbox One/PC

Abb. © Dontnod/Square Enix

 

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