1. April 2021

„Klara und die Sonne“: eine Leseprobe

Ein erster Blick in den neuen Bestsellerroman von Kazuo Ishiguro

Lesezeit: 18 min.

In seinem neuen Roman „Klara und die Sonne“ (im Shop) wirft Literaturnobelpreisträger Kazuo Ishiguro die Frage auf, was das Wesen der Liebe eigentlich ausmacht. Er stellt diese Frage aus dem Blickwinkel von Klara, einer „Künstlichen Freundin“, oder kurz: KF. Klara ist ein Roboter, der dafür gemacht ist, Jugendliche beim Erwachsenwerden zu begleiten. Doch schon bald muss Klara feststellen, dass die Welt der Menschen so ganz anders ist … Hier ist eine erste Leseprobe aus dem Roman.
 

Kazuo Ishiguro: Klara und die SonneAls wir neu waren, standen Rosa und ich in der Ladenmitte, wo auch die Zeitschriften auslagen, und hatten den größeren Teil des Schaufensters im Blick. So konnten wir die Außenwelt sehen – die vorbeihastenden Büroarbeiter, die Taxis, die Läufer, die Touristen, Bettelmann und seinen Hund, den unteren Teil des RPO-Gebäudes. Als wir uns schon ein bisschen eingelebt hatten, erlaubte uns Managerin, nach vorn zu gehen, direkt ins Schaufenster, und da erst sahen wir, wie hoch das RPO-Gebäude war. Und wenn wir zum richtigen Zeitpunkt da waren, sahen wir die Sonne auf ihrem Weg von den Dächern auf unserer Seite zum RPO-Gebäude hinüberwechseln.

Wenn ich das Glück hatte, sie so zu sehen, hielt ich ihr das Gesicht entgegen, um so viel von ihrer Nahrung aufzunehmen, wie ich konnte, und wenn Rosa bei mir war, riet ich ihr, dasselbe zu tun. Nach ein, zwei Minuten mussten wir wieder auf unsere Position zurück, und als wir neu waren, machten wir uns ständig Sorgen, dass wir womöglich immer kraftloser würden, weil wir die Sonne von der Ladenmitte aus oft nicht sehen konnten. KF Rex, der damals an unserer Seite war, sagte aber, wir müssten keine Angst haben, die Sonne finde immer Mittel und Wege, uns zu erreichen, egal, wo wir seien. Er deutete auf das Parkett und sagte: »Da, das ist das Muster der Sonne. Wenn ihr euch Sorgen macht, könnt ihr es einfach berühren, und schon werdet ihr wieder stark.«

Es waren keine Kunden da, als er das sagte, und Managerin war damit beschäftigt, etwas in den Roten Regalen zu ordnen, und ich wollte sie nicht stören. Ich fragte also nicht um Erlaubnis, sondern warf Rosa einen Blick zu, und als sie mich ausdruckslos anschaute, trat ich zwei Schritte vor, kauerte nieder und streckte beide Hände nach dem Muster der Sonne auf dem Boden aus. Doch es löste sich im selben Augenblick auf, in dem meine Finger es berührten, und obwohl ich alles versuchte, was ich konnte – ich klopfte auf die Stelle, an der es gewesen war, und als das nicht half, rieb ich mit beiden Händen über die Holzdielen –, kam es nicht zurück. Als ich wieder aufstand, sagte KF Rex: »Klara, das war gierig. Ihr KF-Mädchen seid immer so gierig.«

Ich war zwar noch neu, mir kam aber sofort der Gedanke, dass die Sonne ihr Muster vielleicht rein zufällig genau in dem Moment zurückgezogen hatte, als ich es berührte, dass ich also gar nichts dafürkonnte. Aber die Miene von KF Rex blieb ernst.

»Du hast dir die ganze Nahrung allein genommen, Klara. Schau, es ist fast dunkel geworden.«

Tatsächlich war es im Laden jetzt ziemlich düster. Sogar das Abschleppzonenschild am Lampenmast draußen auf dem Gehsteig sah grau und blass aus.

»Entschuldigung«, sagte ich zu Rex, dann zu Rosa. »Entschuldigung. Ich wollte mir nicht alles allein nehmen.«

»Deinetwegen«, sagte KF Rex, »werde ich am Abend kraftlos sein.«

»Du machst einen Scherz«, sagte ich. »Das weiß ich genau.«

»Ich mache keinen Scherz. Es könnte sein, dass ich gleich krank werde. Und was ist mit den KFs hinten im Laden? Mit denen stimmt ohnehin schon etwas nicht. Jetzt wird es ihnen noch schlechter gehen. Du bist gierig, Klara.«

»Das glaube ich dir nicht«, sagte ich, war mir aber nicht mehr sicher. Ich sah Rosa an, doch ihre Miene war nach wie vor ausdruckslos.

