12. Februar 2019 3 Likes

Aufbruch zu den Sternen

Eine erste Leseprobe aus Marina Lostetters beeindruckendem Debüt „Die Reise“

Lesezeit: 15 min.

Als der junge Wissenschaftler Reginald Straifer ein geheimnisvolles Objekt außerhalb unseres Sonnensystems entdeckt, gleicht das einer Sensation. Handelt es sich dabei um einen neuen Stern? Einen unbekannten Planeten? Oder gar um ein von außerirdischer Hand gefertigtes Artefakt? Ein Konvoi von neun Raumschiffen bricht auf, um Reggies Entdeckung genauer zu untersuchen. Es ist der Beginn einer Reise, die die Menschheit für immer verändern wird …

Für ihren Debütroman „Die Reise“ (im Shop) über die Generationen überdauernde Expedition der Menschheit zu den Sternen wurde Marina Lostetter mit dem Writers of the Future Award ausgezeichnet und begeisterte in den USA Fans und Kritiker gleichermaßen. „Die Reise“ ist seit dem 11. Februar 2019 auch auf Deutsch erhältlich, und für alle, die gerne in den Roman hineinschnuppern möchten, gibt es hier eine erste Leseprobe.

 

1

Reggie: Ein König

von unermesslichem Gebiete

 

14. April 2088 AZ (Allgemeine Zeitrechnung) T minus 37 Jahre vor Starttag (ST)

 

Das Konsortium Vereinter Planet wurde geschaffen, um im Interesse der ganzen Erde Projekte im interstellaren Raum zu verfolgen. Jede Mission des Konsortiums ist darauf angelegt, wissenschaftliche Erkenntnisse für die gesamte Menschheit zu gewinnen, deren Aktionsradius über den Heimatplaneten hinaus auszuweiten und eine nachhaltige planetenweite Kooperation sicherzustellen …

 

Die Hitze der Scheinwerfer trieb Reggie dicke Schweißperlen auf die Stirn. Er konnte die Professorin aus Berkeley kaum hören. Obwohl sie nur drei Plätze von ihm entfernt war, hätte sie auch von der Marsoberfläche senden können.

Der Mars – wäre das nicht eine schöne Alternative zu seinem jetzigen Aufenthaltsort? Auf dem Mars herrschte Stille. Es war menschenleer. Keine Kameras, keine Horden von Wissenschaftlern, Reportern und Politikern, die an seinen

Lippen hingen und jedes Wort aufsaugten.

»Es ist Ihre Entdeckung, deshalb werden Sie sie auch präsentieren«, hatte Professor McCloud in seinem Büro gesagt. Er hatte hinter seinem Schreibtisch gesessen und Reggie angefunkelt wie ein tollwütiger Hund, der zubeißen würde, wenn er seinen Willen nicht bekam.

Von allen Professoren der Welt musste Reggie ausgerechnet den einzigen erwischen, der nicht scharf darauf war, seinen Namen auf sämtliche Forschungsarbeiten seiner Doktoranden verewigt zu sehen. »Sir, meine Doktorarbeit zu verteidigen ist eine Sache, aber das … ich weiß nicht, ob ich das kann.«

»Natürlich können Sie das.« McCloud hustete so kräftig in sein Taschentuch, dass sein dichter weißer Backenbart zusammen mit dem Unterkiefer auf und ab hüpfte. »Es sind doch nur Menschen, Herrgott noch mal! Wenn Sie es ertragen, dass ein Haufen verknöcherter alter Intellektueller über jedes Äh, aber und Ich denke aus Ihrem Mund ein Urteil fällt, dann halten Sie auch ein paar Kollegen und Digitalrekorder aus.«

