Game of Thrones of dem Mond
Eine erste Leseprobe aus Ian McDonalds Roman „Luna - Drachenmond“
Verschwörung, Erpressung, Mord und Affären – bereits über zwei Bände durften wir die fünf mächtigen Familienclans auf dem Mond bei ihren Kabalen begleiten. Nun hat der britische Kultautor Ian McDonald mit „Drachenmond“ (im Shop) den dritten und letzten Band seiner epischen „Luna“-Trilogie (im Shop)vorgelegt, in dem es zum großen Showdown zwischen der Familie Corta und ihren Rivalen kommt. Doch Ian McDonald wäre nicht Ian McDonald würde er zum Schluss nicht noch mit einigen Überraschungen aufwarten …
1
Acht Gestalten eskortieren den Sarg über das Mare Fecunditatis. Vier als Träger, jeweils an einem Griff; vier als Wachen nach allen Himmelsrichtungen: Nord, Süd, Ost und West. In schwer gepanzerten Schutzanzügen schlurfen sie dahin. Von ihren Stiefeln steigt hoch der Staub auf. Beim Befördern eines Sarges zählt vor allem Koordination, und die Träger haben den richtigen Rhythmus noch nicht gefunden. Sie torkeln, sie schlingern, sie hinterlassen verschmierte Fußabdrücke auf dem Regolith. Sie bewegen sich wie Leute, für die das Gehen auf der Mondoberfläche und die dafür notwendige klobige Kleidung ungewohnt sind. Sieben weiße Schutzanzüge, nur der letzte ist scharlachrot und golden. Jeder weiße Anzug trägt ein Emblem aus einer anderen Zeit, von einem anderen Ort: ein Schwert, eine Axt, einen Fächer, einen Spiegel, einen Bogen, einen aufgehenden Mond. Der Vorderste marschiert mithilfe eines zusammengerollten Regenschirms mit silberner Spitze, dessen Griff ein menschliches Gesicht ist, eine Hälfte lebend, die andere Hälfte nackter Knochen. Die Spitze stanzt präzise Löcher in den Regolith.
Im Mare Fecunditatis hat es noch nie geregnet.
Der Sarg hat ein Bullauge. Das wäre unpassend, wenn es sich bei dem Schrein tatsächlich um einen Sarg handeln würde. In Wirklichkeit ist es eine Versorgungskapsel, die dem Schutz und der Lebenserhaltung Verletzter auf der Mondoberfläche dient. Hinter dem Fenster ist das Gesicht eines jungen Mannes auszumachen, die Haut braun, die Wangenknochen hoch und stark, das Haar dicht und schwarz, die Lippen voll, die Augen geschlossen. Es ist Lucasinho Corta. Er liegt seit zehn Tagen im Koma; zehn Tage, die den Mond bis in seinen Kern erschüttert haben wie eine Glocke aus Fels. Zehn Tage, in denen ein Adler gestürzt und ein anderer aufgestiegen ist, in denen auf den steinernen Meeren von Luna ein Softwarekrieg getobt hat und die alte Ordnung des Mondes durch die neue Ordnung der Erde hinweggefegt wurde.
Die unbeholfenen Gestalten sind die Ordensschwestern der Herren des Jetzt, die Lucasinho Corta nach Meridian tragen. Sieben Schwestern, dazu das Schlusslicht in unpassendem Scharlachrot und Gold. Luna Corta.
»Hat sich das Schiff schon gemeldet?«
Mãe de Santo Odunlade zischt frustriert und starrt auf die Felder ihrer Helmanzeige, um die Fragerin zu identifizieren. Der Orden der Herren des Jetzt schreibt in seiner Glaubenslehre vor, das Netzwerk zu meiden. Da ist es keine Kleinigkeit, den Umgang mit dem Interface eines Schutzanzugs zu erlernen.