»Ich fühle mich schon ganz krank«, sagte KF Rex. Und er sackte nach vorn.

»Aber du hast doch selber gesagt, dass die Sonne immer Mittel und Wege finde, uns zu erreichen. Du machst einen Scherz, das weiß ich genau.«

Schließlich schaffte ich es, mich davon zu überzeugen, dass KF Rex sich über mich lustig machte. An diesem Tag aber ahnte ich, dass ich, ganz ohne Absicht, Rex dazu gebracht hatte, ein unangenehmes Thema anzusprechen, eines, das die meisten KFs im Geschäft lieber mieden. Kurze Zeit später passierte etwas mit KF Rex, das mich auf den Gedanken brachte, dass sein Scherz, wenn es denn einer war, jedenfalls einen wahren Kern hatte.

Es war ein strahlender Morgen, und Rex war nicht mehr an unserer Seite, Managerin hatte ihn in die vordere Nische gestellt. Managerin sagte immer, jede Position sei genauestens durchdacht und die Wahrscheinlichkeit, dass wir ausgesucht würden, überall gleich hoch. Dennoch wussten wir alle, dass der Blick eines Kunden, der den Laden betrat, zuallererst in die vordere Nische fiel, und natürlich freute sich Rex, dass er jetzt hier stehen durfte. Wir beobachteten ihn von der Ladenmitte aus, wie er mit hocherhobenem Kopf dastand, über und über vom Muster der Sonne bedeckt, und Rosa beugte sich einmal zu mir und sagte: »Er sieht wirklich wunderbar aus! Ganz bestimmt findet er bald ein Zuhause!«

An seinem dritten Tag in der Nische kam ein Mädchen mit seiner Mutter herein. Damals konnte ich das Alter noch nicht so gut bestimmen, aber ich weiß noch, dass ich das Mädchen auf dreizehneinhalb schätzte, und heute denke ich, das stimmte. Die Mutter war eine Büroarbeiterin, und an ihren Schuhen und ihrem Kostüm erkannten wir, dass sie ranghoch war. Das Mädchen ging schnurstracks auf Rex zu und stellte sich vor ihn, während die Mutter in unsere Richtung schlenderte, einen Blick auf uns warf, dann weiter nach hinten ging, wo zwei KFs auf dem Glastisch saßen und mit den Beinen baumelten, wie Managerin sie angewiesen hatte. Dann rief die Mutter ihre Tochter zu sich, aber die hörte nicht, sondern starrte Rex unverwandt ins Gesicht. Irgendwann streckte das Mädchen die Hand aus und fuhr ihm über den Arm. Rex sagte nichts, natürlich nicht, aber er lächelte auf sie hinunter und hielt still, genau so, wie wir uns verhalten sollten, wenn ein Kunde besonderes Interesse zeigte.

»Schau!«, flüsterte Rosa. »Sie wird sich für ihn entscheiden! Sie liebt ihn. Was für ein Glück er hat!« Ich versetzte ihr einen harten Stoß, damit sie den Mund hielt; man konnte uns ja ohne Weiteres hören.

Jetzt war es das Mädchen, das die Mutter herbeirief, und bald standen sie beide vor KF Rex und musterten ihn von oben bis unten, und das Mädchen streckte dabei manchmal die Hand aus und fasste ihn an. Die zwei beratschlagten leise miteinander, und irgendwann hörte ich das Mädchen sagen:

»Aber er ist perfekt, Mom! Wunderschön!« Und einen Moment später: »Och, Mom, komm schon, bitte.«

Unterdessen war Managerin leise hinter sie getreten, und die Mutter drehte sich zu ihr um und fragte: »Was für ein Modell ist das?«

»Er ist ein B2«, sagte Managerin. »Dreierserie. Für das richtige Kind ist Rex der perfekte Gefährte. Vor allem glaube ich, dass er bei einem jungen Menschen Pflichtbewusstsein und Lerneifer fördert.«

»Das wäre bei dieser jungen Dame hier durchaus angebracht.«

»Oh, Mutter, er ist genau richtig!«

Dann sagte die Mutter: »B2, Dreierserie. Da gibt es doch Probleme bei der Absorption der Sonneneinstrahlung, oder?« Das sagte sie einfach so, vor Rex, immer noch ein Lächeln im Gesicht. Auch Rex lächelte weiter, das Kind aber war perplex und blickte von Rex zur Mutter.