»Aber …«

»Außerdem wurde die Entdeckung bereits verifiziert. Also wird man Sie nicht auslachen. Die Leute sind nicht einmal Ihretwegen hier. Sie wollen sich die Idee anhören und das Konzept bestaunen. Wenn alles vorbei ist, wird man sich an Sie nicht einmal mehr erinnern. Was zählt, ist die Information, Straifer, nicht Ihr vernuschelter, verhuschter Vortrag.« Er beugte sich weiter vor, sein Doppelkinn wabbelte. »Wenn Sie für diesen rätselhaften stroboskopischen Stern wirklich eine brennende Leidenschaft entwickelt haben, wäre es ein Verbrechen, einen verfressenen Greis wie mich zu zwingen, den Vortrag für Sie zu halten.«

»Das ist ein stichhaltiges Argument«, meldete sich eine elektronische Stimme aus Reggies Tasche. Er zog sein Telefon heraus. Das Icon des Intelligenten Persönlichen Assistenten blinkte – er hatte den Zwischenrufmodus eingestellt. »In den letzten fünfundzwanzig Jahren wiesen Projekte, für die vor der Finanzierung ein vergleichbares Screening-Verfahren erforderlich war, eine um achtundsiebzig Prozent höhere Erfolgswahrscheinlichkeit auf, wenn diejenigen Personen, die die Forschungsarbeit ursprünglich geleistet hatten, ihre Erkenntnisse auch selbst vortrugen. Die Einbeziehung von Dritten …«

»Danke, C.« Reggie schaltete das Telefon ab und starrte den Professor trotzig an.

Zehn Minuten später hatte er widerwillig zugestimmt.

Jetzt stand er vor dieser Menschenmenge und wünschte sich nichts mehr, als dass er Dr. McCloud und dem Computer geraten hätte, sich ihre Ratschläge sonst wohin zu stecken. Der Professor saß in der dritten Reihe und nickte bei jeder zweiten Silbe, die aus dem Mund der Vortragenden kam. Sein Blick wechselte kurz zu Reggie, und sein Grinsen sagte: Schlag los!

Reggie wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Vortrag zu. Hatte er richtig gehört? Wollte die Professorin aus Berkeley allen Ernstes empfehlen, die Langstreckenforschung ausschließlich auf Regionen mit hoher Dichte von dunkler Materie zu konzentrieren? Was konnten zwölf Untersuchungen von dunkler Materie ergeben, was man nicht mit einer allein in Erfahrung bringen konnte?

Aber dunkel war sexy. Alles, was das Etikett ›dunkel‹ trug: Materie, Energie, Kräfte, etc. Was war an seiner Entdeckung sexy?

Es ist, als wäre der Stern von einer Kruste umgeben, sagte er sich im Geiste immer wieder vor. Er musste die richtigen Worte finden. Die Wortwahl war ausschlaggebend. Sie würde seinen Stern interessant, bemerkenswert machen. Er konnte nur hoffen, dass sie überzeugend genug wäre, um ein Team zugewiesen zu bekommen.

Der variable Stern mit der Bezeichnung LQ Pyxidis war einmalig. Er musste den Leuten hier begreiflich machen, dass er etwas Besonderes an sich hatte. Schließlich wusste er, dass eine große Entdeckung darauf wartete, durch eine Visite vollends enthüllt zu werden.

Er musste die Zuhörer lediglich dazu bringen, das auch so zu sehen.

Wir verlassen diese Welt, dachte Reggie aufgeregt. Wir fliegen in den interstellaren Raum. Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte wollten die Menschen eine Reise zu den Wundern des Universums wagen. Reggie wollte auf irgendeine Weise daran teilhaben. Wichtiger noch, er war sicher, dass LQ Pyx Teil des Unternehmens sein musste. Er konnte es spüren. Dieser variable Stern war von Bedeutung. Reggie schaltete sein Tablet ein und scrollte durch die Notizen. Wie immer ließ ihn das schlichte Schwarz-Weiß- Bild von seinem Stern, aufgenommen vom JWST 3, innehalten. Man sah ganz deutlich, dass LQ Pyx asymmetrisch war; auf einer Seite spritzte die Energie nur so heraus, der Ausstoß war um mehrere Größenordnungen höher als auf der entgegengesetzten Hemisphäre. Und die Werte schwankten andauernd. Entweder rotierte der Stern ungewöhnlich langsam für einen derart dramatischen solaren Jet … oder etwas umkreiste ihn und überdeckte die normalen Emissionen.

