30. Dezember 2018 3 Likes

​​​​​​​Mit ihren Augen

Bestsellerautor Cixin Liu erzählt von einer nahezu unmöglichen Liebe

Lesezeit: 24 min.

Bislang ist Cixin Liu im Westen vor allem für seine international gefeierte Trisolaris-Trilogie bekannt. 2018 erschien der zweite Teil „Der dunkle Wald“ (im Shop), und auf seiner Lesereise durch Deutschland wurde der chinesische Autor wie ein Superstar gefeiert. Nur kaum bekannt ist allerdings Lius Kurzprosa – doch das wird sich hoffentlich bald ändern. Denn mit Cixin Liu: Die wandernde Erde„Die wandernde Erde“ (im Shop) ist nun die erste Sammlung von Erzählungen auf Deutsch erschienen. Und man darf sich sogar auf mehr freuen, denn die titelgebende Geschichte ist in China gerade groß verfilmt worden und kommt (zumindest dort) 2019 in die Kinos.

Zur Einstimmung veröffentlichen wir an dieser Stelle nun exklusiv eine Kurzgeschichte aus der Sammlung. „Mit ihren Augen“ ist einer der ersten Texte, mit denen Cixin Liu als Science-Fiction-Autor bekannt wurde. Sie wurde unter dem Titel 带上她的眼晴 (Daishang tade yanjing) Oktober 1999 veröffentlicht, und die französische Übersetzung wurde 2018 für den Prix Imaginaire nominiert. Liu erzählt darin von einer nahezu unmöglichen Liebesgeschichte und deutet eine Zukunftswelt an, die er in der Erzählung „Durch die Erde zum Mond“, die ebenfalls in dem Sammelband enthalten ist, meisterhaft fortführt.

„Mit ihren Augen“ wurde von Karin Betz übersetzt.
 

*
 

Cixin Liu

Mit ihren Augen

 

Zwei Monate ununterbrochener Arbeit hatten mich erledigt, daher bat ich meinen Vorgesetzten um zwei Tage Urlaub, um mich während eines Kurztrips auf andere Gedanken zu bringen. Der Direktor willigte unter der Bedingung ein, dass ich ein zusätzliches Paar Augen mitnahm. Ich stimmte zu, und er ging mit mir die Augen holen. Sie wurden in einem kleinen Raum am Ende des Korridors im Kontrollzentrum aufbewahrt. Es waren noch etwa ein Dutzend übrig.

Der Direktor reichte mir ein Augenpaar und zeigte auf den großen Bildschirm vor uns, um mir die Besitzerin der Augen vorzustellen. Ein junges Mädchen, anscheinend gerade frisch von der Uni, starrte mich ausdruckslos an. Ihr aufgeplusterter Raumanzug ließ sie noch kleiner wirken, als sie vermutlich war. Um ehrlich zu sein, sah sie ziemlich bedauernswert aus. Offensichtlich entsprach ihre erste Erfahrung des Weltraums ganz und gar nicht den romantischen Vorstellungen, die sie sich in der Universitätsbibliothek davon gemacht hatte. Die Wirklichkeit schien für sie in jeder Hinsicht die Hölle zu sein.

»Verzeihen Sie bitte die Umstände«, sagte sie an mich gewandt, während sie sich ständig verbeugte. Noch nie hatte ich eine so liebliche Stimme gehört. Ihre Worte wehten wie eine sanfte Brise aus dem Weltraum herüber und verwandelten die riesigen, groben Stahlkonstruktionen im Orbit in eine weiche, knetbare Masse.

»Aber nicht doch! Ich freue mich über die Gesellschaft. Wo möchten Sie denn hin?«

»Oh, Sie haben noch nicht entschieden, wo es hingeht?« Sie wirkte freudig überrascht. Zwei Dinge machten mich dabei sofort stutzig. Erstens existiert bei der Kommunikation zwischen Erde und Weltraum stets eine Verzögerung. Selbst Übertragungen vom Mond kommen erst zwei Sekunden später an, bei Kommunikationen mit dem Asteroidengürtel ist die zeitliche Verzögerung noch größer. Dennoch erreichten mich ihre Antworten ohne nennenswerten Zeitverlust, weshalb sie sich in einer erdnahen Umlaufbahn befinden musste. Von dort zurück zur Erde zu gelangen war weder kostspielig noch zeitaufwendig, sie brauchte nicht einmal umzusteigen. Warum sollte ich dann ihre Augen mit auf eine Urlaubsreise nehmen?

Das Zweite war ihr Raumanzug. Als ein auf Ausstattung spezialisierter Raumfahrtingenieur fielen mir daran einige Ungereimtheiten auf. Zum einen fehlte das Strahlungsabwehrsystem, zum anderen wies das Visier des Helms, der an ihrer Seite hing, keinerlei Blendschutz auf: Das gesamte Isolier- und Kühlsystem dieses Raumanzugs schien ungewöhnlich fortschrittlich.

»Wo ist sie denn stationiert?«, fragte ich, an den Direktor gewandt.

»Das tut nichts zur Sache«, antwortete er verdrießlich.

»Bitte nicht fragen, okay?«, sagte das Mädchen vom Monitor her. Sie sprach noch immer mit dieser herzzerreißenden Kinderstimme.

»Sie sind doch wohl nicht eingesperrt?«, sagte ich zum Spaß. Die Kabine auf dem Monitor wirkte extrem eng. Es musste sich um ein Cockpit handeln, denn um sie herum blinkten Schaltflächen von Navigationsgeräten. Allerdings konnte ich weder Fenster noch Kontrollmonitore erkennen. Allein der Stift, der neben ihr in der Luft schwebte, zeigte mir, dass sie sich im Weltraum befand.

