8. April 2019 1 Likes

Die Existenz der Menschheit steht auf dem Spiel

Eine erste Leseprobe aus Cixin Lius neuem Trisolaris-Roman „Jenseits der Zeit“

Lesezeit: 9 min.

Endlich ist es soweit: Das größte Science-Fiction-Epos unserer Zeit steuert auf seinen atemberaubenden Höhepunkt zu. Nach „Die drei Sonnen“ (im Shop) und „Der dunkle Wald“ (im Shop) ist ab heute auch „Jenseits der Zeit“ (im Shop) der abschließende dritte Roman von Cixin Lius großer Trisolaris-Trilogie auf Deutsch erhältlich. Hier gibt es schon einmal einen ersten Vorgeschmack auf den neuen Band.

 

 

Jahr 1 der Krise

 

Yang Dong wollte sich retten, doch sie wusste, dass es wenig Hoffnung gab.

Sie stand auf dem Balkon im obersten Stockwerk des Kontrollzentrums und sah auf den bereits stillgelegten Teilchenbeschleuniger hinunter. Aus dieser Höhe konnte sie gerade so die ganze Anlage mit ihren zwanzig Kilometern Umfang überblicken. Die Röhre des Beschleunigers war nicht, wie sonst üblich, als Untergrundtunnel angelegt worden, sondern überirdisch in einer Pipeline aus Beton. Eben ging die Sonne hinter der ringförmigen Konstruktion unter. Der Anblick hatte etwas Endgültiges.

Ein Endpunkt ist erreicht. Welcher? Hoffentlich markiert er nicht mehr als das Ende der Physik.

Früher war für Yang Dong eines gewiss gewesen: Mochten das Leben und die Welt noch so hässlich sein, an ihren mikroskopischen und makroskopischen Ausläufern war alles harmonisch und perfekt. Das tägliche Leben war nur der Schaum auf dem Meer der Vollkommenheit. Doch nun offenbarte sich ihr das tägliche Leben als eine schöne Muschel, die furchtbar chaotische und hässliche Mikrowelten einschloss und von scheußlichen Makrowelten umgeben war.

Ich habe Angst.

Wenn sie nur aufhören könnte, sich über derlei Dinge den Kopf zu zerbrechen. Sie könnte ja auch etwas anderes machen als Physik. Sie könnte heiraten, Kinder bekommen und ein friedliches, zufriedenes Leben führen wie so viele andere Frauen. Allerdings wäre ein solches Leben für Yang Dong nur ein halbes Leben.

Und dann war da noch die Sache mit ihrer Mutter, Ye Wenjie. Rein zufällig hatte sie auf dem Computer ihrer Mutter auf mehreren Ebenen verschlüsselte Nachrichten entdeckt, was Yang Dongs erstauntes Interesse geweckt hatte.

Wie viele ältere Leute war ihre Mutter mit dem Internet und den Speichermechanismen ihres Computers nicht besonders vertraut. Daher hatte sie die Nachrichten einfach nur gelöscht, statt sie digital zu schreddern. Ihr war nicht bewusst, dass die Daten trotz der Neuformatierung der Festplatte leicht wieder abrufbar waren. Zum ersten Mal im Leben hinterging Yang Dong ihre Mutter und stellte die Dateien aus den gelöschten Nachrichten wieder her. Die Informationen waren so umfangreich, dass sie mehrere Tage brauchte, um sie zu lesen. In diesen Tagen erfuhr sie alles über Trisolaris und das Geheimnis, das Ye Wenjie und die Außerirdischen teilten.

Yang Dong war fassungslos. Die Mutter, auf die sie sich ihr ganzes Leben lang verlassen hatte, war plötzlich eine Fremde, mehr noch: ein Mensch, wie er nach ihrer Vorstellung auf der Welt gar nicht existieren konnte. Sie zur Rede zu stellen war undenkbar. Ausgeschlossen. Sobald sie sie danach fragte, würde ihre Mutter für immer zu einer Fremden werden, und die Frau, die sie großgezogen hatte, wäre unwiederbringlich verloren. Lieber der Mutter ihr Geheimnis lassen, so tun, als ob nichts geschehen wäre, und weiterleben wie bisher. Auch wenn es natürlich bloß noch ein halbes Leben sein würde.