Es ist, als wäre er von einer Kruste umgeben. Einem Mantel.

Dr. Berkeley – wie hieß sie doch noch mal? Er konnte sich den Namen nicht merken; er hatte das Gefühl, als laufe ihm das Gehirn zu den Ohren heraus. Jedenfalls war sie mit den Zuschauerfragen schon fast durch.

Reggie zog ein Papiertuch aus der Tasche und tupfte sich die Stirn ab. Das Tuch zerriss, und ein paar Teile des feuchten Zellstoffs klebten ihm am Gesicht fest. Er streifte sie hastig ab. Hoffentlich hatte er alle erwischt.

Gleich war er an der Reihe. Er schaute von einem der Vortragenden am Tisch zum anderen. Eine lange Reihe von Veteranen der Forschung. Drei hatten Lehrbücher geschrieben, die er im Studium verwendet hatte. Zwei hatten Bücher verfasst, aus denen er in seiner eigenen Doktorarbeit zitiert hatte. Er könnte jeden Einzelnen davon lobend erwähnen – falls er nicht vor lauter Nervosität ihre Namen vergaß. Alle waren sie bewährte, geachtete Wissenschaftler – selbst diejenigen, deren Theorien umstritten waren; sie profitierten von der Aufregung über die öffentlichen Auseinandersetzungen. Und einer moderierte eine mit viel Beifall bedachte Fernsehserie, Der Kosmos und Du. Alle hatten sie sich einen Namen gemacht, alle standen sie auf dem Gipfel einer fantastischen Karriere.

Alle außer Reggie.

Der Telefonchip vor seinem Trommelfell surrte, und der hinter seiner Iris implantierte Bildschirm erwachte zum Leben. »Sind Sie bereit? Haben Sie alle Notizen? Keine letzten Wünsche? Gleich ist es so weit.«

»Ja«, murmelte er. »Ich bin bereit.«

»Okay, dann stehen Sie jetzt auf. Sie sind in fünf, vier …« Der Countdown wurde nur visuell fortgesetzt. Mit jeder violetten Zahl, die vor seinen Augen erlosch, stolperte sein Herz.

»Vielen Dank, Dr. Countmen«, sagte der Moderator. So heißt sie also. »Als Nächsten möchte ich Ihnen Mr. Reginald Straifer vorstellen.«

Reggie hätte schwören können, unter dem obligatorischen Begrüßungsapplaus ein Kichern zu hören. Hätte ihm der Ausschuss die Doktorwürde nicht vor der Konferenz verleihen können? War denn ein gesichtswahrender Doktortitel zu viel verlangt?

Er zitterte über seine ganzen ein Meter siebzig. Aber es war nur eine leichte Irritation – er hatte alle Muskeln angespannt, um still sitzen zu können. Wie er dastand, schlaksig, mit seinem mausbraunen Wuschelkopf, der breiten Nase und dem schüchternen Blick, gab er nicht gerade ein Bild der Selbstsicherheit ab.

Entspann dich. Tu wenigstens so. Sie sind nicht deinetwegen hier, sondern wegen deiner Arbeit.

»V-v-vielen Dank. Ich … ich möchte hiermit empfehlen, dass einer der Konvois ausdrücklich zu dem Zweck gebaut wird, den variablen Stern LQ Pyxidis aufzusuchen. Licpix, wie ich ihn gerne nenne.« Schweigen. Reggie zerrte an seinem Kragen.

»Tief durchatmen, Sir«, ließ sich C aus Reggies Tasche vernehmen.

Damit erntete er ein leises Glucksen aus der ersten Reihe.

