26. August 2019 2 Likes

Geld stinkt nicht

Eine erste Leseprobe aus Quifan Chens Debütroman „Die Siliziuminsel“

Lesezeit: 7 min.

In China ist der junge Autor Qiufan Chen kein Unbekannter mehr und wird dort bereits in einem Atemzug mit Cixin Liu, dem großen Pionier der chinesischen Zukunftsliteratur, genannt. Nach diversen Kurzgeschichten hat der Autor, der bereits mit dem Chinese Nebula Award und dem Galaxy Award ausgezeichnet wurde, nun mit „Die Siliziuminsel“ (im Shop) seinen ersten Roman vorgelegt, in dem er ein erschreckendes Bild der nahen Zukunft entwirft: Auf einer kleinen chinesischen Insel wird der Elektroschrott aus aller Welt verwertet. Sogenannte Müllmenschen fristen auf den riesigen Halden ihr Dasein und sortieren kybernetische Prothesen, kaputte Roboterteile und ausrangierte Platinen für die Rohstoffgewinnung. Als der Amerikaner Scott Brandle dort eine Recyclingfirma errichten will, stößt er auf den erbitterten Widerstand sowohl der Behörden als auch der Mafiaclans. Denn wer den Müll hat, hat auch die Macht …

 

„Die Siliziuminsel“ erscheint am 09. September 2019 auf Deutsch.

 

1

Das feine, handgefertigte hölzerne Modell einer Dschunke, das in der Mitte der Glasvitrine stand, glänzte von dem rotbraunen Lack, der ihm eine altertümliche Aura verleihen sollte. Auf die übliche holografische Szenerie ringsum hatte man verzichtet; stattdessen bildete eine handgemalte Karte der Siliziuminsel mitsamt der sie umgebenden See die Kulisse. Der Kartograf hatte sich augenscheinlich nach Kräften bemüht, die landschaftliche Schönheit der Insel heraufzubeschwören.

»Dies ist das Symbol der Siliziuminsel. Es steht für eine reiche Ernte, Wohlstand und Harmonie …«

Scott Brandle war in den Anblick des Schiffsmodells versunken und schenkte den Erklärungen des Führers kaum Aufmerksamkeit. Die Farbe und die Maserung der Dschunke, vor allem aber ihre Segel, die sich im Wind zu blähen schienen, erinnerten ihn an die gedämpften Krabben, die man auf dem Bankett am Vorabend serviert hatte. Er war kein Vegetarier und auch kein glühender Anhänger des World Wide Fund For Nature, doch die dritte Schere, die ihm vom Teller entgegengeragt war, und der kunstvoll dekorierte Panzer hatten seinen Argwohn geweckt. Der Gedanke, dass die angebliche »Wildkrabbe« mit dem Extraglied womöglich aus einer nahen Meeresfarm stammte, hatte ihm den Appetit verdorben, und so hatte er den chinesischen Beamten nur dabei zugesehen, wie sie sich die Bäuche vollschlugen.

»Herr Scott, was möchten Sie morgen sehen?«, hatte ihn Direktor Lin Yiyu sichtlich beschwipst im hiesigen Dialekt gefragt. Scotts Assistent Chen Kaizong alias Caesar Chen hatte die Frage wortgetreu gedolmetscht, ohne die falsche Anrede zu korrigieren.

»Ich möchte die Siliziuminsel sehen«, erwiderte Scott. Er hatte einige Gläser Schnaps getrunken, war aber noch vergleichsweise nüchtern. Das Attribut »wahre« hatte er sich verkniffen.

»Großartig!« Das Gesicht rot vom Schnaps, drehte sich der Direktor zu den anderen Beamten und machte eine Bemerkung, die dröhnendes Gelächter auslöste. Kaizong dolmetschte nicht sofort. Erst nach einer Weile erklärte er: »Der Herr Direktor meint, er wird Ihren Wunsch gern erfüllen.«