Nicht nur sie, auch der Direktor zuckte bei meinen Worten merklich zusammen, daher fügte ich eilig hinzu: »Schon gut, ich möchte gar nichts wissen, was mich nichts angeht. Wohin sollen wir gehen? Sie dürfen es sich aussuchen.«

Die Entscheidung fiel ihr offenbar schwer. Ihre Hände, die in dicken Raumhandschuhen steckten, hatte sie vor der Brust verschränkt, und ihre Augen waren geschlossen, als ginge es um Leben und Tod oder als würde die Erde nach unserer kurzen Reise explodieren. Ich hätte beinahe losgelacht.

»Das ist wirklich nicht leicht für mich«, sagte sie dann. »Haben Sie Helen Kellers Buch Drei Tage sehend gelesen? Dann verstehen Sie, was ich meine.«

»Wir haben keine drei Tage, nur zwei. Die Menschen von heute haben eben ein erbärmliches Zeitgefühl. Trotzdem sind Sie viel besser dran als Helen Keller – ich kann Ihre Augen innerhalb von drei Stunden an jeden beliebigen Ort der Erde bringen.«

»Dann möchte ich dorthin, wo ich war, bevor wir aufgebrochen sind!« Sie nannte mir den Ort, und ich machte mich mit ihren Augen im Gepäck auf den Weg.
 

Taklamakan

Hier, zweitausend Kilometer entfernt von dem Raumfahrtzentrum, in dem ich arbeitete, trafen hohe Berge und weite Ebenen, Wiesen und Wälder aufeinander. Mit dem Ionosphären-Jet hatte ich fünfzehn Minuten für die Reise gebraucht.

Ich befand mich in der Taklamakan. Die Arbeit vieler Generationen hatte das Wüstengebiet in Grasland verwandelt, und ebenso viele Generationen strikter Geburtenkontrolle hatten das Gebiet wieder menschenleer werden lassen. Vor mir erstreckte sich die grüne Ebene bis zum Horizont, während hinter mir das von dichtem, dunkelgrünem Wald bedeckte Tianshan-Gebirge lag, dessen Berggipfel teilweise noch mit silbrigem Schnee bedeckt waren. Ich zog ihre Augen hervor und setzte sie auf.

Bei diesen sogenannten Augen handelte es sich um eine Multisensor-Brille, die beim Tragen alles, was man sieht, über Ultrahochfrequenzwellen zu einer anderen Person überträgt, die mit der gleichen Art Brille dieselben Bilder sieht wie der Träger selbst – genau so, als würde der Sender die Augen des Empfängers tragen.

Millionen von Menschen arbeiteten heutzutage das ganze Jahr über auf dem Mond oder im Asteroidengürtel. Die Kosten für einen Urlaub auf der Erde waren entsprechend astronomisch, weshalb das knausrige Weltraumbüro diese technische Spielerei hatte entwickeln lassen. Für jeden Astronauten im Weltraum gab es eine passende Brille auf der Erde. Wer das Glück hatte, echte Ferienreisen zu machen, zog eine dieser Brillen auf und ermöglichte so einem nostalgischen Weltraumarbeiter, in den Genuss dieser Ferienfreuden zu kommen.

Anfangs machten sich die Leute über dieses Spielzeug lustig, doch seitdem den Tragewilligen eine ansehnliche Unterstützung für den Urlaub gewährt wurde, nahm ihre Popularität stetig zu, zumal die künstlichen Augen durch die jeweils neueste Technik immer weiter verbessert wurden. Inzwischen übermittelten die Modelle durch die Aufzeichnung der Hirnfrequenzen sogar den Tast- und Geruchssinn des Trägers. Ein Paar Augen mit in den Urlaub zu nehmen war für Angestellte im Raumfahrtsektor auf der Erde zu einer Art Dienst an der Gesellschaft geworden, auch wenn es aus Gründen der Privatsphäre nicht jedermanns Sache war. Mir persönlich war es in diesem Fall egal.

Bei dem Anblick vor mir stieß ich einen tiefen Seufzer aus. Von ihren Augen her vernahm ich dagegen ein leises Schluchzen. »Seit ich diesen Ort verlassen habe, habe ich davon geträumt, ihn wiederzusehen. Heute wird mein Traum wahr!«, hörte ich ihre sanfte Stimme sagen, und ihre tiefen Atemzüge drangen deutlich an mein Ohr. »Als würde ich aus den Tiefen des Meeres auftauchen und zum ersten Mal nach Luft schnappen. Ich halte dieses Eingesperrtsein nicht aus.«

»Aber Sie sind doch alles andere als eingesperrt. Verglichen mit der Unendlichkeit des Weltraums ist dieses Grasland sehr beengt.«

Sie schwieg. Selbst ihr Atem war nicht mehr zu hören.

»Nun, natürlich ist man im Weltraum in gewisser Weise eingesperrt. Wie sagte doch gleich der Flugveteran Chuck Yeager über die ersten Astronauten im Weltall? Sie seien wie …«

»… Sardinen in einer Büchse«, beendete sie den Satz für mich.

Wir mussten beide lachen. Plötzlich rief sie erstaunt: »Blumen! Da sind Blumen! Die gab es beim letzten Mal noch nicht.«

Auf dem weiten Grasland blühte es tatsächlich überall. »Würden Sie sie sich bitte etwas näher ansehen?« Ich ging in die Hocke. »Oh, wie schön! Könnten Sie daran riechen? Nein, nicht pflücken!« Mir blieb nichts anderes übrig, als mich halb auf den Boden zu legen, um den schwachen Blütenduft zu erhaschen. »Ah, ich kann es riechen, das ist wie … wie wenn von fern eine Serenade erklingt!«

Ich schüttelte den Kopf und lachte. In diesem extrem schnelllebigen Zeitalter mit seiner ungezügelten Bedürfnisbefriedigung waren Frauen selten so sensibel, dass sie der Anblick von Blumen zu Tränen rührte.