»Ruhemodus bitte«, sagte er, um dann dem Rat der KI zu folgen. »Äh, könnten wir bitte die Animation auf den Schirm bekommen?«

Das Licht wurde gedämpft, und auf den Implantaten aller Anwesenden erschien eine farbige Reproduktion von LQ Pyx. Reggie ermahnte sich, nicht ins Fachchinesisch zu verfallen – die Reporter sendeten in alle Welt –, und stürzte sich in seine Präsentation.

Während er den seltsamen Energiejet beschrieb, der möglicherweise gar kein Jet war, fand er allmählich in seinen Rhythmus. Er zeigte auf, inwiefern das Taumeln des Sterns ein Hinweis auf einen ausnehmend massereichen Partner sein könnte, der auf diese Entfernung nicht zu erkennen war. Und er formulierte seine Hypothese darüber, wo sich dieser unsichtbare Trabant befinden könnte – dass er den Stern höchstwahrscheinlich umgab.

»Licpix ist krustig … äh, überkrustet. Als hätte ein Kind im Werkunterricht mit einer Glühbirne gearbeitet. Vielleicht denkt das Kind, mit etwas Farbe und Plastiksteinchen sähe die Birne besser aus. Also kleistert es die Oberfläche mit Flitter zu – nur eine Stelle hat es vergessen. Wenn diese Glühbirne nun brennt, was würden wir sehen? Auch wenn sich die Grundleistung nicht verändert, käme das meiste Licht durch diesen kleinen Bereich an der Oberfläche. Bis auf einen einzigen hellen Punkt wäre alles matt – ganz ähnlich wie bei diesem Stern.

Sein Licht wird einfach verdeckt. Ein unbekanntes Objekt blockiert es, und wir müssen zu LQ Pyx fliegen, um herauszufinden, was für ein Objekt das ist.«

Damit war er zu Ende. Er holte tief Luft und setzte sich. Dann ließ er den Blick über die Zuhörer schweifen und wappnete sich für den Ansturm von kleinlichen, nörgeligen Fragen.

Eine zittrige Hand ging in die Höhe. Ein älterer Herr in Tweedjackett und Fliege stand auf. »Was haben Sie für einen Verdacht, junger Mann?« Reggie konnte seinen Akzent nicht einordnen. »Wenn wir dorthin fliegen, was werden wir vorfinden?«

Reggie ließ sich von einer Hilfskraft ein Glas Wasser reichen und nahm einen tiefen Schluck. Dann antwortete er: »Nun ja, ich, äh … wenn ich das wüsste, könnten wir uns die Reise ja sparen. Eine extrem kleine und dichte Version der Oort’schen Wolke vielleicht. Möglicherweise eine Asteroidenkugel anstelle eines Gürtels. Wäre es nicht wunderbar, neue Möglichkeiten der Orbitalprojektion zu entdecken? Es könnte auch der Anfang eines neuen Systems sein – womöglich ein Stadium, das wir noch nie beobachten konnten. Das könnte unsere Theorien zur Entstehung von Planeten verändern. Ich … ich weiß es wirklich nicht.«

Der Alte nickte, und seine buschigen weißen Augenbrauen zogen sich zusammen. »Und was ist mit Dyson?«

Reggie war überrascht. »Meinen Sie damit, ob es ein künstliches Objekt sein könnte?« Er überlegte kurz, dann zuckte er mit den Achseln. »Klar, warum nicht?«

Die Zuhörer begannen aufgeregt mit ihren Nachbarn zu tuscheln. Im ganzen Auditorium brodelte es von Spekulationen. In Professor McClouds Augen trat ein hintergründiges Funkeln.

»Ja, warum nicht?«, rief der alte Mann mit der Fliege Reggie zu, und seine faltigen Wangen verzogen sich zu einem Lächeln.

