29. Dezember 2018 1 Likes

Die Bobs erobern das Universum

Eine Leseprobe aus Dennis E. Taylors neuem Roman „Wir sind Götter“

Lesezeit: 13 min.

Endlich ist es soweit – Bob Johansson, der Held aus Dennis E. Taylors kultiger Space Opera „Ich bin viele“ (im Shop), ist zurück, und mit ihm seine mannigfachen Kopien. In „Wir sind Götter“ (im Shop), dem zweiten Teil der sogenannten Bobiverse-Trilogie, haben Bob und seine Klone die Aufgabe, den Rest der Menschheit auf neue Planeten evakuieren. Leichter gesagt als getan, denn in den Tiefen des Alls lauert so manche Gefahr auf die schlagfertigen KIs. Für alle, die jetzt neugierig geworden sind, gibt es hier eine erste Leseprobe.

 

1

Himmelsgott

 

Bob – Februar 2167 Delta Eridani

Aus dem Totholzhaufen drang ein wütendes Quieken. Die beiden Deltaner hielten kurz inne und bereiteten sich darauf vor, den Rückzug anzutreten. Doch als nichts weiter geschah, bewarfen sie die Stelle gleich darauf erneut mit Steinen.

Dem Jäger, den ich Bernie getauft hatte, sträubte sich vor Aufregung das Rückenfell. »Komm hierher, kutzi, kutzi, kutzi«, lockte er mit aufgestellten Ohren.

Um ihnen nicht die Sicht zu versperren, flog ich mit meiner Überwachungsdrohne ein Stück zurück. Es machte ihnen nichts aus, wenn ich bei der Jagd zusah, aber ich wollte sie nicht ablenken, da selbst die kleinsten Fehler zu Verletzungen führen konnten und nicht selten tödlich endeten. Allein Mike hob kurz den Kopf, als er die Bewegung wahrnahm, wohingegen die anderen Deltaner der fußballgroßen Drohne keinerlei Beachtung schenkten.

Anscheinend hatte einer der Steine sein Ziel gefunden, denn nun stürmte das Quasischwein laut kreischend wie eine wutentbrannte Dampfmaschine aus dem Eingang seines Baus. Sofort rannten die beiden Steinewerfer zur Seite, und die anderen Jäger nahmen ihren Platz ein. Sie stemmten ihre Speere in die Erde und stellten zusätzlich einen Fuß auf die Schaftenden, um die Waffen zu stabilisieren. Danach konnten sie nichts anderes mehr tun, als tapfer die Stellung zu halten. Obwohl ich selbst das Geschehen aus sicherer Distanz durch meine Überwachungsdrohne beobachtete, spürte ich, wie sich meine Eingeweide vor Angst zusammenzogen. Bei Gelegenheiten wie dieser fragte ich mich, ob ich es mit der Authentizität meiner VR-Umgebung vielleicht ein wenig übertrieb. Es war überhaupt nicht nötig, dass ich Eingeweide besaß, geschweige denn, dass sie sich zusammenzogen.

Das Quasischwein rannte ungebremst in die aufgepflanzten Speere. Schnell war es, das musste man ihm lassen, aber nicht besonders klug. Ich hatte noch nie ein Quasischwein gesehen, das den Speerspitzen auszuweichen versuchte. Ein Jäger namens Fred wurde zur Seite geworfen, als sich sein Speer zunächst bog und dann auseinanderbrach. Er schrie, offenbar ebenso sehr vor Überraschung wie aufgrund der Schmerzen, und aus seinem Bein sprudelte Blut. Dabei fiel mir wieder einmal auf, dass sich deltanisches und menschliches Blut farblich fast exakt glichen.

Die anderen Deltaner hielten dem Ansturm stand, und das Quasischwein erhob sich von der eigenen Wucht getragen auf den Speerspitzen in die Luft. Einen Moment lang schien es beinahe zu schweben, bis es mit einem letzten Kreischen zu Boden krachte.