Aber was war so schlecht daran, ein halbes Leben zu leben? Soweit sie es beurteilen konnte, taten das viele um sie herum. Solange man sich anzupassen wusste und Erinnerungen verdrängte, konnte man mit einem halben Leben ganz zufrieden, sogar glücklich sein.

Doch mit dem Ende der Physik und dem Geheimnis ihrer Mutter hatte Yang Dong gleich zwei halbe Leben verloren und damit zusammengenommen ein ganzes. Was blieb ihr jetzt noch?

Yang Dong lehnte sich über die Brüstung und starrte in den Abgrund unter ihr, verängstigt und verlockt zugleich. Als sie spürte, wie das Geländer unter ihrem Gewicht leicht nachgab, zuckte sie zusammen wie von einem elektrischen Schlag getroffen und kehrte verängstigt in die Computerhalle zurück.

Dort standen die Terminals für den gigantischen Hauptrechner, der die vom Teilchenbeschleuniger erzeugten Daten auswertete. Vor ein paar Tagen waren sämtliche Terminals heruntergefahren worden. Jetzt waren ein paar wenige eingeschaltet, was Yang Dong als tröstlich empfand, selbst wenn es eindeutig nichts mehr mit dem Teilchenbeschleuniger zu tun hatte. Der gigantische Rechner wurde jetzt für andere Projekte verwendet.

Nur noch ein weiterer Mensch befand sich im Raum, ein junger Mann, der eine Brille mit einem auffälligen, leuchtend grünen Gestell trug. Yang Dong erklärte ihm, dass sie nur ein paar persönliche Gegenstände abholen wolle. Doch als sie ihren Namen nannte, erhob sich Grünbrille aufgeregt von seinem Platz und begann, ihr das aktuelle Projekt am Großrechner zu erläutern.

Es ging um ein mathematisches Modell der Erde, mit dem die Entwicklungsgeschichte der Planetenoberfläche von der Vergangenheit bis in die Zukunft simuliert werden sollte. Anders als bei vergleichbaren Studien zuvor wurden in diesem Modell die Daten biologischer, geologischer, astronomischer, atmosphärischer und ozeanischer Elemente miteinander kombiniert. Grünbrille lenkte ihre Aufmerksamkeit auf ein paar großformatige Bildschirme, auf denen anstelle der üblichen langen Zahlenreihen und Kurvendiagramme grellbunte Bilder zu sehen waren, bei denen es sich offenbar um Satellitenaufnahmen der Ozeane und Kontinente handelte. Der junge Mann vergrößerte die Bilder so lange per Mausklick, bis sie Flüsse und Wälder erkennen konnte. Yang Dong war, als wehte ein Hauch von Natur durch diesen Ort, der bisher von abstrakten Zahlen und Theorien dominiert worden war. Sie fühlte sich wie befreit.

Als Grünbrille seinen Vortrag beendet hatte, holte sie ihre Sachen, verabschiedete sich höflich und wandte sich zum Gehen. Sie spürte seine Blicke im Rücken, doch das war sie von Männern gewohnt, und es störte sie nicht. Stattdessen erschienen ihr diese Blicke wie angenehm wärmende Sonnenstrahlen im Winter.

Plötzlich hatte sie das Bedürfnis, mit jemandem zu reden, und so blieb sie stehen und drehte sich zu Grünbrille um. »Glauben Sie an Gott?«

Ihre eigene Frage überraschte sie, aber vor dem Hintergrund der Bilder, die sie eben betrachtet hatten, kam sie ihr nicht unangemessen vor.

Grünbrille war nicht minder verdutzt. Mit offenem Mund starrte er sie an, und es dauerte einen Moment, bis er vorsichtig nachhakte: »An was für eine Art Gott denken Sie dabei?«

»Na, eben Gott.« Schon fühlte sie sich wieder erschöpft. Sie hatte keine Lust, etwas zu erklären.