 

»Dieser alte Mann hat mich wie einen Schwachkopf aussehen lassen«, klagte Reggie. Er hob sein Glas und kippte den Rest des goldgelben Biers hinunter. Das Zeug roch wie alte T-Shirts. »Ich habe dagestanden wie ein amerikanischer Hinterwäldler, der sich schleunigst wieder in seinem Dorf im Mittelwesten verkriechen sollte.«

Nach der Präsentation hatte ihn Professor McCloud in einen nahe gelegenen Pub eingeladen. Die Auswahl an Kneipen in Oxford war groß, dennoch waren sie in diesem Loch gelandet. Es war dunkel – nicht wegen der Atmosphäre, sondern weil nur die Hälfte der Deckenleuchten brannten. Alles stank nach Zigarrenrauch, auch die Vinylpolsterung in ihrer Nische. Die Einrichtung erinnerte Reggie an eine Spielhölle aus den 1970ern, jedoch ohne deren Charme.

Alle anderen Gäste waren wie McCloud mindestens sechzig Jahre alt. Reggie hatte den Verdacht, dass es sich um ein Stammlokal von Dozenten mit Festanstellung handelte.

Über diesen Status brauche ich mir von nun an den Kopf nicht mehr zu zerbrechen, dachte er.

»Der Alte hat Sie wie ein Genie aussehen lassen«, konterte McCloud und nahm einen Schluck von seinem Jack Daniels. Dann gab er der Bedienung ein Zeichen, für Reggie ein neues Glas zu bringen. »Warum haben Sie es nicht selbst angesprochen? Sie haben doch schon darüber spekuliert, ob es im Umkreis von Licpix künstliche Konstrukte geben könnte?«

Reggie neigte sein Glas, um die Prägung auf dem Boden sehen zu können. Er hätte sie lieber durch mehr Bier betrachtet. »Weil es albern ist.«

»Die Begründung?«

»Nein, die Idee

McCloud lachte spöttisch und nahm Reggie das Glas aus der Hand. »Wenn etwas im Bereich des Möglichen liegt, ist es nicht albern.«

»Ein Konstrukt, das größer – und vielleicht massiver – ist als ein Stern?«, fragte Reggie. »Wer sollte so etwas bauen? Die Milliarden von Lebensformen, die wir da draußen ausfindig gemacht haben?« Sein Sarkasmus war dick aufgetragen, fast schon arrogant, und er wünschte sich noch im Sprechen, sich etwas mehr zurückgehalten zu haben.

»Dass man etwas nicht sehen kann, heißt noch lange nicht, dass es nicht da ist.«

»War das nicht das Argument von Dr. Countmen?«

»Was wollen Sie denn?«, fragte der Professor. »Immerhin hat er Sie ins Gespräch gebracht, nicht wahr?«

»Ihr Antrag ist der einzige, der die Möglichkeit einer Begegnung mit intelligentem Leben oder das Auffinden entsprechender Beweise postuliert«, mischte C sich ein. Reggies Telefon stand zwischen den beiden Männern auf dem Tisch.

»Diese Einzigartigkeit könnte rein statistisch seine Attraktivität steigern.«

Er hatte sich ja Aufsehen, Sexappeal gewünscht. Und was wäre wohl sexier: ein Haufen Felsen oder eine riesige Alien-Maschine?

»Aber es ist so unwahrscheinlich«, nörgelte Reggie. »So unwahrscheinlich, dass …«

»Dass was?«, fragte McCloud.

»Dass es sich wie eine Lüge anfühlt.«

Die Bedienung schlenderte heran und tauschte sein leeres Glas schnell gegen ein volles aus. Sie schenkte den beiden ein strahlendes Lächeln, und Reggie versuchte es zu erwidern. Aber er war überzeugt, dass es nicht dankbar wirkte, sondern eher so kläglich, als hätte er Magenbeschwerden.