»Sollen wir dieser Blume hier einen Namen geben? Hmm … das ist eine Sie. Wie wär’s mit ›Traumstern‹? Und diese hier, das ist ein Er. Nennen wir ihn ›Nieselregen‹, ja? Und dann die da drüben … danke, genau die, mit den zartblauen Blütenblättern. Ihr Name ist ›Mondschein‹.«

Auf diese Weise gingen wir von Blume zu Blume, betrachteten sie, rochen daran und gaben ihnen einen Namen. Die junge Frau ging völlig darin auf und vergaß darüber alles andere. Es schien, als könnte sie ewig so weitermachen. Mich dagegen langweilte dieses alberne Spiel recht bald. Wir hatten bestimmt schon hundert Blumen einen Namen gegeben, als ich darauf bestand aufzuhören.

Als ich aufsah, bemerkte ich, dass wir ein gutes Wegstück zurückgelegt hatten, also ging ich zurück, um meinen Rucksack zu holen. Ich bückte mich, um ihn aufzuheben, als ein erschrockener Schrei durch die Brille drang: »Oje, Sie haben Schneeflocke zertrampelt!« Ich richtete die kleine weiße Blume vorsichtig wieder auf und kam mir dabei absolut lächerlich vor. Ich zeigte mit beiden Händen auf ein Paar Blumen und fragte: »Wie heißen die hier? Wie sehen sie aus?«

»Links ist Kristall, sie ist weiß und hat drei Blätter am Stängel. Rechts davon ist Flamme, er ist pink und hat vier Blätter, die beiden oberen stehen allein, die unteren zusammen.«

Es stimmte. Irgendwie fand ich das rührend.

»Sehen Sie, wir kennen uns alle. In ferner Zukunft werde ich mich an jede einzelne davon genau erinnern und sie wie ein schönes Märchen aus dem Gedächtnis aufsagen. Ihre Welt ist einfach zu schön!«

»Meine Welt? Wenn Sie weiterhin so sentimentales Kindergeschwätz von sich geben, werden die Raumfahrtpsychologen Sie sehr schnell wieder nach Hause schicken. Dann wird dieser Planet auch bald wieder Ihre Welt sein.«

Ich strich ziellos durch die Wiesen. Bald kam ich an einen kleinen, im dichten Gestrüpp versteckten Bach. Ich drehte mich um und wollte in die andere Richtung weitergehen, doch ihre Stimme hielt mich zurück: »Ich möchte so gern die Hand in diesen kleinen Fluss tauchen.« Ich ging in die Hocke und hielt die Hand ins Wasser. Eine angenehm kühle Frische durchzog meinen Körper. Auch sie musste es spüren, schließlich trugen die Ultrafrequenzwellen meine Empfindungen über die Brille weit in den Weltraum hinaus. Wieder hörte ich ihren tiefen Seufzer.

»Ist es sehr heiß bei Ihnen?« Ich dachte an das enge Cockpit und die ungewöhnlich fortschrittliche Isolierung ihres Raumanzugs.

»Sehr. So heiß wie die Hölle. Hach, meine Güte, was ist das? Steppenwind?« Ich hatte gerade die Hand aus dem Wasser gezogen, als eine kleine Brise kühl über meinen feuchten Handrücken wehte. »Nein, nicht bewegen! Das ist ein himmlischer Wind!« Ich hielt beide Hände in den Wind, bis sie trocken waren. Auf ihre Bitte hin tauchte ich sie noch einmal ins Wasser und hielt sie anschließend wieder in die Luft. Ein himmlisches Gefühl, das wir miteinander teilten. Auf diese Weise vertrieben wir uns erneut eine Weile die Zeit.

Anschließend folgte ich wieder der Straße. Nachdem ich schweigend ein Stück gegangen war, wiederholte sie noch einmal sanft: »Ach, wie wunderbar ist doch Ihre Welt.«

»Ich weiß nicht. Mein graues Leben hat mich gegen all das hier abgestumpft«, erwiderte ich.

»Das kann nicht sein! Diese Welt bietet doch so viele Empfindungen und Wahrnehmungen! Sie alle zu beschreiben wäre wie der Versuch, sämtliche Regentropfen eines Gewitters zu zählen. Sehen Sie doch die silbrig weißen Wolken am Horizont! Für mich sehen sie massiv aus, wie Berge von glänzender Jade. Das Grasland darunter dagegen wirkt gasförmig, als habe das Gras beschlossen, davonzufliegen und ein Meer grüner Wolken zu bilden. Sehen Sie doch, wie die Wolken an der Sonne vorüberziehen und dabei Licht und Schatten ein majestätisches Wechselspiel auf der Ebene vollführen! Wie können Sie bei diesem Anblick nichts empfinden?«
 

Einen ganzen Tag lang durchstreifte ich mit ihren Augen das Grasland, hörte die Sehnsucht in ihrer Stimme beim Betrachten jeder einzelnen Blume, jedes Grashalms, jedes Sonnenstrahls, der über die Ebene tanzte, hörte sie beim Lauschen auf die verschiedenen Geräusche der Natur. Das plötzliche Auftauchen eines Flusses und die kleinen Fische darin ließen sie jubilieren, eine plötzliche Windböe, die den süßen Duft nach frischem Gras mit sich brachte, rührte sie zu Tränen. Mich dagegen ließen ihre allzu intensiven Empfindungen für diese Welt allmählich an ihrem Verstand zweifeln.