Die deltanischen Jäger zogen die Lippen zurück und entblößten ihre beeindruckenden Fangzähne. Argwöhnisch warteten sie ab, ob sich das Tier noch mal bewegen würde. Denn gelegentlich kam es vor, dass selbst derart schwer verwundete Quasischweine aufsprangen und erneut angriffen.

Vorsichtig schlich Bernie sich an. In einer Hand hielt er seinen Speer, in der anderen einen Knüppel. Aus möglichst großer Entfernung beugte er sich vor und piekte das Quasischwein in die Schnauze. Als es sich daraufhin nicht rührte, drehte er sich grinsend zu seinen Jagdkameraden um.

Natürlich grinste er nicht wirklich, sondern wackelte nach Art der Deltaner mit den Ohren, aber ich war inzwischen so sehr mit ihren gestischen und mimischen Eigenheiten vertraut, dass ich nicht länger über ihre Bedeutung nachdenken musste. Um die gesprochene Sprache kümmerte sich derweil eine Übersetzungssoftware, die Redewendungen und Metaphern zwischen Englisch und Deltanisch hin und her übertrug. Damit ich die einzelnen Deltaner im Auge behalten konnte, hatte ich es mir zur Gewohnheit gemacht, ihnen zufällig ausgewählte menschliche Namen zu geben.

Ohne die Übersetzungssoftware war eine Kommunikation zwischen Menschen und Deltanern unmöglich, da ihre Sprache für unsere Ohren wie ein Sammelsurium aus Grunzlauten, Knurren und Schluckauf klang. Und laut Archimedes, meinem Hauptansprechpartner, erinnerten menschliche Stimmen die Deltaner wiederum an leidenschaftlich-wild sich paarende Quasischweine. Reizend.

Mit ihren tonnenförmigen Körpern, den spindeldürren Gliedmaßen, den großen, extrem beweglichen Ohren und einer Mundpartie, die an die Schnauzen von wilden Ebern erinnerte, sahen die Deltaner wie eine Kreuzung aus Fledermäusen und Schweinen aus. Ihre Felle waren größtenteils grau, mit individuellen hellbraunen Mustern im Gesicht und am Rest des Kopfes. Die Deltaner waren die erste nichtmenschliche intelligente Lebensform, auf die ich bislang gestoßen war – und zwar bereits im zweiten Sonnensystem, das ich nach meinem Aufbruch von der Erde vor mehr als dreißig Jahren angesteuert hatte. Vielleicht war intelligentes Leben tatsächlich so verbreitet, wie Star Trek es uns hatte glauben machen wollen.

Bill sendete regelmäßig die neuesten Nachrichten aus Epsilon Eridani, die jedoch neunzehn Jahre lang unterwegs waren, bevor ich sie empfing. Falls mittlerweile auch einer der anderen Bobs auf eine außerirdische Intelligenz gestoßen sein sollte, hatte Bill möglicherweise noch nicht einmal davon erfahren und schon gar nicht den entsprechenden Bericht an uns weitergeleitet.

Nun richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf die Deltaner, die gerade damit begannen, ihre Jagd nachzubereiten.

Sie untersuchten Fred, der auf einem Felsen saß, deltanische Flüche ausstieß und sich eine Hand auf die Wunde presste, um die Blutung zu stoppen. Ich näherte mich mit der Drohne, und einer der Jäger trat beiseite, damit ich mir Fred genauer ansehen konnte.

Er hatte Glück gehabt. Die Verletzung, die er sich zugezogen hatte, als sein Speer zerbrochen war, wies unregelmäßige Wundränder auf, war jedoch nicht tief und schien sauber zu sein. Wenn das Quasischwein die Zähne in ihn geschlagen hätte, wäre er nun tot.

