25. Februar 2020 1 Likes

Das Schicksal der Erde liegt in den Händen eines Mannes

Eine erste Leseprobe aus Dennis E. Taylors neuem Space-Abenteuer »Die Singularitätsfalle«

Lesezeit: 8 min.

Mit seiner »Bobiverse«-Trilogie (im Shop) landete der amerikanische Autor Dennis E. Taylor einen internationalen Bestseller. Nun ist sein neuer Roman »Die Singularitätsfalle« (im Shop) auf Deutsch erschienen, in dem er unter Beweis stellt, dass ihm zu Recht der Ruf eines Kultautors vorauseilt. In »Die Singularitätsfalle« heuert Ivan Pritchard, ein glückloser Ingenieur, auf dem Asteroiden-Kreuzer an, um seiner Familie ein sorgenfreies Leben zu ermöglichen. Zunächst läuft auch alles nach Plan, aber dann gerät Ivan in Kontakt mit einer mysteriösen außerirdischen Substanz. Bevor es jedoch dazu kommt, muss er erst mal den Shuttleflug ins Weltall überstehen …

 

Start

 

»Eine Minute bis zum Start.«

Ivan umklammerte seine Armlehnen noch fester. Trotz seiner Panik spürte er, dass ihm die Finger wehtaten. Also zwang er sich dazu, den Griff zu lockern und langsamer zu atmen.

Er betrachtete die Ärmel seines blauen Overalls und war erleichtert, dass der Stoff immer noch trocken war. Wenn er sich nicht bald zusammenriss, würde der Anblick seiner tropfnassen Uniform die anderen Mannschaftsmitglieder unweigerlich zu weiteren, in ihren Augen lustigen Kommentaren anregen.

Außerdem ergab seine Angst überhaupt keinen Sinn. Das Katapult schleuderte bereits seit vierzig Jahren Shuttles ohne größere Zwischenfälle in den Orbit. Tatsächlich war er in diesem Shuttle sicherer als in einem Flugzeug. Und er flog in den Weltraum! Das würde sicher ein riesiger Spaß.

»He, Neuer. Du hast doch keinen Herzinfarkt, oder?« Ivan sah nach links zu Tennison Davies, der auf der anderen Seite des Mittelgangs saß. Tenn war ein muskulöser Texaner mit rotem Gesicht, ein Veteran im Asteroiden- Bergbau, der sich gerade zu seiner zehnten Tour aufmachte.

Tatsächlich hatten sämtliche Mannschaftsmitglieder der Mad Astra bereits mindestens vier Touren auf dem Bergbauschiff absolviert. Alle bis auf ihn und Arcadius Geiger. Kady sah aus, als würde er gleich einschlafen. Dieser Angeber.

Ivan und seine Mannschaftskollegen besetzten zwei komplette Sitzreihen. Von seinem Platz aus konnte er auch Crews von verschiedenen anderen Schiffen sehen, die ähnliche blaue Dienstoveralls trugen und ebenfalls zu einer sechsmonatigen Bergbautour aufbrachen. Die Overalls waren Standardmodelle und stammten vermutlich alle vom selben Hersteller. Sie glichen einander wie ein Ei dem anderen, abgesehen von den Schiffsabzeichen auf der linken Brust. Das Symbol der Mad-Astra- Crew war eine stilisierte Hand, die nach einem Stern griff.

Als mehrere dumpfe Aufprallgeräusche erklangen und ein Zittern durch das Shuttle lief, krallte sich Ivan erneut an die Armlehnen. Es überraschte ihn fast, dass er nicht das Metall verbog. Ein Geruch von Angstschweiß stieg ihm in die Nase, und er merkte, dass er den Kampf gegen die Panik erneut verlor.

»Noch fünfzehn Sekunden«, schallte es aus den Lautsprechern.

Ivan schloss die Augen und versuchte es wieder mit Atemübungen. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Selbst wenn er sich noch abschnallte und schreiend Richtung Ausgang lief, würde das Shuttle dennoch pünktlich abheben und er platt wie eine Flunder am hinteren Schott kleben. Die Simulationen während seines dreimonatigen Trainings, das sich wie ein großes Abenteuer angefühlt hatte, schienen nun nicht mehr viel mit der Realität zu tun zu haben. Er stand kurz davor, in einer Blechdose in die Luft geschossen zu werden. Fünfzehn Minuten lang würde er die Kontrolle über sein eigenes Schicksal komplett aus den Händen geben und währenddessen nicht einmal den Weltraum sehen können.