Beinahe zwei Stunden hatten sie heute bereits im überklimatisierten Historischen Museum der Siliziuminsel verbracht, und ein Ende war noch nicht in Sicht. Um den Besuchern die über tausendjährige Geschichte der Insel – sie reichte zurück bis ins neunte Jahrhundert – nahezubringen, hatte der Führer, der Englisch mit starkem Akzent sprach, sie durch eine lange Reihe heller, blitzblanker Hallen geführt, vorbei an klassischen literarischen Zeugnissen, amtlichen Schreiben, restaurierten Fotos, Replikaten von Gebrauchsgegenständen, Szenen aus dem Alltagsleben, die mit Plastikfiguren nachgestellt waren, und pseudohistorischen Dokumentarfilmen. Doch die Ausstellung verfehlte offenkundig ihr Ziel, nämlich den Besuchern den Wandel von einer Zeit des Reisanbaus und der Fischerei über die Industrialisierung bis hin zum Informationszeitalter vor Augen zu führen. Scott konnte in all den Ausstellungsräumen nichts als Ansammlungen trostloser Relikte erkennen, begleitet von mechanisch heruntergeleierten Erläuterungen. Die einschläfernde Wirkung war ähnlich groß wie die einer Kasernenhofbelehrung.

Chen Kaizong dagegen hörte mit großem Interesse zu, als wäre er und nicht Scott der Besucher aus der Fremde. Seit er diesen Flecken Erde betreten hatte, war seine vorherige Gleichgültigkeit, die bei einem jungen Mann von einundzwanzig Jahren etwas Altkluges hatte, wie weggefegt und hatte, wie Scott bemerkt hatte, einem Stolz und einer Neugier Platz gemacht, die besser zu seinem Alter passten.

»Einzigartig … Unglaublich …« Von Zeit zu Zeit ließ Scott mit ausdrucksloser Miene ein Wort des Lobs fallen wie ein Roboter.

Lin Yiyu nickte wiederholt und mit sichtlichem Behagen, doch das Lächeln auf seinem Gesicht war so starr wie das der Plastikfiguren. Er trug dasselbe in den Hosenbund gesteckte gestreifte Hemd wie gestern. Anders als die anderen Beamten hatte er sich eine schmale Taille bewahrt; was ihm an Stattlichkeit fehlte, macht er durch den Eindruck größerer Tüchtigkeit wett. Neben Scott, der fast einen Meter neunzig groß war, wirkte er schmächtig wie ein Stock. Doch er war imstande, seinen Gast wortlos leiden zu lassen wie einen Stummen, der bittere Kräuter schlucken muss.

Er lässt sich nicht in die Karten blicken, ging es Scott durch den Kopf. Jetzt begriff er erst, was sich hinter Lins Worten vom Vorabend verbarg. Bevor er nach China geflogen war, hatte er eigens einen Reiseführer – China für Dummies – gelesen, der mit der folgenden Binsenweisheit aufwartete: »Die Chinesen sagen selten, was sie denken.« Dahinter hatte er als Kommentar geschrieben: »Die Amerikaner auch.«

Vielleicht waren die Teilnehmer am gestrigen Willkommensbankett von höherer Stelle abkommandiert worden – von den wirklichen Entscheidungsträgern hatte sich jedenfalls keiner blicken lassen. Zumindest gemessen an der Zahl der geleerten Schnapsgläser hatten die Beamten ihr Soll gestern mehr als erfüllt. Doch Direktor Lins verbale Ausweichmanöver legten den Schluss nahe, dass Scotts Reise für Wealth Recycle Co. alles andere als glatt verlaufen würde.

Die Schlüsselfiguren der drei großen Clans der Insel würden hinter den Kulissen bleiben. Alles, was Scott vernünftigerweise erhoffen durfte, war, dass man ihn durch einige Modellfabriken und -straßenviertel führte, die die Lokalverwaltung sorgfältig hergerichtet hatte, ihm ein paar leckere Dim Sum zu kosten gab und ihn dann wieder, beladen mit einem Haufen Souvenirs, in ein Flugzeug nach San Francisco setzte.

Aber hatte seine Firma nicht genau aus diesem Grund ihn und niemanden sonst hierher geschickt? Ein Lächeln milderte seine kantigen Züge. Den Unfall in Ahmedabad einmal ausgenommen, hatte er, ob in Ghana oder auf den Philippinen, noch nie versagt. Und die Siliziuminsel würde keine Ausnahme bilden.

»Sagen Sie ihm, dass wir am Nachmittag nach Xialong fahren.« Scott beugte sich zu seinem Assistenten, um ihn zu instruieren. »Machen Sie es ihm klar.«

Er spitzte die Lippen und setzte ein gelassenes Lächeln auf, während er sich umblickte. Kaizong wusste, dass sein Chef Ernst machte, und begann unverzüglich mit dem Direktor zu sprechen.