Kurz vor Sonnenuntergang machte ich mich zu der kleinen, einsamen weißen Hütte auf, die an diesem Ort für Touristen errichtet worden war. Anscheinend war lange Zeit niemand mehr hier gewesen, denn es gab außer mir nur einen dämlichen, altmodischen Androiden, der sich um die Hütte kümmerte. Ich war hungrig und müde, aber ich war noch nicht mit dem Abendessen fertig, als sie schon wieder vorschlug, nach draußen zu gehen und den Sonnenuntergang zu betrachten.

»Zuzusehen, wie der Abendhimmel langsam seinen Glanz einbüßt und sich die Nacht über den Wald legt, ist wie die zauberhafteste Sinfonie des Universums zu hören«, sagte sie verzückt. Widerwillig schleppte ich meine müden Füße noch einmal vor die Tür.

Der Sonnenuntergang auf dem Grasland war wirklich wunderschön, doch die Sturzflut der Gefühle, die er bei ihr auslöste, gab dem Ganzen eine außergewöhnliche Note.

»Sie haben wirklich viel Sinn für diese gewöhnlichen Dinge«, sagte ich zu ihr auf dem Weg zurück in die Hütte. Die Nacht war bereits hereingebrochen, und am Himmel leuchteten die Sterne.

»Sie denn nicht?«, fragte sie. »Erst das bedeutet doch zu leben.«

»Ich habe wie die Mehrheit der Leute keinen Sinn für so etwas. In der heutigen Zeit ist es zu einfach, alles zu bekommen, was man möchte, und damit meine ich nicht nur materielle Dinge. Man kann sich nach Belieben eine Umgebung mit blauem Himmel und klarem Wasser schaffen, die Ruhe des Land- oder Insellebens, alles ohne großen Aufwand, selbst die wahre Liebe. Früher trieb die Sehnsucht danach die Menschen noch zur Verzweiflung – heute kann man sie zumindest zeitweise als virtuelle Realität im Netz erleben.

Entsprechend weiß man heutzutage nichts mehr richtig zu schätzen. Haben sie eine Platte mit köstlichem Obst vor der Nase, nehmen die Leute von jedem nur einen Bissen und werfen den Rest achtlos weg.«

»Aber es gibt auch Menschen, die kein Obst vor der Nase haben«, sagte sie leise.

Ich spürte, dass ich sie verletzt hatte, aber ich verstand nicht, womit. Den Rest des Weges schwiegen wir.
 

In dieser Nacht erschien sie mir im Traum. Ich sah sie in ihrem Raumanzug, eingesperrt in jenem winzigen Cockpit, mit Tränen in den Augen. Sie streckte die Arme nach mir aus und rief: Bring mich nach draußen! Ich will nicht eingesperrt sein! Erschrocken wachte ich auf und stellte fest, dass sie mich tatsächlich rief. Ich sah an die Decke. Noch immer trug ich ihre Augen.

»Würden Sie mich bitte nach draußen bringen? Sehen wir uns den Mond an, er ist bestimmt schon aufgegangen.«

Mein Kopf war schwer und noch ganz benommen. Mürrisch kroch ich aus dem Bett. Draußen schien wie erwartet der Mond, dem die nächtlichen Nebelschwaden des Graslands einen rötlichen Schimmer gaben. Unter seinem Licht schlief das weite Land tief und fest, nur die winzigen Leuchtpunkte unzähliger Glühwürmchen tanzten auf den Wellen des düsteren Meers aus Gras wie die aufsteigenden Träume der Steppe.

Ich reckte und streckte mich und sagte gen Himmel: »Hallo! Können Sie vom Orbit aus sehen, wohin der Mond scheint? Wo ist Ihr Raumschiff stationiert? Vielleicht kann ich Sie sehen, wenn Sie mir die Koordinaten sagen. Ich bin sicher, Sie befinden sich im erdnahen Orbit.«

Anstatt mir zu antworten, summte sie eine Melodie. Nach ein paar Takten unterbrach sie sich: »Das war Clair de Lune von Debussy.« Sie summte weiter, völlig selbstvergessen, und auch meine Gegenwart schien sie nicht mehr wahrzunehmen. Die Melodie des Liedes fiel zusammen mit dem Mondlicht aus dem Weltraum auf das Grasland herab. Ich stellte mir die zierliche Frau dort oben vor, den silbrigen Mond über ihr und die blaue Erde unter ihr. Dazwischen trieb sie, stecknadelkopfgroß, und verwebte die Musik mit dem Mondlicht.

Als ich mich eine Stunde später wieder schlafen legte, summte sie immer noch. Ob es nach wie vor Debussy war, konnte ich nicht sagen, aber das war mir auch nicht wichtig, während die zarten Klänge meine Träume durchwehten.
 

Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen war, als die Musik wieder zu einem Rufen wurde. Wieder weckte sie mich und wollte vor die Tür gehen.

»Haben Sie noch nicht genug vom Mond gesehen?«, raunzte ich verärgert.

»Aber jetzt sieht er bestimmt anders aus. Haben Sie die Wolken im Westen gesehen? Inzwischen sind sie bestimmt herübergewandert, und der Mond blitzt immer wieder zwischen den Wolken auf. Ich möchte so gern sehen, wie Licht und Schatten auf der Steppe tanzen. Es sieht bestimmt wunderschön aus, wie Musik. Bitte tragen Sie meine Augen hinaus.«

Ich war stinksauer, tat ihr aber trotzdem den Gefallen. Tatsächlich waren einige Wolken herbeigeweht, zwischen denen der Mond immer wieder hervorstach. Auf der Steppe bildeten Licht und Schatten wechselnde Muster, als zeichnete die Erde lang gehegte Erinnerungen auf.