»Entspann dich, Neuer«, sagte Davies. »Wir haben schon seit Wochen kein Crewmitglied mehr verloren.« Das Grinsen des erfahrenen Bergmanns reichte nicht bis zu seinen Augen. Er schien Ivan damit auch nicht beruhigen zu wollen. Stattdessen sah er aus wie eine Katze, die ihre nächste Mahlzeit beäugt.

Ivan öffnete den Mund zu einer Antwort, doch in diesem Moment löste das Katapult aus. Während das Shuttle auf den Schienen beschleunigte, wurde sein Körper in den Sitz gepresst. So würde es während der gesamten Fahrt im fünf Kilometer langen Starttunnel weitergehen. Riesige Pumpen reduzierten den Luftwiderstand, indem sie die Atmosphäre vor dem Shuttle aus dem Tunnel saugten und hinter ihm wieder hineinbliesen. Ivan hörte vereinzeltes Stöhnen und versuchte, sich damit zu trösten, dass er offensichtlich nicht als Einziger litt.

Zum Glück verlief dieser Teil des Starts ohne größere Erschütterungen – im Gegensatz zu den Raketenstarts in der Vergangenheit, als die Astronauten noch auf einem explosiven Zylinder voller Treibstoff gesessen hatten und derart stark durchgerüttelt worden waren, dass es ihnen vorgekommen sein musste, als würden ihnen jeden Moment die Zähne aus den Ohren fallen. Ivan konzentrierte sich darauf zu atmen und nicht ängstlich zu wimmern. Er hatte bislang noch keinen Spitznamen verpasst bekommen und wollte seine Mannschaftskollegen auf keinen Fall auf diesem Weg zu einem inspirieren. Schon gar nicht, bevor sie die Erdatmosphäre verlassen hatten.

Als das Shuttle die Stelle im Katapult erreichte, von der an es nach oben ging, änderte sich der Beschleunigungsvektor, sodass er nun zugleich nach unten und hinten in seinen Sitz gepresst wurde. Der Druck währte nur wenige Sekunden, doch es schienen die längsten seines Lebens zu sein.

Sobald das Shuttle das Katapult hinter sich ließ, sprangen die Raketentriebwerke an. Gleichzeitig erhitzten und verdünnten speziell konfigurierte Mikrowellen-Emitter die Luft vor dem Bug und verringerten weiterhin den Luftwiderstand, während sich das Raumgefährt immer höher in den Himmel schwang.

Je weiter das Shuttle in der Atmosphäre aufstieg, desto weniger wackelte es. Als nach fünf Minuten die Raketen ausgingen, befanden sie sich in einem Zustand der Schwerelosigkeit. Und auf einmal war es so still, dass Ivan sich fragte, ob sein Gehör Schaden genommen hatte.

Doch zum Glück dauerte es nicht lange, bis Davies diese Angst auf seine typische Art ausräumte. »Wie’s aussieht, hat der Neue überlebt. Ich glaube, er hat sich nicht einmal in den Anzug gepinkelt.«

Ivan fuhr herum, um Davies die Meinung zu sagen.

Doch das war ein böser Fehler.

Der Druck, dem er während des Starts ausgesetzt gewesen war, und die anschließende Schwerelosigkeit hatten seinem Magen bereits stark zugesetzt. Und nun brachte er mit der ruckartigen Drehung des Kopfes auch noch sein Innenohr durcheinander. Mit einem erstickten Schrei griff Ivan nach der Kotztüte in der Tasche vor ihm und begann, sich lange und heftig zu übergeben.

Bedauerlicherweise animiert der beißende Geruch von Erbrochenem andere Menschen in der Regel dazu, sich selbst zu übergeben. Und so ertönten in der Passagierkabine bald immer mehr Würgelaute. Deswegen würde er sich später vermutlich ganz schön was anhören müssen.

Schließlich erholte er sich wieder einigermaßen. Mit schweißnassem Gesicht rollte er die Tüte zusammen und steckte sie in den dafür vorgesehenen Aufnahmebehälter. Dann drehte er sich zu Seth Robinson um, der rechts von ihm auf dem Mittelplatz saß. »Na toll, damit habe ich wohl meinen Spitznamen weg.«

»Nee. Wenn wir für so etwas Spitznamen verteilen würden, hieße jeder von uns Kotzi. Du hast zwei Tage, um das in den Griff zu bekommen, Neuer. Wenn es dir am Abflugtag immer noch hochkommt, bist du raus. Dann bekommst du das Geld für deine Anteile zurück, abzüglich der Standardstrafe. Und wir sind auf unserer sechsmonatigen Tour einer weniger. Alles klar?«

Ivan nickte wortlos. Die Vertragsstrafe würde den kleinen Gewinn auffressen, den er mit seinem Anteil bislang gemacht hatte. Wenn er zurückgeschickt wurde, hatte er gar nichts mehr.