Schließlich erkennt die Mãe de Santo Madrinha Elis als die Sprecherin. »Bald.« Sie hebt den Schirm und deutet zum östlichen Horizont, wo das Schiff aus Meridian landen soll. Der Schirm ist das Wahrzeichen von Oxalá, dem Himmelsvater. Wie das Schwert, die Axt, der Spiegel, der Bogen, der Fächer und die Mondsichel ist er ein Werkzeug der Orixás. Die Ordensschwestern tragen nicht nur den schlafenden Prinzen, sondern auch die heiligen Embleme. Alle Santinhos begreifen diese Symbolik. João de Deus ist nicht mehr die Stadt der Heiligen.
Schiff im Anflug, meldet der Anzug der Mãe de Santo. Im gleichen Augenblick scheint der Horizont in den Himmel zu springen. Rover. Dutzende von ihnen. Schnell und hart schießen sie heran. Auf den Gesichtsfeldanzeigen blitzen Hunderte von roten Kontaktpunkten auf.
Die Mackenzies sind da.
»Lasst euch nicht beirren, meine Schwestern«, ruft Mãe Odunlade. Die Prozession marschiert auf die Linie gleißender Scheinwerfer zu. Obwohl die Lichter blenden, hebt sie nicht den Arm vor die Augen.
Schiff setzt zur Landung an, Mãe, verkündet der Anzug.
Ein Rover löst sich nun aus der Einkreisung und schiebt sich auf Mãe Odunlade zu. Sie hält den heiligen Regenschirm in die Höhe. Der Zug kommt zum Stillstand. Sitze fahren nach unten, Sicherheitsbügel schnappen nach oben, Gestalten in den grün-weißen Sasuits von Mackenzie Helium springen auf den Regolith. Sie greifen über den Rücken nach Halftern und ziehen längliche Gegenstände heraus. Gewehre.
»Sie können hier nicht durch, Mutter.«
Mãe Odunlade ärgert sich über die Dreistigkeit. Kein Respekt. Nicht einmal Portugiesisch. Sie entdeckt die Sprecherin auf ihrer Blickfeldanzeige. »Wer sind Sie?«
»Ich bin Loysa Divinagracia«, antwortet die Frau im Zentrum des bewaffneten Trupps. »Ich bin Sicherheitsleiterin von Mackenzie Helium für die Viertelkugel Nordost.«
»Dieser junge Mann benötigt fortschrittlichste medizinische Versorgung.«
»Für Mackenzie Helium wäre es eine Ehre, diese Dienste in unserem voll ausgestatteten Unternehmensklinikum anzubieten.«
Sechzig Sekunden bis zur Landung. Das Schiff ist der hellste, schnellste Stern am Himmel.
Ich bringe ihn zu seinem Vater.« Die Mãe de Santo tritt nach vorn.
»Das kann ich nicht zulassen.« Loysa Divinagracia legt die Hand auf die Brustplatte der Ordensschwester.
Mãe Odunlade klatscht den Arm der Frau mit dem heiligen Schirm beiseite und setzt mit einem Schlag gegen die Helmseite nach. Was für eine Frechheit. Polymer splittert, Atmosphäre entweicht, dann versiegelt sich der Anzug, bis er wieder dicht ist.
Gewehre werden angelegt.
Die Schwestern der Herren des Jetzt drängen sich um die Versorgungskapsel. Das Schwert Ogums wird gezogen, die Axt Xangôs, der Bogen, der rasiermesserscharfe Fächer. Was würde die Verehrung der Orixás bedeuten, wenn ihre Embleme keinen praktischen Nutzen hätten?
Luna Corta hebt ihre sperrigen Arme auf Schulterhöhe. Scheiden entriegeln sich, Magnete greifen: Messer fliegen in ihre Hände und rasten ein. Das Licht der Erde im ersten Viertel, das tief über dem westlichen Rand der Welt liegt, glitzert auf den Schneiden der Meteoreisenklingen: die Schlachtenmesser der Cortas.
Wir haben sie sicher aufbewahrt, sagte Mãe de Santo Odunlade, beschienen vom Schimmer der Biolichter in Lucasinhos Krankenzimmer im Ordenshaus. Bis ein Corta kommt, der kühn und großherzig ist, der ohne Geiz und Feigheit für die Familie kämpft und sie verteidigt. Ein Corta, der dieser Klingen würdig ist.