»Sie erinnern mich an die sentimentalen Dichter des achtzehnten Jahrhunderts. Bedauerlicherweise passen Sie nicht mehr in dieses Zeitalter, und noch weniger in die Rolle eines Astronauten«, sagte ich mit einem Blick zum Himmel. Ich nahm ihre Augen ab und hängte sie an den Zweig einer Sommertamariske neben mir. »Wenn Sie unbedingt den Mond betrachten wollen, bitte sehr, aber ohne mich. Ich gehe jetzt schlafen, schließlich muss ich morgen wieder zurück ins Raumfahrtzentrum, um mein unpoetisches Leben weiterzuleben.«

Von der Brille kam ihre sanfte Flüsterstimme, aber ich konnte sie nicht mehr verstehen. Wortlos ging ich zurück in die Hütte.
 

Als ich erwachte, war es bereits heller Tag. Dunkle Wolken bedeckten den Himmel, und das Grasland lag im dichten Nieselregen. Ihre Augen hingen noch an der Tamariske, doch auf dem Glas hatte sich Tau gebildet. Vorsichtig rieb ich sie trocken und setzte sie auf. Ich nahm an, sie würde tief und fest schlafen, nachdem sie die ganze Nacht den Mond betrachtet hatte, aber sofort hörte ich sie still vor sich hin wimmern. Sie tat mir leid.

»Verzeihen Sie mir bitte, ich war hundemüde gestern Nacht.«

»Nein, nein, es ist nicht Ihretwegen«, sagte sie schluchzend. »Um halb vier bedeckte sich der Himmel, und seit fünf Uhr regnet es …«

»Haben Sie denn gar nicht geschlafen?«

»Es hat geregnet, deshalb … deshalb konnte ich gar keinen Sonnenaufgang sehen«, stieß sie hervor. »Ich hatte mich so darauf gefreut, die Sonne über dem Grasland aufgehen zu sehen!«

Mein Herz schmolz dahin. Ihre Tränen flossen durch meine Gedanken. Ich sah ihre kleine Nase vor mir, wie sie beim Weinen zuckte, und meine eigenen Augen wurden feucht. Ich musste mir eingestehen, dass sie mich in den vergangenen vierundzwanzig Stunden etwas gelehrt hatte. Was genau, konnte ich nicht sagen – es war so rätselhaft wie die Schattenspiele des Mondlichts auf dem Grasland –, doch ich sah die Welt an diesem Tag mit anderen Augen.

»Die Sonne wird immer wieder über dem Grasland aufgehen. Ich werde noch einmal mit Ihren Augen wiederkommen, oder gleich mit Ihnen. Was meinen Sie?«

Ihr Wimmern verstummte. Plötzlich flüsterte sie: »Hören Sie!«

Ich lauschte angestrengt, konnte aber nichts hören.

»Das erste Vogelzwitschern am Morgen. Selbst im Regen singen die Vögel.« Sie sagte es mit einer so feierlichen Stimme, als lauschte sie den Glocken, die das Ende des Zeitalters einläuteten.
 

Sonnenuntergang Nummer Sechs

Nachdem ich in meinen grauen Alltag und meinen hektischen Job zurückgekehrt war, verblassten meine Erinnerungen an dieses Erlebnis recht schnell. Erst als ich einige Zeit später daran dachte, endlich die Kleider zu waschen, die ich auf jener Reise getragen hatte, entdeckte ich in den umgeschlagenen Enden meiner Hose ein Paar Grassamen. Mit einem Mal wurde mir klar, dass sich gemeinsam mit diesen Samen auch in den Tiefen meines Unterbewusstseins ein winziger Same eingenistet hatte, dessen Saat in der einsamen Wüste meiner Seele bereits aufgegangen war, wenn auch nur mit winzigen, kaum wahrnehmbaren Sprossen. Obwohl sich das alles in meinem Unterbewusstsein abspielte, fühlte ich jetzt, am Ende meines anstrengenden Arbeitstags, die zarte Poesie des Abendwindes auf meiner Haut und das Singen der Vögel.

Gegen Abend stellte ich mich auf die Fußgängerbrücke und beobachtete, wie sich die Dunkelheit über die Stadt legte. Die Welt schien in meinen Augen zwar noch immer grau, aber nun zuckten kleine, zartgrüne Flecken darin auf, deren Zahl immer weiter zunahm.

Als mir diese Veränderung bewusst wurde, erinnerte ich mich an sie. Immer wieder kam mir in meiner Freizeit und im Schlaf ihr Bild in den Sinn – das enge Cockpit, der seltsam isolierte Raumanzug –, aber später traten diese Dinge in den Hintergrund meines Bewusstseins. Nur eine Sache ragte aus der Leere heraus: der Stift, der schwerelos neben ihrem Kopf geschwebt hatte. Aus unerfindlichen Gründen sah ich, sobald ich die Augen schloss, diesen Stift vor mir.

Eines Tages betrat ich zu Beginn meines Arbeitstags wie üblich die große Eingangshalle des Raumfahrtzentrums, als mir ein Wandgemälde ins Auge fiel, an dem ich schon unzählige Male vorbeigekommen sein musste. Es zeigte den Blick vom Weltraum auf die Erde, die wie ein tiefblauer Juwel leuchtete. Wieder erschien der schwebende Stift vor meinem inneren Auge, doch nun war er Teil des Wandgemäldes. Wieder hörte ich ihre Stimme. Ich möchte nicht eingesperrt sein.