Er sah Robinson an. Im richtigen Licht hätte man den schlaksigen Rothaarigen mit Sommersprossen, der gut fünfzehn Zentimeter größer war als Ivan, leicht für einen Teenager halten können. Schwer zu glauben, dass er alt genug für eine Spacer-Lizenz war. Wenn Robinson es schaffte, konnte Ivan das auch.

»Dreißig Sekunden bis zum Andockmanöver«, ertönte es aus den Lautsprechern.

Ivan hob den Blick – ganz vorsichtig diesmal – und ärgerte sich, dass es keine Fenster gab. Er war im Weltraum. Der Beruf des Asteroiden-Bergmanns galt zwar nicht als besonders glamourös, doch ansonsten gelangten nur Militärangehörige oder sehr wohlhabende Personen ins All. Und natürlich speziell ausgebildete Fachkräfte, die auf den Raumstationen oder in den Kolonien benötigt wurden. Als Kind von Klimaflüchtlingen, die alles verloren hatten, als der Ozean ihre Heimat überflutete, blieben Ivan nicht viele Optionen.

Er dachte an seine Familie und seinen bisherigen, zermürbenden Job, der das höchste der Gefühle für ihn gewesen war, obwohl er seinen Abschluss in Computerwissenschaften als Jahrgangsbester gemacht hatte. Die zu kleine, völlig verwanzte Wohnung, die Judy und er sich mit ihren zwei Gehältern gerade noch hatten leisten können. Dies hier war ihre einzige Chance, und er würde sie nutzen. Das Grundgehalt war höher, und wenn sie noch dazu auf ein nennenswertes Mineralvorkommen stoßen würden …

Die Steuerdüsen zündeten, und durch das Shuttle ging ein Ruck. Danach mussten die Passagiere mehrere Minuten lang unvorhersehbare Flugmanöver über sich ergehen lassen, die – zum Glück für Ivans Magen – alle mit wenig Schub ausgeführt wurden.

»Dieser Pilot ist scheiße«, murmelte jemand aus seiner Mannschaft. Ivan reckte den Hals, um über die Sitzlehnen hinwegblicken zu können, und erkannte, dass Raul Alfaro diesen Kommentar abgegeben hatte. Er besaß dunkles Haar, einen olivfarbenen Teint und sprach mit leichtem spanischem Akzent.

»Halt die Klappe, Alfaro«, blaffte jemand zurück. »Du bist als Gast hier.«

Der Rüffel kam von Albert Micoroski, dem Piloten der Mad Astra, der auf der anderen Seite des Gangs saß. Piloten hielten zusammen und duldeten es nicht, wenn jemand über die Flugkünste eines Kollegen herzog. Und damit diese Botschaft auch deutlich ankam, schickte die Co-Pilotin der Astra, Lita Generus, seinen Worten einen finsteren Blick hinterher.

Bevor Alfaro etwas erwidern konnte, ertönte ein dumpfer Knall. Das Shuttle hatte angelegt. Erneut wünschte Ivan sich, es gäbe Fenster. Denn so hatte er fast das Gefühl, immer noch in einem der Simulatoren auf der Erde zu sein.

Sie hatten gerade an der Olympus-Station angedockt, dem Drehkreuz für sämtliche Raumflüge im System. Die zwei riesigen Wohnringe, mit einem Durchmesser von jeweils einem Kilometer, waren das bekannteste Wahrzeichen der gesamten zivilisierten Welt. Ihr Anblick musste während des Anflugs spektakulär gewesen sein.

»In der Station gibt es jede Menge Fenster, Neuer.« Offenbar konnte Robinson seine Gedanken lesen. »Dort kannst du in den nächsten zwei Wochen den Shuttles und Schiffen beim Kommen und Gehen zuschauen. Solange du die Flugtauglichkeitsprüfung bestehst, kannst du mit deiner Zeit anfangen, was du willst. Aber davor treffen wir uns noch mit dem Captain, für den üblichen Segensspruch. In einer halben Stunde in der Star Lounge. Weißt du, wo das ist?«

Ivan schüttelte den Kopf.

»Immer diese Neulinge …« Robinson verdrehte die Augen. »Bleib bei mir, wenn wir in der Station sind. Mit Schwerelosigkeit kommst du doch zurecht, oder?«

 

Dennis E. Taylor: »Die Singularitätsfalle« ∙ Roman ∙ Aus dem Amerikanischen von Urban Hofstetter ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2020 ∙ 496 Seiten ∙ Preis des E-Books € 11,99 (im Shop)

 

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