Heyne goes Helsinki – Tag 3: Odotus
Das WorldCon-75-Tagebuch, heute: eine Festung, Cocktails und der Hugo Award [updated]
Wie Zuckerwatte türmt sich der Nebel über dem Meer, das jenseits des Hafenbeckens von Helsinki im grauen Nichts verschwindet. Darüber jedoch scheint strahlend die Sonne. Was für ein schönes Bild für die Erwartung und Vorfreude auf die Verleihung des Hugo Gernsback Awards heute Abend! Zuerst aber lädt mich das Wetter zu einer Schiffstour hinaus zur Festungsinsel Suomenlinna ein.
Bei der Fahrt zum Hafen merke ich, dass mir die Party der Chinesen gestern Abend noch in den Knochen sitzt. Es gab leider keine Reiskuchen (gereicht wurde international aufgebohrtes Smörrebrød), aber das machte gar nichts – denn in dem proppenvollen Saal Nr. 103 waren ganz offensichtlich alle und jede versammelt, die mit der aufstrebenden Genreliteratur aus dem Reich der Mitte zu tun haben. Aufstrebend in der Tat: Es gab eine Präsentation des wichtigsten chinesischen SF-Magazins Science Fiction World, das nicht nur jährlich den Yinhe (= Galaxy) Award verleiht, also den chinesischen Hugo, sondern das die Millionenstadt Chengdu auch zur Sci-Fi-City Chinas ausbauen will. Der Plan ist, hier eine ganze Medienindustrie samt Freizeitparks und Hochtechnologiefirmen anzusiedeln.
(Ist es dabei eine tapfere, eine ironische oder tatsächlich eine schmerzliche Beobachtung, dass Chengdu – bislang – vor allem die Hauptstadt der Panda-Bären ist? Soll hier eine Art Wachablösung stattfinden, oder möchte man einfach das Attraktionsportfolio erweitern? Hm…)
Jedenfalls traf ich auf der Party viele junge chinesische Science-Fiction-Autoren, die neben der „alten Garde“ wie etwa Cixin Liu oder Wang Jinkang oder He Xi angereist sind – zum Beispiel Chen Qiufan, dessen Roman „The Waste Tide“ von Cixin Liu sehr gelobt wurde, der gerade von Ken Liu ins Englische übersetzt wird und den Heyne bereits eingekauft hat. Oder auch Bao Chu, der mit Fanfiction zu Cixin Lius „Die drei Sonnen“ (im Shop) nicht nur Tausende Fans in China, sondern damit sogar einen Galaxy Award und, noch viel wichtiger, den offiziellen Segen Cixin Lius gewonnen hat. Hao Jingfang mit „Folding Beijing“/„Peking falten“ ist in diesem Zusammenhang ebenfalls zu nennen, wie auch Gu Shi, die mit ihrer Story „Chimera“ 2015 den Galaxy Award gewonnen hat. Im Gespräch mit Nicolas Cheetham, dem Head-of-Zeus-Verleger und Herausgeber von Lius britischer Ausgabe, kamen wir beide zu dem Schluss, dass wir vom Genre in China noch viel erwarten dürfen. Ich bin gespannt!
Heute wiederum liegt eine andere Art von Odotus* in der Luft – die Hugo Awards locken mit kalten, raketenförmigen Finger, und wer hätte die Kraft, sich dieser Gravitationskraft zu widersetzen? Alle (also fast alle) sind sie hier. Ich traf John Clute, den vielverdienten Enzyklopädisten des Genres, ich sah Adrian Tchaikovsky (im Shop), John Chu und Jo Walton, und ich weiß, dass George R. R. Martin (im Shop) ebenfalls hier ist.
Wer also ist nominiert? Ich liste hier zunächst nur die Finalisten in der Kategorie Roman auf:
(Update: Die Gewinnerin ist fett markiert – die weiteren Hugo Award GewinnerInnen findet ihr hier.)
- „All the Birds in the Sky“ von Charlie Jane Anders (Tor Books / Titan Books) – auf Deutsch „Alle Vögel unter dem Himmel“ bei Fischer Tor
- „A Closed and Common Orbit“ von Becky Chambers (Hodder & Stoughton / Harper Voyager US) – auf Deutsch „Zwischen zwei Sternen“ bei Fischer Tor
- „Death’s End“ von Cixin Liu i.d. Übersetzung von Ken Liu (Tor Books / Head of Zeus) – auf Deutsch bei Heyne (geplant)
- Ninefox Gambit von Yoon Ha Lee (Solaris Books)
- The Obelisk Gate von N. K. Jemisin (Orbit Books)
- Too Like the Lightning von Ada Palmer (Tor Books)
Die Gespräche werden angeregter, der Kaffee wird schneller leergetrunken, und immer mehr Con-Besucherinnen sind in aufwändigen Roben zu beobachten – Hugo liegt in der Luft. Jetzt muss auch ich mich langsam bereitmachen. Das Hochamt im Genrepriester duldet kein Zuspätkommen … nicht, wenn hier die Zukunft an sich zelebriert wird!
* Odotus heißt: Erwartung
Kommentare
Ein echter Fan würde _niemals_ einen ganzen Vormittag des Worldcon verpassen, um Suomenlinna zu besuchen (sondern stattdessen einen Tag vorher oder nachher dranhängen).
Das Worldcon ist schliesslich eine einmalige Gelegenheit mit Fans und ihren Themen in Kontakt zu kommen, sowie an international angesehen Autoren (auch nicht-chinesische, von denen gibt es nämlich immer noch sehr viel mehr als andersrum). Es hätte wirklich interessante Vorträge und Panels gegeben, z.B. auch über Übersetzungsthemen (ich möchte hier einen kleinen Verweis auf Marko Kloos' ersten Band (zu Mehr konnte ich mich bisher nicht überwinden) einflechten: Durch die Fehlübersetzungen des Militär-Englisch ist sind die Militär-Dialoge quasi unverständlich)
Und das obwohl Suomenlinna und die Geschehnisse um die Kapitulation vor den Russen eine entscheidende Rolle in einer der frühen Kurzgeschichten von George R. R. Martin spielt, die nebenbei bemerkt, in den Traumlieder-Sammlung (3 Bände) von Heyne veröffentlicht wurde.