»Nein.«

Yang Dong deutete auf die großen Monitore. »Aber die physikalischen Parameter, die menschliches Leben ermöglichen, sind extrem unbarmherzig. Nehmen Sie zum Beispiel Wasser, das sich nur in einem sehr kleinen Temperaturbereich verflüssigt. Oder das Universum insgesamt: Wäre der Urknall nur an einer klitzekleinen Stelle anders verlaufen, gäbe es keine schweren Elemente und damit kein Leben. Ist das kein Beweis für Intelligent Design

Grünbrille schüttelte den Kopf. »Mit dem Urknall kenne ich mich nicht gut genug aus, doch was die Erdatmosphäre betrifft, muss ich widersprechen. Die Erde hat das Leben hervorgebracht, aber das Leben hat auch die Erde verändert. Unsere gegenwärtigen Umweltbedingungen sind das Ergebnis dieser Interaktion.« Er griff zur Maus und öffnete eine Datei. »Wie wär’s mit einer Simulation?«

Auf dem Monitor erschien eine Konfigurationsschnittstelle, ein Fenster voller Zahlenkolonnen, bei deren Anblick einem schwindlig werden konnte. Er klickte in die obere Ecke, und die Ziffern verschwanden. »Sehen wir uns jetzt mal an, wie sich die Erde entwickelt hätte, wenn ich den Faktor ›Leben‹ deaktiviere. Ich reduziere die Pixel in der Darstellung, damit wir nicht zu viel Zeit mit ihrer Berechnung verlieren.«

Yang Dong warf einen Blick auf den Großrechner, der jetzt mit voller Kapazität lief, ein unglaublicher Energiefresser, der so viel Strom verbrauchte wie eine Kleinstadt. Doch sie sagte Grünbrille nicht, er solle aufhören.

Vor ihren Augen entstand ein neuer Planet. Seine Oberfläche war noch rot glühend wie ein Stück Kohle, das man gerade aus dem Feuer geholt hatte. Die Zeit verstrich in geologischen Epochen, und die heiße Kugel kühlte allmählich ab. Das zeitlupenartige Wechselspiel der Farben und Linien auf ihrer Oberfläche wirkte hypnotisierend. Wenige Minuten später zeigte der Monitor einen orangefarbenen Planeten. Die Simulation war abgeschlossen.

»Die Berechnungen sind sehr grob. Für präzisere bräuchten

wir mehr als einen Monat.« Grünbrille vergrößerte die Planetenoberfläche und fuhr mit dem Cursor über die Darstellung. Ausgedehnte Wüstenflächen, eine Gruppe hoher Berge mit seltsamen Formen, eine runde Aushöhlung wie ein Krater.

»Was ist das?«, fragte Yang Dong.

»Die Erde. So würde ihre Oberfläche heute aussehen, wenn es kein Leben gäbe.«

»Aber … wo sind die Meere?«

»Es gibt keine Meere. Auch keine Flüsse. Die gesamte Erdoberfläche ist trocken.«

»Wollen Sie damit sagen, dass es ohne Leben auf der Erde kein Wasser geben würde?«

»Vermutlich wäre die Wirklichkeit noch schlimmer. Das ist, wie gesagt, nur eine grobe Simulation. Aber zumindest zeigt sie, wie viel Einfluss das Leben auf den gegenwärtigen Zustand der Erde hat.«

»Aber …«

»Glauben Sie etwa, das Leben wäre nur eine dünne, weiche und zerbrechliche Schicht auf der Erdoberfläche?«

»Stimmt das denn nicht?«

»Nur, wenn Sie den Zeitfaktor außer Acht lassen. Stellen Sie sich eine Ameisenkolonne vor, die ununterbrochen reiskorngroße Stücke des Tai Shan abtransportiert. Binnen einer Milliarde Jahre würde sie den Berg vollständig abtragen. Solange man dem Leben genügend Zeit lässt, ist es stärker als Stein und Metall und mächtiger als Taifune und Vulkane.«