Carlinhos war der Kämpfer der Familie. Ihm gehörten diese Messer vor ihr. Einmal führte er ihr mit Essstäbchen die Technik vor. Das war ihr unheimlich: die Schnelligkeit, die Veränderung, die ihn zu einem völlig fremden Menschen machte.
Diese Messer haben Carlinhos den Tod gebracht.
Madrinha Elis tritt zwischen Luna und den Ring von Gewehren. »Steck die Messer weg, Luna.«
»Das tue ich nicht«, entgegnet Luna. »Ich bin eine Corta, und Cortas schneiden.«
»Folge deiner Madrinha, störrisches Kind«, wirft Mãe de Santo Odunlade ein. »Es ist nur der Anzug, der dich groß macht.«
Mit einem missmutigen Fauchen lässt sich Luna zurückfallen, ohne die herrlichen Messer zurück in die Scheiden zu schieben.
»Lasst uns durch«, fordert Mãe Odunlade über den gemeinsamen Kanal.
Und Luna hört die Antwort der Mackenzie-Frau: »Gebt uns Lucasinho Corta, dann könnt ihr gehen, wohin ihr wollt.«
»Nein«, flüstert Luna.
Im nächsten Moment werden sie, die Schwestern, die Kapsel und die Mackenzie-Fechter in blendende Helle getaucht. Das Gleißen zerfällt in Hunderte von einzelnen Splittern: Rover, Staubräder, die Navigationslichter von Schutzanzügen und Sasuits, die alle über den dunklen Regolith gerast kommen. Hinter ihnen erhebt sich eine riesige Staubfahne, die im gebrochenen Schein der Erde Mondbögen wirft. Sie steuern direkt auf die Mackenzies zu. In letzter Minute fliehen Fechter und Gewehrschützen, als ihre Linie von einem Keil von Rovern und Staubrädern und einem Heer rennender Staubfresser durchbrochen wird.
An Antennen und Masten, an Kabeln und Streben, an Rovern und Rucksäcken, gemalt auf Helme und gepanzerte Brustplatten, spritzlackiert, schnellgedruckt, mit vakuumbeständigem Marker gezeichnet: die halb schwarze, halb weiße Maske unserer Herrin der tausend Tode, Dona Luna.
João de Deus hat sich erhoben.
Der Keil von Angreifern entfaltet sich zu einer Phalanx von Spießen und Speeren. Staubbiker stützen Stangen auf Fußrasten. Als kleines Kind hat Luna so etwas Ähnliches in einem verrückten alten Film von der Erde gesehen: Metallmänner, die mit langen Piken unter dem Arm auf großen Metalltieren saßen. Ritter in Rüstung, erklärt Lunas Vertraute, die sich mit ihr erinnert. Ritter mit Lanzen.
Hoch über den feindlichen Lagern flackern blaue Lichter: die Lagekontrolldüsen eines WTO-Mondschiffs, das hinter der Mackenzie-Linie zu einem sicheren Landeplatz manövriert. Mit einem letzten kurzen Zünden des Haupttriebwerks gleitet das hässliche Konglomerat aus Treibstofftanks, Kühlmodulen und Stützstreben nach unten.
Stulpen und Handschuhe spannen sich um Speerschäfte. Piken gehen in Stellung. Finger umklammern die Lenkstangen von Staubrädern.
»Luna«, mahnt Madrinha Elis.
»Fertig«, antwortet Luna. Ihr Anzug ist bereit, die Stromreserven sind aktiviert. Sie muss nur den Befehl geben, dann läuft er los, schneller, als ihre eigenen Beine sie jemals tragen könnten. Sie weiß, zu welchen Leistungen ein Standardanzug fähig ist, denn sie war darauf angewiesen, als sie Lucasinho, anoxisch und praktisch schon tot, in den Bunker in Boa Vista brachte. »Ich hab das schon mal gemacht.«
Der Staub, den das Mondschiff mit seinem Senkflug aufwirbelt, umhüllt Santinhos und Mac kenzies. Madrinha Elis ruft: »Lauf, Kind.«
»Los«, befiehlt sie, doch der Anzug ist bereits in Bewegung.