McCloud setzte zum Sprechen an, hielt dann inne und hustete in sein Taschentuch. Nachdem er sich Mund und Nase abgewischt hatte, steckte er das Tuch wieder ein. »Wenn ich Ihnen sage, dass Ihnen Ihre Forschungen am Ende entweder eine Dozentenstelle oder den Nobelpreis für Physik eintragen könnten, wäre das gelogen?«

Reggie seufzte und nahm einen Schluck. »Ich werde sicher keinen Nobelpreis gewinnen.«

»Aber es ist eine Möglichkeit – zugegeben eine entfernte. Wenn ich sage, es könnte geschehen, so unwahrscheinlich es auch sein mag, ist das keine Lüge. Anders wäre es, wenn ich sagen würde: Ich glaube, dass es geschieht, ohne wirklich daran zu glauben.«

Reggie zog eine Schnute. »Sie glauben also nicht, dass meine Forschungen den Nobelpreis verdienen?« Er fand sich lächerlich kindisch und nahm noch einen Schluck, um seine Verlegenheit zu kaschieren.

»Habe ich das gesagt?« McCloud knuffte Reggie in die Schulter, und beide lachten. Dann trank der Professor seinen Whisky aus. »Also, wenn Sie nicht an eine Alien-Maschine glauben, wofür halten Sie es denn?«

»Ich weiß es nicht. Deshalb möchte ich ja, dass jemand hinfliegt und es herausfindet … die Wahrheit feststellt.«

»Wollen Sie, dass jemand hinfliegt, oder wollen Sie selbst

hinfliegen?«

Reggie erschauerte innerlich. McCloud hatte einen Punkt berührt, an den Reggie bisher noch nicht einmal zu denken gewagt hatte – einen heimlichen Wunsch, den er für unerfüllbar hielt. Er schüttelte den Kopf. »Das ist unmöglich. Zeitverschwendung, sich damit zu beschäftigen.«

»Haben wir nicht gerade über möglich und unmöglich gesprochen? Sie könnten mitfliegen. Niemand hat bisher das Gegenteil behauptet. Man hat über die Schiffsbesatzungen noch nicht entschieden. Noch weiß man nicht, was für Leute man für den Warp-Antrieb braucht oder wie er heißt.«

»SD-Antrieb«, verbesserte Reggie. »Wir sprechen von sub- dimensionalem Flug. Subdimensionen, ha! Was für ein verstümmelter Begriff! Fast so schlimm, wie etwas ›dunkel‹ zu nennen, was einfach nur unbekannt war.

Es gab viele Gründe, die Missionen zu diesem Zeitpunkt auf den Weg zu bringen. Die interstellare Raumfahrt war endlich Realität geworden, das weltpolitische Klima entwickelte sich zunehmend positiv, die Zahl der bewaffneten Konflikte war beispiellos niedrig. Ressourcen waren nicht nur in Hülle und Fülle vorhanden, sondern auch so gleichmäßig verteilt wie nie zuvor, und die Weltbevölkerung hatte sich bei neun Milliarden eingependelt (einige Wissenschaftler prophezeiten sogar einen möglichen Rückgang in den nächsten fünfzig Jahren). Nun gedachte die Menschheit in großem Stil die ersten Schritte über das eigene Sonnensystem hinaus zu unternehmen.

Die Menschen wollten endlich wissen, ob sie da draußen, fernab der Wärme und Geborgenheit ihres kleinen Sterns vom Typ G überleben konnten.

»Ich würde es nicht erleben«, sagte Reggie. »Es ist zu weit. Sie wissen doch, wie lange es dauern würde, LQ Pyx zu erreichen. Generationen.«

»Das heißt doch nicht, dass Sie nicht mitfliegen könnten. Um das Unternehmen von Anfang an in die richtigen Bahnen zu lenken.«

»Aber es heißt, dass ich es nie erfahren werde.« Reggie schob das Bier von sich weg. »Ob ich mitfliege oder nicht, ich werde nie erfahren, warum LQ Pyx so ist, wie er sich uns darstellt.«

»Sie sind also einer, für den das Glas immer halb leer ist?« McCloud klopfte mit den Fingerspitzen gegen das Bierglas.