Mike tat so, als wollte er seinen Speer in die Wunde stoßen. »Tut das weh? Sag schon, tut das weh?«

Fred bleckte die Zähne. »Ja, sehr witzig. Nächstes Mal kannst du ja den kaputten Speer nehmen.«

Ungerührt erwiderte Mike sein Lächeln, und Bernie schlug Fred auf die Schulter. »Komm, sei keine Heulsuse. Es blutet schon fast nicht mehr.«

»Genau, dann lasst es uns mal aufhängen, damit es ausbluten kann«, sagte Mike und wickelte ein Seil ab, das er sich um den Oberkörper geschlungen hatte. Während er es über einen geeigneten Ast warf, schlang Bernie das Ende des Seils um die Hinterläufe des Kadavers.

Knoten binden zählt nicht gerade zu ihren Stärken. Die Verschnürung war sehr simpel und würde sich vermutlich lösen. Ich nahm mir vor, Archimedes ein paar Seemannsknoten beizubringen.

Während Mike und Bernie den Kadaver an dem Seil in die Höhe zogen und begannen, ihn auszunehmen, stimmten die übrigen Deltaner ein Dankeslied an. Einen Moment lang erwartete ich beinahe, dass sie ihrer Beute einen Jagderlaubnisschein ans Ohr heften würden. Aber dafür befand ich mich natürlich im falschen Jahrhundert und auf dem falschen Planeten, wo ich es mit einer anderen Spezies zu tun hatte.

Grinsend wandte ich mich vom Videofenster der Drohne ab und griff nach der Kaffeetasse. Marvin, der mir über die Schulter geschaut hatte, warf mir einen verwirrten Blick zu, aber ich sah nicht ein, wieso ich es ihm erklären sollte. Er müsste sich doch von sich aus daran erinnern können, wie der Ursprüngliche Bob vor langer Zeit mit seinem Dad auf die Jagd gegangen war. Wortlos zuckte ich mit den Schultern. Das musst du dir schon selbst zusammenreimen, mein Freund.

Marvin verdrehte die Augen und kehrte zum Lay-Z-Boy

zurück, den er stets erscheinen ließ, wenn er mich in meiner VR besuchte. Ich lehnte mich indes in meinem antiken Ohrensessel zurück und ließ mir von Jeeves Kaffee nachschenken. In allen VR-Umgebungen, in denen die Jeeves- KI zum Einsatz kam, sah sie wie John Cleese im Frack aus.

Während ich an dem Kaffee nippte, der wie immer perfekt schmeckte, betrachtete ich die Bibliothek um mich herum – die bis zur Decke reichenden Bücherregale, den großen, klassischen Kamin und die schmalen, bodentiefen Fenster, durch die permanent spätnachmittägliches Sonnenlicht hereinschien und den Raum erleuchtete. Und inmitten von alledem stand wie ein großes grelles Auge der mit rotem Cord bezogene Lay-Z-Boy, in den sich Marvin lümmelte.

Allerdings nur in der VR. In der echten Welt waren Marvin und ich leuchtende optoelektronische Würfel und in zwei verschiedenen Sonden installiert, die sich derzeit in einer Umlaufbahn um Delta Eridani 4 befanden. Doch früher waren wir Menschen gewesen und brauchten unsere VR-Umgebungen, um bei Verstand zu bleiben.

Spike kam herüber. Er sprang Marvin auf den Schoß und begann zu schnurren. Die KI der Katze agierte absolut realistisch, bis hin zu ihrem völligen Mangel an Loyalität. Ich schnaubte amüsiert und drehte mich zum Videofenster zurück.

Mittlerweile hatten die Jäger ihre Beute ausgeweidet. Im Grunde genommen hatten die Quasischweine nur wenig Ähnlichkeit mit irdischen Wildschweinen. Rein äußerlich erinnerten sie eher an Bären, aber sie besetzten die gleiche ökologische Nische und waren auch ebenso gut gelaunt und anhänglich wie ihre terrestrischen Entsprechungen.