»Aber die Entstehung von Bergen hängt von geologischen Kräften ab!«

»Nicht unbedingt. Das Leben mag vielleicht nicht in der Lage sein, Berge entstehen zu lassen, aber es kann die Verteilung von Gebirgen verändern. Wenn wir zum Beispiel drei Berge haben, von denen nur zwei mit Vegetation bedeckt sind, dann würde sich der ohne Vegetation durch die Bodenerosion bald verflachen. Mit ›bald‹ meine ich im Verlauf von ein paar Millionen Jahren, was geologisch gesehen nur ein Wimpernschlag ist.«

»Wie sind dann die Meere verschwunden?«

»Dazu müssten wir uns die Aufzeichnungen der Simulation ansehen, das wäre ziemlich aufwendig. Wir können aber davon ausgehen, dass Pflanzen, Tiere und Bakterien eine wichtige Rolle für den gegenwärtigen Zustand unserer Atmosphäre spielen. Ohne Leben wäre sie vollkommen anders und möglicherweise nicht in der Lage, die Erdoberfläche gegen Solarwinde und UV-Strahlen zu schützen. Ergo würden die Ozeane verdunsten, und schon bald sähe es auf der Erde aus wie auf der Venus. Der Wasserdampf würde im Laufe der Zeit ins Universum entweichen. Nach wenigen Milliarden Jahren wäre die Erde staubtrocken.«

Yang Dong starrte schweigend auf die Darstellung der ausgetrockneten orangefarbenen Kugel.

»Daher ist die Erde, auf der wir im Moment leben, eine Heimat, die sich das Leben selbst geschaffen hat. Mit einem Gott hat das nichts zu tun.« Offenbar sehr zufrieden mit seiner Rede machte Grünbrille eine Geste, als wollte er den Monitor umarmen.

Eigentlich war Yang Dong gerade nicht in der Stimmung für derartige Gespräche, doch als Grünbrille bei der Konfiguration das Leben deaktiviert hatte, war ihr plötzlich etwas eingefallen. Und so stellte sie die nächste furchterregende Frage: »Wie sieht es mit dem Universum aus?«

»Dem Universum?«

»Wenn wir ein ähnliches mathematisches Simulationsmodell für das gesamte Universum erstellen und den Faktor Leben aus der Konfiguration herausnehmen würden, wie sähe dann am Ende das Universum aus?«

Grünbrille überlegte kurz. »Es würde genauso aussehen. Als ich eben vom Einfluss des Lebens auf die Umwelt sprach, habe ich mich ausschließlich auf die Erde bezogen. Insgesamt gibt es jedoch so wenig Leben, dass es so gut wie keinen Einfluss auf die Entwicklung des Universums hat.«

Yang Dong wollte etwas sagen, überlegte es sich dann aber anders. Stattdessen rang sie sich ein anerkennendes Lächeln ab und verabschiedete sich ein zweites Mal. Draußen vor dem Gebäude hob sie den Kopf und blickte in den Sternenhimmel.

Aus den geheimen Dokumenten ihrer Mutter wusste sie, dass das Leben gar nicht so selten war. Genau genommen schien das Universum sogar ziemlich überfüllt zu sein.

Wie sehr ist es seit seinem Anbeginn also vom Leben verändert worden?

Die Frage ließ Yang Dong erschaudern.

Nun gab es kein Halten mehr. Sie bemühte sich zwar, nicht mehr weiter nachzudenken und ihren Geist in ein schwarzes Nichts aufzulösen, doch in ihrem Bewusstsein war bereits eine neue Frage aufgetaucht, die sich nicht mehr vertreiben ließ:

Was, wenn die Natur gar nicht natürlichen Ursprungs ist?

 

Cixin Liu: „Jenseits der Zeit“ ∙ Roman ∙ Aus dem Chinesischen von Karin Betz ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2019 ∙ 992 Seiten ∙ Preis des E-Books € 13,99 (im Shop)

 

Kommentare

Zum Verfassen von Kommentaren bitte Anmelden oder Registrieren.
Sie benötigen einen Webbrowser mit aktiviertem JavaScript um alle Features dieser Seite nutzen zu können.