Reggie zuckte mit den Achseln. »Mag schon sein.«

»Ich glaube, es gibt etwas, was die Leute mit dem halb leeren Glas immer übersehen.« Er hielt inne.

Reggie kräuselte die Lippen und zog fragend eine Augenbraue hoch. »Nämlich?«

Mit einer schnellen Bewegung aus dem Handgelenk griff McCloud nach dem Glas. Im nächsten Augenblick schüttete er Reggie das Bier über die Brust.

»Mann!« Reggie fuhr hoch und wollte hochspringen, doch er war bereits bis auf die Haut durchnässt. »Verdammt, was soll das?«

McCloud lachte. »Was leer ist, hinterlässt keine Spuren, nicht wahr?« Er reichte Reggie sein Taschentuch, doch der lehnte ab – er hatte gesehen, wie es benutzt worden war. Stattdessen zog er das Hemd von der Brust weg und sah sich Hilfe suchend um, aber niemand erbarmte sich. McCloud fuhr fort: »Im Leben geht es nicht um verpasste Gelegenheiten, Mr. Straifer. Es geht um die Augenblicke, in denen wir bis auf die Haut durchnässt werden und vor Erfahrung triefen.« Er deutete auf den hinteren Bereich des Pubs. »Ich glaube, zu den Toiletten geht es dahin.«

»In diesem Stadtviertel gibt es drei chemische Reinigungen«, meldete sich C.

 

McCloud war verrückt.

Das hieß allerdings nicht, dass er unrecht hatte. Nachdem Reggie und der Professor in die Staaten zurückgekehrt waren, folgten Monate des Wartens, in denen Reggie lange darüber nachdachte, ob man biernasse Dockers als Metapher für das Leben sehen konnte. Aber er war Wissenschaftler, kein Dichter. Sein Ding war die Mathematik – mit Metaphern hatte er noch nie viel anfangen können.

Den Sinn hatte er immerhin verstanden.

Reggie stand auf einem bedenklich schwankenden Schemel und wollte gerade sein frisch gerahmtes Doktordiplom aufhängen, als sein Telefon klingelte. Er meldete sich über seine Implantate. Als er hörte, wer der Anrufer war und worum es ging, ließ er das Diplom fallen. Das Glas zerbrach. Die Scherben verteilten sich kreisförmig über seinen Laminatboden.

»Man hat was genehmigt? Meinen Antrag … mein Projekt? Sind Sie sicher? Kein Irrtum möglich? Ja, ja, das bin ich. O mein Gott. Ich kann nicht … ich meine … danke. Vielen Dank!«

Nach vierundzwanzig Wochen hatte das Gremium – Tausende Experten aus knapp einhundert Nationen – endlich abgestimmt. Nach einer weiteren Woche waren die Stimmen ausgezählt. Die zwölf Anträge mit den meisten Stimmen – zwölf Anträge für zwölf Konvois – wurden ausgewählt.

Und sein Antrag war dabei gewesen. Man wollte zu seinem

Stern fliegen.

Man wollte zu LQ Pyx.

Ohne die Scherben aufzulesen, stürzte er zum Kleiderschrank und riss seine Jacke heraus. Mit zwei weiteren Schritten war er an der Wohnungstür, und noch bevor sie hinter ihm ins Schloss gefallen war, hing er bereits am Telefon.

Das verlangte nach einer Party. Einer Party, wie er sie seit Studententagen nicht mehr geschmissen hatte.

»C, schick eine Nachricht an die Truppe: Wir gehen rein!« Auch Promovierte wissen, wie man sich ordentlich betrinkt.

 

Marina Lostetter: „Die Reise“ ∙ Roman ∙ Aus dem Amerikanischen von Irene Holicki ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2019 ∙ 560 Seiten ∙ Preis des E-Books € 9,99 (im Shop)

 

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