Die Jagd auf diese Tiere war keineswegs eine einseitige Angelegenheit, und die Deltaner gingen dabei jedes Mal ein Risiko ein. Normalerweise unterlagen die Quasischweine, aber manchmal gelang es ihnen auch, einen oder zwei Jäger zu töten. Allerdings waren die Karten bei diesem Spiel noch mal neu gemischt worden, seitdem die Deltaner ihre Speere mit Feuersteinspitzen versahen. Jaja, mir war klar, dass ich damit gegen die Oberste Direktive verstoßen hatte. Blabla. Pfft. Auch wenn sich einer von uns Klonen Riker nannte und seine VR wie die Kommandobrücke der Enterprise gestaltet hatte, war dies hier nicht Star Trek.

Die Deltaner banden ihre Jagdbeute auf zwei Speere, die sich vier von ihnen auf die Schultern hoben. Mike winkte mich zu sich, und ich ließ meine Drohne zu seiner hinüberschweben. Zwei weitere Deltaner schlangen die Arme um Fred und halfen ihm auf. Sein Bein blutete zwar immer noch, und er hinkte arg, aber er würde es bis zum Dorf zurückschaffen.

Unsere Rückkehr glich einem Triumphzug, und ein paar der Jäger sangen ein Siegeslied. Die anderen scherzten und zogen einander freundschaftlich auf. Es erstaunte mich immer wieder, wie menschenähnlich sich die Deltaner verhielten. Manchmal überkam mich deswegen ein Gefühl der Nostalgie und Sehnsucht nach echten menschlichen Kontakten.

Bald hatten wir das Dorf erreicht, wo wir lachend begrüßt und gefeiert wurden. Ein erlegtes Quasischwein war immer ein Anlass zum Feiern. An diesem Abend würden die Hexghi ein Festmahl auftischen und noch eine ganze Woche lang ordentlich zu essen haben. Hexghi bedeutete so viel wie Familien an unserem Feuer. Diese Gruppe von Jägern gehörte zu Archimedes’ Hexghi, das ich mehr oder weniger als meine Familie adoptiert habe.

Mithilfe der anderen schaffte Fred es bis zu der Stelle, wo seine Familie lagerte und seine Gefährtin sich sofort rührend um ihn kümmerte. Einer der Jäger lief los und holte Cruella, die Medizinfrau. Seufzend machte ich mich auf eine meiner üblichen Auseinandersetzungen mit ihr gefasst.

Nach wenigen Augenblicken kehrte er mit Cruella und ihrer Gehilfin im Schlepptau zurück. Als sie sich bückte, um die Wunde zu inspizieren, steuerte ich die Drohne zu ihr hinüber. Anscheinend zu dicht für ihren Geschmack, denn Cruella schlug sie mit ausgestrecktem Arm so fest beiseite, dass sie mehrere Fuß weit davonflog, ehe die KMI sie wieder stabilisieren konnte. Die anderen Deltaner wichen erschrocken zurück. Einer von ihnen sah aus, als wollte er fliehen oder würde gleich ohnmächtig werden. Die Drohne war klein und ließ sich leicht herumschubsen. Aber immerhin war ich, na ja … der Himmelsgott.

Mir war schon seit längerer Zeit bewusst, dass die Medizinfrau nichts und niemanden fürchtete. Und sie zeigte sich auch nicht gerade offen für Ratschläge. Frustriert biss ich die Zähne zusammen und fragte mich, ob Cruella wohl diesmal auf meine Hinweise hören würde.

Fred beschäftigte offenbar der gleiche Gedanke. »Das wäre doch eine gute Gelegenheit, Baabs Vorschlag mit dem heißen Wasser auszuprobieren.«

Cruella warf erst ihm und dann meiner Drohne einen finsteren Blick zu. »Da du mich nicht zu brauchen scheinst, kann er ja vielleicht auch gleich deine Wunde verbinden.«

»Ach, bei den Eiern meiner Vorväter, Cruella«, stieß Mike hervor. »Probier doch wenigstens einmal etwas Neues aus. Schließlich hat Baab uns noch keinen einzigen schlechten Ratschlag gegeben.«

Cruella zischte ihn an, und im nächsten Moment brach zwischen den Jägern und ihr ein lautstarker Streit aus. Die Jäger waren meine treuesten Unterstützer. Kein Wunder, denn schließlich waren die Feuersteinspitzen, die Vorrichtung zur Begradigung von Speerschäften sowie die Faustkeile nur ein paar der Neuerungen gewesen, mit denen ich ihnen das Leben erleichtert hatte. Zumindest sie vertrauten darauf, dass ich nur das Beste für die Deltaner wollte.