»Es stimmt«, sagte Managerin, »dass es bei der Dreierserie ein paar kleine Startschwierigkeiten gab, aber die entsprechen- den Berichte waren maßlos übertrieben. Bei normalen Lichtverhältnissen tritt keinerlei Problem auf.«

»Ich habe gehört, dass eine Absorptionsstörung weitere Probleme nach sich ziehen kann«, sagte die Mutter. »Sogar in punkto Verhalten.«

»Mit Verlaub, Madam, die Modelle der Dreierserie haben viele Kinder unglaublich glücklich gemacht. Solange Sie nicht in Alaska oder in einem Grubenschacht leben, besteht kein Grund zur Sorge.«

Die Mutter betrachtete Rex noch eine Weile, und am Ende schüttelte sie den Kopf. »Tut mir leid, Caroline. Ich verstehe, warum er dir gefällt. Aber er ist nichts für uns. Wir finden einen, der perfekt für dich ist.«

Rex lächelte weiter, bis die Kunden fort waren, und selbst danach war ihm keine Enttäuschung anzumerken. Aber da fiel mir ebendieser Scherz wieder ein, und ich war mir sicher, dass ihm die Fragen nach der Sonne und der Menge an Nahrung, die wir von ihr bekommen konnten, schon eine ganze Weile durch den Kopf gingen.

Heute ist mir natürlich klar, dass Rex damit gewiss nicht der Einzige war. Offiziell war das überhaupt kein Thema – unser aller Spezifikationen garantierten, dass uns Faktoren wie unsere Position im Raum nichts anhaben konnten. Dennoch begann ein KF, wenn er einige Stunden nicht in der Sonne gewesen war, lethargisch zu werden, und sorgte sich, dass mit ihm etwas nicht stimmte – dass er einen Fehler habe und, wenn das bekannt würde, nie ein Zuhause fände.

Das war der eine Grund, weshalb wir alle so viel über den Platz im Schaufenster nachdachten. Managerin hatte uns versprochen, dass jeder von uns an die Reihe kommen werde, und jeder sehnte diesen Moment herbei. Zum Teil hatte es auch mit dem zu tun, was Managerin die »besondere Ehre« nannte, den Laden nach außen zu repräsentieren. Und egal, was sie sagte, wir wussten alle, dass man im Fenster natürlich eher ausgesucht wurde. In Wahrheit ging es aber um etwas anderes, nämlich um die Sonne und ihre Nahrung, und das war uns allen stillschweigend klar. Rosa sprach mich einmal flüsternd darauf an, kurz bevor wir an der Reihe waren.

»Klara, glaubst du, dass uns im Fenster so viel Güte zuteilwird, dass uns nie wieder etwas fehlt?«

Damals war ich noch ziemlich neu und wusste nicht, was ich darauf sagen sollte, obwohl auch mir diese Frage schon in den Sinn gekommen war.

Dann waren wir endlich an der Reihe, und eines Morgens betraten Rosa und ich das Schaufenster. Wir achteten sehr darauf, in der Auslage nichts umzustoßen, wie es den beiden in der Woche zuvor passiert war. Der Laden hatte, natürlich, noch zu, und ich dachte, der Rollladen sei ganz geschlossen. Doch als wir uns auf das Gestreifte Sofa gesetzt hatten, sah ich einen schmalen Spalt am unteren Ende des Rollladens – wahrscheinlich hatte ihn Managerin schon ein Stück hochgezogen, als sie überprüfte, ob alles bereit für uns war –, und durch diesen Spalt warf das Licht der Sonne ein helles Viereck, das über das Podest heraufkam und als gerade Linie direkt vor uns endete. Wir mussten nur unsere Füße ein bisschen ausstrecken, um sie in die Wärme zu stellen. Egal, wie die Antwort auf Rosas Frage lautete, in dem Moment war mir klar, dass wir bis auf Weiteres alle Nahrung bekämen, die wir brauchten. Und als Managerin den Schalter anknipste und der Rollladen sich vollständig hob, badeten wir in gleißendem Licht.