Genau wie die Mackenzies. Das Überraschungsmoment ist dahin; Rover scheren aus, in der Absicht, die Kavallerie von Staubrädern zu überholen und die Gruppe um Lucasinho vom Schiff abzuschneiden. Fußsoldaten der Santinhos, die den Weg dorthin frei halten wollen, stürmen gegen die Verbände der Mackenzies an.
Jemand stürzt. Eine Gestalt in einem Sasuit verdreht sich und geht zu Boden. Ein Panzeranzug zersplittert in spritzende Scherben. Die Mackenzies haben das Feuer eröffnet. Ein Helm zerschellt. Ein Kopf zerplatzt zu Brei. Nacheinander fallen die Banner von Dona Luna. Im Dahinrasen bemerkt Luna das Blut, die Fleischfetzen, die ins Vakuum tropfenden Körperflüssigkeiten.
Taumelnd und rollend sinkt Irmã Loa mit Iansãs Sichel an Lunas Seite zu Boden. Die obere Hälfte ihres Schädels ist abgerissen. Überall um Luna fliegen unsichtbar die Kugeln, doch sie darf nicht an sie denken, darf an nichts anderes denken als an das Mondschiff, das gerade mit dem Fahrwerk aufsetzt und aus seiner Transportkapsel eine Rampe entfaltet.
»Luna!« Mãe Odunlade auf dem Privatkanal. »Nimm die rechte Kastenseite. Der Anzug schafft das.«
»Mãe …«
»Elis hält die andere Seite.«
»Mãe …«
»Keine Widerrede, Kind!«
Ihre gepanzerte Hand schließt sich um einen Griff. Die Kreisel stabilisieren das Gewicht. Sie sieht, wie ihre Madrinha nach dem Griff gegenüber fasst.
Die Santinhos stellen sich gegen die Mackenzies. Zwei, zehn, zwanzig fallen unter vernichtendem Feuer, doch immer wieder rücken Speere und Spieße nach. Nahkampf, gewalttätig, intim, leidenschaftlich wie Sex. Speerspitzen dringen ein, durchbohren Menschen von vorn bis hinten, zerfetzen Anzüge, Haut, Knochen, zertrümmern Visiere, durchstoßen Gesichter, Schädel, Gehirne.
»Was machen sie?«, fragt sie Madrinha Elis auf dem privaten Kanal.
»Sie verschaffen uns Zeit, Anjinho.«
Die Phalanx der Speere schließt sich wieder und geht geschlossen zum Angriff über. Die Gewehrschützen verlieren ihre Formation und weichen zurück. Zwischen den Mauern aus Piken spürt Luna, wie ihr Anzug den Griff am Schrein ihres Cousins fester packt, sich nach vorn beugt und zu einem finalen Sprint ansetzt, auf das Schiff zu. In voller Geschwindigkeit trifft sie auf die Rampe und bremst hart, damit sie nicht gegen das hintere Schott der Transportkapsel kracht. Besatzungsmitglieder in Sasuits sichern die Kapsel. Durch die Stiefelhaptik nimmt sie das Vibrieren des Decks wahr.
Haupttriebwerk zündet in zehn, neun, acht …
Durch die sich schließenden Türen fällt Lunas letzter Blick auf die zurückbleibenden Schwestern der Herren des Jetzt, die in ihren weißen Gewändern mit dem Rücken zueinander stehen und die Wahrzeichen der Orixás in die Höhe halten. Um sie herum ein Ring von Spießen und die beherzten Banner unserer Herrin der tausend Tode. Dahinter die Mackenzies, zahlreich wie die Sterne. Dann zündet das Triebwerk, und über alles breitet sich der Staub.
Ian McDonald: „Luna - Drachenmond“ ∙ Roman ∙ Aus dem Englischen von Friedrich Mader ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2019 ∙ 576 Seiten ∙ Preis des E-Books € 12,99 (im Shop)
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