Schließlich warf Cruella die Hände in die Luft. »Na schön!«, blaffte sie. »Dann machen wir es eben auf seine Weise. Aber wenn dir die Beine abfaulen, möchte ich kein Gewinsel von dir hören.« Sie drehte sich um und knurrte ihrer Gehilfin etwas zu, worauf die mit angelegten Ohren davoneilte.

Ein paar Minuten später kehrte sie mit einem gefüllten Schlauch und einem weichen Ledertuch zurück.

Cruella deutete auf den Schlauch. »Frisch abgekochtes Wasser.« Als Nächstes hielt sie das gegerbte Ledertuch hoch. »In gekochtem Wasser gewaschen.« Anschließend sah sie zornig in die Kamera der Drohne. »Und jetzt geh mir aus dem Weg.«

Ich konnte es kaum glauben, dass sie sich die Zeit nahm, die Wunde mit dem Tuch und dem gereinigten Wasser zu säubern. Das war wirklich mal ein Fortschritt. Zwar hatte sie sich nur darauf eingelassen, weil die Jäger sie so vehement dazu gedrängt hatten. Aber wenn Cruella es auch in Zukunft so machte, würden die Infektionsfälle dramatisch zurückgehen.

Ich kippte die Drohne kurz nach vorn, um ein Nicken anzudeuten, und schickte sie zum Rand der Siedlung. Danach kehrte ich wieder in meine VR zurück und schloss das Videofenster. Dass die Medizinfrau von ihrer hergebrachten Heilmethode abrückte, war ein riesiger Erfolg, wofür ich ihr gern zum Dank aus den Augen ging. So konnte sie ihre Würde wahren und würde sich nicht genötigt fühlen, bei der nächsten Gelegenheit wieder auf stur zu schalten.

Damit würde ich zwar den Rest der Feierlichkeiten verpassen, aber das Schicksal der erlegten Quasischweine war mir wohlvertraut und mittlerweile gut dokumentiert. Vermutlich schmeckte es köstlich. Als ich an Rippchen in Barbecue-Sauce dachte, lief mir das Wasser im Mund zusammen. Da ich ein Computer war, benötigte ich natürlich kein Essen mehr, aber in der VR konnte ich tun und lassen, was ich wollte. Und da ich bereits eine Kaffeesimulation geschaffen hatte, konnte ich genauso gut auch noch Spareribs programmieren.

Spike schlich über den Schreibtisch und legte sich mit einem Miauen auf die Tastatur. Ich ließ mir von Jeeves noch einmal Kaffee nachschenken und drehte mich dann zu Marvin um. »Okay, die Show ist vorbei. Was gibt’s Neues? Wolltest du nicht etwas mit mir besprechen?«

Marvin nickte und erhob sich. Er ließ den La-Z-Boy verschwinden und kam zu meinem Schreibtisch herüber. Nachdem er sich einen Ohrensessel herangezogen hatte, ließ er über der Tischplatte einen Globus von Eden erscheinen. Einer der Kontinente war zu einem kleinen Teil rot umrandet. »Das ist das derzeitige Verbreitungsgebiet der Deltaner. Das alte Dorf habe ich aus der Darstellung rausgenommen, da dort niemand mehr ist …«

»Außerdem war es eher ein Flüchtlingslager als eine dauerhafte Siedlung«, fügte ich hinzu. »Sie haben nicht einmal eine ganze Generation lang dort gelebt.«

Marvin nickte. »Ich habe viel nachgeforscht und einige Ausgrabungen unternommen. Daher kann ich die historischen deltanischen Wanderungsbewegungen inzwischen ziemlich genau nachzeichnen.«

Als ich seinen erwartungsvollen Blick bemerkte, bedeutete ich ihm mit einer kreisenden Handbewegung, dass ich gern mehr erfahren würde.