An dieser Stelle muss ich bekennen, dass zumindest ich noch einen weiteren Grund hatte, weshalb ich im Fenster sein wollte, und der hatte nichts mit der Nahrung der Sonne zu tun, auch nicht damit, ausgesucht zu werden. Anders als die meisten KFs, anders als Rosa, hatte ich mir immer gewünscht, mehr von der Außenwelt zu sehen – und möglichst in allen Details. Als sich der Rollladen hob und mir klar wurde, dass von jetzt an nur noch die Glasscheibe zwischen mir und dem Gehsteig war und ich so vieles, was ich bis dahin nur als Ecken und Kanten gesehen hatte, aus der Nähe und vollständig würde sehen können, wurde ich so begeistert, dass ich die Sonne und ihre Güte uns gegenüber für einen Moment fast vergaß.

Zum ersten Mal sah ich, dass das RPO-Gebäude in Wahrheit aus einzelnen Ziegelsteinen bestand und dass es nicht weiß war, wie ich immer gedacht hatte, sondern blassgelb. Und jetzt sah ich auch, dass es noch viel höher war, als ich mir vorgestellt hatte – zweiundzwanzig Stockwerke hoch –, und dass die Fenster sich wiederholten und jedes von einem eigenen, besonderen Sims unterstrichen war. Ich sah, dass die Sonne die Fassade des RPO-Gebäudes diagonal in zwei Dreiecke geteilt hatte, das eine fast weiß und das andere sehr dunkel, obwohl doch alles, das wusste ich, dieselbe blassgelbe Farbe hatte. Und ich sah nicht nur jedes einzelne Fenster bis hinauf zum obersten Stock, sondern manchmal sah ich auch die Leute dahinter, die standen, saßen, umhergingen. Und unten, auf der Straße, sah ich die Vorbeigehenden, ihre unterschiedlichen Schuhe, Pappbecher, Umhängetaschen, kleinen Hunde, und wenn ich wollte, konnte ich jedem von ihnen mit den Augen folgen, bis hinter den Fußgängerübergang und das zweite Abschleppzonenschild, dorthin, wo zwei Instandsetzer neben einem Gully standen und hinunterzeigten. Ich konnte auch in die Taxis schauen, wenn sie langsamer wurden, um Leute über den Fußgängerübergang zu lassen – ich sah die Hand eines Fahrers aufs Lenkrad schlagen, die Kappe auf dem Kopf eines Passagiers.

Die Zeit verging, die Sonne hielt uns warm, und ich sah, dass Rosa sehr glücklich war. Mir fiel aber auch auf, dass sie sich kaum etwas ansah, sondern den Blick immer nur auf das erste Abschleppzonenschild direkt vor uns geheftet hielt. Wenn ich sie draußen auf etwas aufmerksam machte, sah sie zwar kurz hin, verlor aber rasch das Interesse und blickte wieder nur auf den Gehsteig und das Schild.

Nur wenn vor dem Schaufenster ein Vorbeigehender stehen blieb, blickte auch Rosa mal eine Zeit lang anderswohin. In solchen Fällen verhielten wir uns so, wie Managerin es uns beigebracht hatte: Wir setzten unser »neutrales« Lächeln auf und richteten den Blick über die Straße hinweg auf einen Punkt auf halber Höhe des RPO-Gebäudes. Natürlich war es verlockend, einen Vorbeigehenden, der ans Fenster trat, genauer zu betrachten, doch Managerin hatte uns erklärt, es sei äußerst vulgär, in solchen Momenten Augenkontakt herzustellen. Erst wenn ein Vorbeigehender uns ausdrücklich Zeichen machte oder durch die Scheibe ansprach, durften wir reagieren; sonst nicht.

Wie sich zeigte, waren manche von den Leuten, die stehen blieben, überhaupt nicht an uns interessiert, sondern wollten einfach nur einen Sportschuh ausziehen und irgendwas damit machen oder auf ihre Rechtecke drücken. Manche kamen allerdings direkt ans Fenster und starrten herein. Unter diesen waren viele Kinder, mehr oder weniger in dem Alter, für das wir besonders geeignet waren, und sie schienen sich über unseren Anblick zu freuen. Immer wieder kam ein Kind begeistert zum Fenster, allein oder mit seinem Erwachsenen, deutete auf uns, lachte, zog ein komisches Gesicht, klopfte an die Scheibe, winkte.