Das Museum war allzu hell und sauber – genau wie die schöngefärbte Geschichte, die es zur Schau stellte: die Fassade der Siliziuminsel, die die Einheimischen allen Fremden zeigten, erfüllt von einem scheinheiligen, seichten Glauben an die Technik. In diesem Gebäude gab es kein Basler Übereinkommen, kein Dioxin oder Furan, keinen sauren Nebel, kein Wasser, dessen Bleigehalt den Grenzwert um das 2400-fache überschritt, keinen Boden, dessen Chromgehalt um das 1338-fache über dem kritischen Wert der amerikanischen Umweltschutzbehörde lag, und erst recht keine Menschen, die von diesem Wasser trinken und auf diesem Boden leben mussten.

»Alle Geschichte ist gegenwärtig.« Dieser Satz war ihm aus dem Bewerbungsgespräch mit Chen Kaizong in Erinnerung geblieben.

Scott schüttelte den Kopf, während die Stimmen von Lin und Kaizong anschwollen. Beide bemühten sich, eine freundliche Fassade zu wahren, gaben aber in der Sache nicht nach. Hätte der Direktor Hochchinesisch geredet, hätte Scott vielleicht mithilfe einer Übersetzungssoftware direkt mit ihm kommunizieren können, aber Lin sprach den alten Inseldialekt, der acht und nicht vier Töne umfasste und auch sonst denkbar komplizierten Ausspracheregeln gehorchte. Deshalb war Scott auf die besonderen Fähigkeiten seines Assistenten angewiesen. Kaizongs Sprachkenntnisse waren der Hauptgrund gewesen, warum die Firma ihn nach seinem Studium der Geschichte an der Boston University eingestellt hatte.

Scotts Blick fiel auf ein Gruppenfoto, und er versuchte angestrengt, anhand der Unterlagen, die er vor der Reise durchgesehen hatte, irgendein Gesicht zu identifizieren. Hier, in dieser Lowspeed-Internetzone, hatte er keinen Zugang zu auswärtigen Datenquellen, und die gelblichen Gesichter der Chinesen sahen für ihn alle gleich aus. »Sagen Sie ihm: Wenn er Einwände dagegen hat, sorgen wir dafür, dass Minister Guo direkt mit ihm spricht.«

Guo Qidao war Chef des Umweltministeriums der Provinz und galt als aussichtsreicher Kandidat für den Posten des Vizeministers im nationalen Umweltministerium. Höchstwahrscheinlich waren die Unternehmen, die in die engere Auswahl für das ausgeschriebene Projekt gekommen waren, auf seinen Wink hin ausgesucht worden.

Der Fuchs macht sich die Macht des Tigers zunutze – ein weiterer Kniff aus dem Reiseführer für Dummies.

Der Disput verstummte. Nun, da Lin klein beigab, wirkte er noch mickriger. Er rieb sich die Hände, als bereitete ihm das angedrohte Machtwort durch den Minister weniger Sorgen als die Unmöglichkeit, die ihm zugedachte Aufgabe zu Ende zu bringen. Doch Scott ließ ihm keine andere Wahl. Lin rang sich ein Lächeln ab, räusperte sich und marschierte ohne ein weiteres Wort auf den Ausgang zu.

»Jetzt gehen wir erst mal was essen.« Kaizong verzog den Mund zu einem Siegerlächeln, wie man es von einem Elitestudenten der amerikanischen Ostküste erwartete.

Hoffentlich tischen sie uns nicht wieder irgendwelche obskuren Gerichte wie »Wildhummer« auf, schoss es Scott durch den Kopf, während er an dem Dschunkenmodell vorbeiging. Doch gleichzeitig freute er sich, dass er endlich aus diesem Museum herauskam, das so eiskalt und verlogen war. Vielleicht war dies die einzige Verbindung zwischen dieser Müllinsel und dem Schiffsmodell: ein Wortspiel.

Er setzte den Mundschutz von 3M auf und trat durch den weißen Nebel aus kondensiertem Dampf, der am Ausgang waberte, hinaus in das feuchte, grelle Licht der Tropensonne.

 

Qiufan Chen: „Die Siliziuminsel“ ∙ Roman ∙ Aus dem Chinesischen von Marc Hermann ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2019 ∙ 480 Seiten ∙ Preis des E-Books € 13,99 (im Shop)

 

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