Wie ein Blitz durchzuckte mich die Erkenntnis: Es gab noch einen anderen Ort als den Weltraum, an dem Schwerelosigkeit herrschte!

Wie ein Irrer rannte ich zum Zimmer des Direktors und hämmerte an die Tür. Er war nicht da. Von einer Vorahnung geleitet eilte ich in jenen kleinen Raum, in dem die Augen aufbewahrt wurden, wo ich ihn fand, wie er auf den Monitor starrte. Das Bild zeigte die in ihren ungewöhnlichen Raumanzug gezwängte Frau, die sich nach wie vor in ihrem engen Cockpit befand. Das Bild war ganz offensichtlich eine Aufzeichnung, denn es war eingefroren.

»Sie sind ihretwegen hier, nicht wahr?«, sagte der Direktor, den Blick auf den Monitor gerichtet.

»Wo ist sie?« Ich schrie es fast.

»Das haben Sie vermutlich längst erraten. Sie ist die Kapitänin der Sonnenuntergang Nummer Sechs

Ich begriff, und mit dem Begreifen wurden meine Knie weich. Ich sank auf den Teppich.
 

Das Projekt »Sonnenuntergang« hatte ursprünglich den Start von zehn Schiffen vorgesehen, die den Namen Sonnenuntergang Nummer Eins bis Zehn trugen, doch nach der Havarie von Sonnenuntergang Nummer Sechs war das Projekt vorzeitig abgebrochen worden.

Es handelte sich um reguläre Forschungsmissionen, deren Ablauf sich nicht stark von Raumflügen unterschied – mit einem einzigen, aber wesentlichen Unterschied: Die Schiffe des Sonnenuntergangprojekts flogen nicht in den Weltraum. Sie waren dazu gedacht, in die Tiefen der Erde vorzustoßen.

Eineinhalb Jahrhunderte nach dem ersten Weltraumflug versuchte sich die Menschheit an der Erkundung in die entgegengesetzte Richtung. Die Sonnenuntergang-Serie war die erste Baureihe von Terraschiffen. Vier Jahre zuvor hatte ich den Start der Sonnenuntergang Nummer Eins vor dem Fernseher verfolgt. Es war mitten in der Nacht gewesen. Ein blendender Feuerball war im Herzen der Tiefebene von Turpan aufgegangen, so hell, dass die Wolken am Nachthimmel über der Provinz Xinjiang in herrlichen Sonnenuntergangsfarben geleuchtet hatten. Noch bevor der Feuerball erlosch, war Sonnenuntergang Nummer Eins bereits im Erdinneren verschwunden. Im Zentrum des Kreises rot glühender, verbrannter Erde wirbelte nun ein See von Magma, die weiß glühend brodelte und grell leuchtende Säulen in die Höhe schleuderte. Die Erschütterungen, die das Terraschiff beim Durchbohren der inneren Erdschichten verursachte, waren bis Ürümqi zu spüren.

Die ersten fünf Schiffe des Projekts »Sonnenuntergang« erfüllten ihre Mission erfolgreich und kehrten sicher an die Erdoberfläche zurück. Sonnenuntergang Nummer Fünf stellte den Rekord für die größte Tiefe auf, in die die Menschheit je vorgedrungen war: dreitausendeinhundert Kilometer.

Man ging nicht davon aus, dass Sonnenuntergang Nummer Sechs diesen Rekord brechen würde. Laut aktuellen geophysischen Studien lag die Grenze zwischen dem Erdmantel und dem Erdkern nämlich zwischen etwa dreitausendvierhundert und dreitausendfünfhundert Kilometern im Erdinneren, im Fachjargon auch als Wiechert-Gutenberg-Diskontinuität bezeichnet. Diese Grenze zu durchbrechen würde zunächst das Vordringen in den flüssigen, dann in den festen Eisen-Nickel-Kern der Erde bedeuten. Die Dichte der Umgebung stieg von dort aus exponentiell an und würde die Navigationsmöglichkeiten der Sonnenuntergang Nummer Sechs bei Weitem übersteigen.

Der Start von Sonnenuntergang Nummer Sechs verlief reibungslos. Das Schiff brauchte nur zwei Stunden, um die sogenannte Moho-Diskontinuität zu durchbohren, die Grenze zwischen Erdoberfläche und Erdmantel. Nachdem es einen fünfstündigen Zwischenhalt an der Grenze der beweglichen Platten der Lithosphäre eingelegt hatte, machte sich das Terraschiff auf die langsame Reise von mehr als dreitausend Kilometern durch den Erdmantel.

Raumfahrt mag eine einsame Angelegenheit sein, aber Astronauten können zumindest die endlosen Weiten des Universums und die Pracht der Sterne bewundern. Die Terranauten dagegen wurden auf ihrer Reise von nichts anderem als der immer stärkeren Dichte begleitet. Alles, was ihre Augen beim Blick in den holografischen Rückspiegel des Schiffs sahen, war der grelle Schein brodelnden Magmas im Nachstrom ihres Schiffes. Als sie tiefer ins Erdinnere vordrangen, floss das Magma hinter ihnen sofort wieder zusammen und verschloss damit den Weg, den sie durch die Erde gedrillt hatten.