Ab und zu – und ich wurde bald besser darin, so zu tun, als würde ich das RPO-Gebäude betrachten, während ich tatsächlich die Leute vor dem Fenster beobachtete – kam ein Kind und starrte uns an, und in seinem Blick lag etwas Trauriges, manchmal auch Ärgerliches, so als hätten wir etwas falsch gemacht. Im nächsten Moment konnte so ein Kind völlig um- schwenken und lachen oder winken wie alle anderen, aber nach unserem zweiten Tag im Fenster wusste ich den Unterschied schnell zu erkennen.

Nachdem drei oder vier solche Kinder ans Fenster gekommen waren, versuchte ich mit Rosa darüber zu sprechen, aber sie lächelte nur und sagte: »Klara, du machst dir zu viele Gedanken. Das Kind war sicher ganz zufrieden. Ist doch klar an einem Tag wie heute! Da ist doch die ganze Stadt glücklich.«

Am Ende unseres dritten Tages aber sprach ich Managerin darauf an. Sie hatte uns gelobt und gesagt, wir hätten »schön und würdevoll« ausgesehen im Fenster. Unterdessen war die Beleuchtung im Laden heruntergefahren worden, und wir waren im hinteren Teil und lehnten an der Wand, ein paar von uns blätterten vor dem Schlafengehen noch in den Interessanten Zeitschriften. Rosa war neben mir, und an ihren Schultern erkannte ich, dass sie schon halb schlief. Als mich Managerin fragte, ob ich einen schönen Tag gehabt hätte, er- griff ich die Gelegenheit, um die traurigen Kinder vor dem Fenster zu erwähnen.

»Klara, du bist wirklich bemerkenswert«, sagte Managerin, leise, um Rosa und die anderen nicht zu stören. »Du nimmst so viel wahr und in dir auf.« Sie schüttelte den Kopf, als wunderte sie sich. Dann sagte sie: »Es muss dir klar sein, dass wir ein ganz besonderer Laden sind. Es gibt viele Kinder, die unheimlich froh wären, wenn sie dich aussuchen könnten, oder Rosa oder irgendeinen von euch. Aber das können sie nicht. Für sie seid ihr unerreichbar. Also stehen sie hier vor dem Fenster und malen sich aus, wie es wäre, wenn sie einen von euch hätten. Und dann werden sie traurig.«

»Managerin, so ein Kind – meinen Sie, so ein Kind hat einen KF bei sich zu Hause?«

»Wahrscheinlich nicht. Bestimmt nicht einen wie dich. Denk dir nichts, wenn ein Kind dich sonderbar ansieht, verbittert oder traurig, oder wenn es was Unangenehmes durch die Glasscheibe sagt. Merke es dir nur. So ein Kind ist höchstwahrscheinlich frustriert.«

»Ein Kind, das keinen KF hat, ist sicher einsam.«

»Ja, das auch«, sagte Managerin. »Einsam. Ja.«

Sie senkte den Blick und schwieg, und ich wartete. Auf einmal lächelte sie und nahm mir sacht die Interessante Zeitschrift aus der Hand, die ich betrachtet hatte.

»Gute Nacht, Klara. Sei morgen wieder so wunderbar, wie du heute warst. Und vergiss nicht – du und Rosa, ihr repräsentiert uns vor der ganzen Straße.«

 

Um die Mitte unseres vierten Vormittags im Fenster sah ich, wie draußen ein Taxi langsamer wurde und der Fahrer sich weit aus dem Fenster lehnte, damit ihn die anderen Taxis alle Fahrbahnen überqueren und am Straßenrand vor unserem La- den halten ließen. Josies Blick war auf mich geheftet, als sie aus dem Wagen stieg. Sie war blass und dünn, und als sie auf uns zukam, sah ich, dass ihr Gang sich von dem der anderen Vorbeigehenden unterschied. Sie ging nicht unbedingt langsamer, aber es kam mir so vor, als würde sie nach jedem Schritt eine Bestandsaufnahme vornehmen, wie um sich zu vergewissern, dass noch alles in Ordnung war und sie nicht stürzte. Ich schätzte sie auf vierzehneinhalb.

Als sie so nah war, dass die Fußgänger alle hinter ihr vorbeigingen, blieb sie stehen und lächelte mich an.

»Hallo«, sagte sie durch die Scheibe. »Hey, kannst du mich hören?«

Rosa starrte geradeaus auf das RPO-Gebäude, wie sie an- gewiesen worden war. Ich aber war angesprochen worden und durfte daher das Kind direkt ansehen, das Lächeln erwidern und ermutigend nicken.