»Sie scheinen ursprünglich nicht aus diesem Gebiet zu stammen«, fuhr er fort. »Offenbar hat sich der vernunftbegabte Zweig der Deltaner vielmehr hier entwickelt …« Marvin ließ den Globus rotieren und deutete auf einen anderen Teil des Kontinents. »… und ist erst anschließend in das derzeitige Areal umgezogen.«

»Und an ihrer Geburtsstätte lebt heute niemand mehr? Wieso?«

»Das ist es, was ich nicht verstehe, Bob. Ich habe zwar zahlreiche Hinweise auf verlassene deltanische Siedlungen entdeckt, aber viel zu wenige Gräber angesichts der Bevölkerungsdichte, von der wir ausgehen müssen.«

»Raubtiere?«

»Das habe ich zuerst auch vermutet. Aber wenn das stimmt, hätte ich doch hier und da auf ihre sterblichen Überreste stoßen müssen. Du hast doch gesehen, was die Gorilloiden von ihren Mahlzeiten übrig lassen. Sie sind nicht gerade sehr gründliche Nahrungsverwerter.«

Ich betrachtete den Globus und strich mir nachdenklich über das Kinn. »Das ergibt alles keinen Sinn. Laut deinen Aufzeichnungen hat es im Ursprungsgebiet überhaupt keine Gorilloiden gegeben. Also haben die Deltaner einen vergleichsweise sicheren Lebensraum zugunsten eines gefährlicheren Gebiets aufgegeben.«

»Und sind anschließend aus diesem gefährlicheren Gebiet geflohen und in ein noch gefährlicheres abgewandert.« Marvin schüttelte ratlos den Kopf. »Sie sind keine Dummköpfe. Vielleicht ist ihre Intelligenz noch nicht ganz auf menschlichem Niveau, aber sie verhalten sich grundsätzlich vernünftig. Irgendetwas übersehen wir.«

Mit einem Schulterzucken versetzte ich den Globus in eine Kreiselbewegung. »Das ist rätselhaft, Marvin, und Bobs lieben Rätsel.« Wir grinsten uns an. »Das Wichtigste ist jedoch, dass sie hier viel sicherer sind als an dem Ort, wo wir sie gefunden haben. Die Deltaner haben sich in Camelot gut eingelebt. Es gibt hier genug Wild für sie, und die Gorilloiden begreifen allmählich, dass es besser ist, sie nicht länger zu jagen.«

»Du willst ihre Siedlung wirklich Camelot nennen?« Marvin sah mich vorwurfsvoll an. »Jedes Mal, wenn du das sagst, muss ich an die Ritter der Tafelrunde denken.«

Ich grinste ihn mit erhobenen Augenbrauen an. »Das wäre doch ein gutes Leitbild.«

Marvin verdrehte die Augen und hielt den Globus an. »Ich werde auf jeden Fall mit meinen Untersuchungen fortfahren, aber die Voraussetzungen hier sind nicht sehr günstig. Auf der Erde konnten die Forscher auf vorhandenem Wissen aufbauen, und sie erkundeten eine Welt, die sie verstanden. Hier auf Eden ist alles neu für uns.«

»Stimmt. Und trotzdem haben sie Jahre gebraucht, um zum Beispiel das Schicksal der Anasazi-Kultur zu ergründen.« Ich ließ mich zurücksinken und schüttelte den Kopf. »Ja, ich verstehe, Marvin. Und es freut mich, dass du dich diesem Projekt widmen willst. Als ich hier ankam, habe ich zwar ein paar erste Erkundungen angestellt, aber das war damals nicht das Wichtigste für mich.«

Schmunzelnd nickte Marvin mir zu und verschwand aus meiner VR.

 

Dennis E. Taylor: „Wir sind Götter“ ∙ Roman ∙ Aus dem Amerikanischen von Urban Hofstetter ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2018 ∙ 448 Seiten ∙ Preis des E-Books € 11,99 (im Shop)

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