Eine bekannte Terranautin erinnerte sich daran, dass sämtliche Besatzungsmitglieder, sobald sie die Augen schlossen, Visionen des heranrollenden Magmas hatten, das sich um sie legte und für immer einschloss. Ständig waren sie von dieser Vorstellung begleitet, die die Mannschaft an die unglaubliche Masse von Materie erinnerte, die einen zunehmenden Druck auf ihr Schiff ausübte. Dieses extrem klaustrophobische Gefühl ist für Menschen an der Erdoberfläche nur schwer nachvollziehbar, während es unter den Terranauten niemanden gab, der nicht davon heimgesucht wurde.

Sonnenuntergang Nummer Sechs meisterte die Forschungsaufträge ihrer Mission mit Bravour. Das Schiff navigierte mit etwa fünfzehn Stundenkilometern, wodurch sich eine Fahrtzeit von zwanzig Stunden bis zum Ziel ergab.

Nach fünfzehn Stunden und vierzig Minuten traf eine Warnmeldung ein. Das Radarsystem an der Erdoberfläche hatte eine ungewöhnliche Dichtezunahme in der Umgebung der Sonnenuntergang Nummer Sechs entdeckt, einen plötzlichen Anstieg von sechs Komma drei Gramm pro Kubikzentimeter auf neun Komma fünf Gramm pro Kubikzentimeter. Die Materie ihrer Umgebung bestand nun nicht mehr aus Silikaten, sondern einer Eisen-Nickel-Verbindung, die wider Erwarten flüssig statt fest war. Demnach war die Sonnenuntergang Nummer Sechs trotz der erreichten Tiefe von erst zweitausendfünfhundert Kilometern bereits in den Erdkern eingetreten.

Wie sich später herausstellte, war das Schiff zufälligerweise in einen Riss im Erdmantel geraten, der direkt zum Erdkern führte. Der Riss war mit einer stark Eisen-Nickel-haltigen Hochdruckflüssigkeit gefüllt. Durch diesen Riss war die Sonnenuntergang Nummer Sechs der Wiechert-Gutenberg-Diskontinuität auf ihrer Navigationsroute um tausend Kilometer näher gerückt. Die Besatzung leitete sofort ein Notfallprogramm zur Änderung der Route ein, doch der Fluchtversuch endete in einer Katastrophe.

Der neutronenbeschichtete Schiffsrumpf hielt dem plötzlich auf eintausendsechshundert Tonnen pro Quadratzentimeter angestiegenen Druck zwar stand, doch das Schiff bestand aus drei Teilen – einem Fusionsmotor an der Spitze, der Besatzungskabine und einem Antriebsmotor am Heck. Beim Versuch, die Richtung zu ändern, stiegen Dichte und Druck der flüssigen Eisen-Nickel-Verbindung auf ein Maß an, das die Betriebsfaktoren des Schiffs völlig überforderte, sodass die Verbindung zwischen dem Fusionsmotor und der Kabine riss. Die von Sonnenuntergang Nummer Sechs mithilfe ihres Neutrino-Kommunikationssystems übertragenen Bilder zeigten, wie ihr Vorderteil samt Motor vom Rumpf abbrach und augenblicklich von der purpurrot glühenden Flüssigkeit verschlungen wurde.

Die Fusionsmotoren der Sonnenuntergangs-Serie waren dafür gemacht, mittels eines ultraheißen Düsenstrahls die Materie vor dem Schiff zu durchstoßen. Ohne diesen Frontantrieb konnte der Hinterantrieb das Schiff keinen Zentimeter weit durch die festen Erdschichten treiben. Obwohl der Erdkern von erstaunlicher Dichte ist, hatten die Neutronen auf dem Rumpf des Schiffes eine noch größere Dichte. Das bedeutete, dass das Eigengewicht des Schiffs die Auftriebskraft der Erdkernflüssigkeit überstieg. Die Sonnenuntergang Nummer Sechs begann, in den Erdkern zu sinken.

Erst eineinhalb Jahrhunderte nach der Mondlandung war es der Menschheit gelungen, bis zum Merkur zu fliegen. Man hatte gehofft, in einem ähnlichen Zeitraum das Vordringen der Menschheit vom Erdmantel bis zum Erdkern zu bewältigen. Als nun das Terraschiff unvorhergesehen in den Erdkern vordrang, erging es ihm wie den Raumschiffen aus der Apollo-Ära. Einmal vom Kurs abgekommen und in den Tiefen des Universums verschwunden, gab es keinen Funken Hoffnung auf Rettung mehr.

Glücklicherweise war die Kabine der Sonnenuntergang Nummer Sechs ausgesprochen widerstandsfähig, und auch das Neutrino-Kommunikationssystem hielt die Verbindung mit dem Kontrollzentrum auf der Erdoberfläche aufrecht. Die Besatzung arbeitete ein ganzes Jahr lang weiter und sammelte eine Menge wertvolles Datenmaterial über den Erdkern. In einer Tiefe von Tausenden von Kilometern, eingekapselt von Gestein, waren Luft oder Überleben für die Besatzung kein Thema mehr, von Platz ganz zu schweigen. Außerhalb ihrer Kabine herrschten Temperaturen von fünftausend Grad und ein Druck, der Kohlenstoff in Sekunden in Diamanten verwandeln konnte. Nur Neutrinos konnten der unglaublichen Dichte des Materials entkommen, in welcher das Terraschiff begraben lag. Seine Gruft bestand aus einem riesigen Glutofen geschmolzenen Metalls, gegen das Dantes Inferno das reinste Paradies war. Wo lag in einer solchen Umgebung noch der Sinn des Lebens? »Fragil« schien als Definition dieses Zustands noch weit untertrieben.

Entsprechend zerrte in dieser Situation ein gewaltiger psychischer Druck an den Nerven der Besatzung. Eines Tages, als der Geologe des Teams aufwachte, stieg er aus seiner Koje und stieß die Isolationstür seiner Kabine auf. Obwohl es sich nur um die erste von vier Türen handelte, war die hereinbrechende Welle glühender Hitze so heftig, dass sie ihn im Bruchteil einer Sekunde in Kohle verwandelte. Um die sofortige Zerstörung des Schiffs zu verhindern, eilte der Kommandant herbei und versuchte, die Tür wieder zu verschließen, was ihm auch gelang, jedoch nicht, ohne dass er schwerwiegende Verbrennungen davontrug. Er starb unmittelbar nach seinem letzten Eintrag ins Logbuch. Von da an setzte nur noch ein einziges Besatzungsmitglied der Sonnenuntergang Nummer Sechs die Reise durch die dunkelsten Tiefen des Planeten fort.

Im Innern des Schiffs herrschte inzwischen vollkommene Schwerelosigkeit. Das Terraschiff war auf eine Tiefe von sechstausendachthundert Kilometern gesunken – dem tiefsten Punkt der Erde. Die Frau, das letzte Mitglied ihrer Besatzung, wurde zum ersten Menschen, der ins Herz der Erde vorgedrungen war.

Ihre Welt bestand aus einem engen, stickigen Cockpit von nicht einmal zehn Quadratmetern Größe. Die Neutrino-Brille an Bord erlaubte ihr ein winziges Maß an sensorischem Kontakt mit der Erdoberfläche. Doch auch diese Verbindung, die einer Nabelschnur glich, würde nicht von Dauer sein, denn dem Neutrino-Kommunikationssystem des Schiffs würde bald die Energie ausgehen. Schon jetzt war der Ladezustand zu niedrig, um die für die Funktion der sensorischen Brille erforderliche Datenübertragung mit Hochfrequenztechnik aufrechtzuerhalten. Tatsächlich war der Kontakt bereits vor drei Monaten abgebrochen.

Es war genau der Zeitpunkt, als ich den Heimflug von meinem Kurzurlaub im Grasland angetreten hatte. Ihre Augen hatte ich bereits in meinem Rucksack verstaut. Der regenverhangene Morgen ohne Sonnenaufgang über dem Grasland war das letzte Bild von der Erdoberfläche gewesen, das sie gesehen hatte.

Ab da bestand zwischen Sonnenuntergang Nummer Sechs und der Erdoberfläche nur noch Audio- und Datenkommunikation, und auch dieses letzte Band wurde eines Nachts durchtrennt. Sie würde nun für immer einsam und allein im Herzen der Erde eingeschlossen sein. Die Neutronenhülle des Terraschiffs würde weiterhin dem enormen Druck im Erdinneren widerstehen, und das zyklische Lebenserhaltungssystem konnte problemlos fünfzig bis achtzig Jahre weiterlaufen. Sie würde am Leben bleiben.
 

Ich wagte kaum, mir ihren endgültigen Abschied von der Erdoberfläche vorzustellen, aber dennoch war ich schockiert, als mir der Direktor die Audioaufzeichnung vorspielte. Weil die Neutrinowellen zu diesem Zeitpunkt bereits sehr schwach gewesen waren, wurde ihre Stimme hin und wieder unterbrochen, doch sie klang ganz ruhig.

»… sind Ihre letzten Ergänzungsvorschläge angekommen. Ich werde in den nächsten Tagen den vollständigen Forschungsplan ausführen, so gut ich kann. Irgendwann, vielleicht erst einige Generationen nach uns, wird ein anderes Schiff die Sonnenuntergang Nummer Sechs entdecken und hier andocken. Falls jemand in das Schiff einzudringen vermag, werden die Daten, die ich hinterlasse, hoffentlich noch von Nutzen sein. Seien Sie versichert, dass ich mir mein Leben hier eingerichtet und mich an die Umgebung gewöhnt habe. Ich fühle mich nicht mehr eingezwängt oder eingesperrt. Die ganze Welt umgibt mich. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich vor mir das Grasland und jede einzelne Blume, der ich einen Namen gegeben habe. Auf Wiedersehen.«
 

Epilog: Die durchsichtige Welt

Seit diesem Kurzurlaub sind viele Jahre vergangen, und ich habe viele Orte der Welt besucht.

Überall, wo ich hinkomme, lege ich mich flach auf die Erde. Ich lag bereits am Strand der Insel Hainan, auf dem Schnee von Alaska, in weißen Birkenwäldchen in Russland und auf dem brennend heißen Sand der Sahara. Immer wenn ich mich hinlege, wird die Welt durchsichtig. Sechstausend Kilometer unter mir sehe ich das Terraschiff mit dem Namen Sonnenuntergang Nummer Sechs im Herzen eines durchsichtigen Globus und spüre über die riesige Distanz hinweg ihren Herzschlag. Während ich mir vorstelle, wie das goldene Licht der Sonne und der silbrige Schein des Mondes bis hinunter ins Herz der Erde leuchten, höre ich die gesummte Melodie von Claire de Lune und ihre sanfte Stimme, die sagt:

»Wie schön das ist. Wie eine andere Art von Musik …«

Ein Gedanke tröstet mich: Selbst wenn ich bis zum abgelegensten Winkel der Erde reise, werde ich mich kein Stück weit von ihr entfernen.
 

*
 

Enthalten in Cixin Liu: Die wandernde Erde ∙ Erzählungen ∙ Aus dem Chinesischen von Karin Betz, Johannes Fiederling und Marc Hermann ∙ Wilhelm Heyne Verlag ∙ 688 Seiten ∙ E-Book: € 14,99 (ab sofort im Shop

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