»Echt?«, sagte Josie – aber zu dem Zeitpunkt kannte ich natürlich ihren Namen noch nicht. »Ich kann mich ja selber kaum hören. Hörst du mich wirklich?«

Ich nickte wieder, und sie schüttelte den Kopf, als wäre sie sehr beeindruckt.

»Wow.« Sie warf einen Blick über die Schulter – selbst diese Bewegung erfolgte mit Vorsicht – zu dem Taxi, aus dem sie ausgestiegen war. Die offene Tür ragte auf den Gehsteig hinaus, und auf dem Rücksitz saßen zwei Gestalten, die redeten und auf etwas deuteten, das jenseits des Fußgängerübergangs lag. Josie schien froh, dass ihre Erwachsenen keine Anstalten machten, ihr zu folgen, und trat noch einen Schritt näher ans Fenster heran, bis ihr Gesicht fast die Scheibe berührte.

»Ich habe dich gestern gesehen«, sagte sie.

Ich rief mir den vorhergehenden Tag noch einmal ins Gedächtnis, fand aber keine Erinnerung an Josie und sah sie überrascht an.

»Oh, kein Stress«, sagte sie, »du kannst mich gar nicht gesehen haben. Ich war im Taxi und bin so vorbeigefahren, gar nicht mal so langsam. Aber ich hab euch hier im Fenster sitzen sehen und Mom überredet, dass wir heute hier anhalten.« Mit derselben zögernden Vorsicht wie zuvor sah sie sich um. »Wow. Sie redet immer noch mit Mrs Jeffries. Ganz schön teure Unterhaltung – der Taxameter läuft nämlich einfach weiter.«

Jetzt sah ich, dass ihr Gesicht von Freundlichkeit erfüllt war, wenn sie lachte. Seltsamerweise aber fragte ich mich in diesem Moment auch zum ersten Mal, ob Josie wohl eines dieser einsamen Kinder war, über die ich mit Managerin gesprochen hatte.

Josie warf einen Blick auf Rosa – die immer noch pflichtbewusst auf das RPO-Gebäude starrte – und sagte: »Deine Freundin ist echt süß.« Doch noch während sie das sagte, ruhte ihr Blick schon wieder auf mir. Sekundenlang sah sie mich stumm an, und ich hatte schon Sorge, ihre Erwachsenen könnten aussteigen, bevor sie ein weiteres Wort gesagt hatte. Aber dann sagte sie: »Weißt du was? Deine Freundin wird für irgendjemanden da draußen die perfekte Gefährtin werden. Aber gestern, als wir hier entlanggefahren sind und ich dich gesehen habe, dachte ich, das ist sie, das ist die KF, die ich immer gesucht habe!« Wieder lachte sie. »Sorry. Klingt vielleicht respektlos.« Wieder drehte sie sich zum Taxi um, doch die beiden auf dem Rücksitz ließen keine Absicht erkennen auszusteigen. »Bist du Französin?«, fragte sie. »Du siehst irgendwie französisch aus.«

Ich lächelte und schüttelte den Kopf.

»Bei unserem letzten Meeting«, sagte Josie, »waren nämlich zwei Französinnen. Beide hatten die Haare genau wie du, ordentlich und kurz. Sah süß aus.« Wieder musterte sie mich schweigend, und ich meinte, noch einmal einen Anflug von Traurigkeit zu erkennen, war mir aber nicht sicher, weil ich doch immer noch ziemlich neu war.

Ihre Miene hellte sich gleich wieder auf, und sie sagte: »Hey, wird euch nicht heiß, wenn ihr da so sitzt? Braucht ihr nicht was zu trinken oder so?«

Ich schüttelte den Kopf und hob die Hände mit den Handflächen nach oben, um auszudrücken, wie wunderbar es war zu spüren, wie die Nahrung der Sonne auf uns fiel.

»Ach ja. Hab ich vergessen. Ihr sitzt gern in der Sonne, stimmt’s?«

Wieder drehte sie sich um, diesmal aber blickte sie zu den Dächern der Häuser hinauf. Die Sonne stand jetzt genau in dem freien Stück Himmel, und Josie kniff sofort die Augen zusammen und wandte sich mir zu.

»Wie macht ihr das nur? Ich meine, in die Sonne zu schauen, ohne geblendet zu sein. Ich würde das keine Sekunde lang aushalten.«

Sie beschirmte die Augen mit einer Hand und drehte sich noch einmal um, blickte aber nicht in die Sonne, sondern zum RPO-Gebäude hinauf. Nach fünf Sekunden wandte sie sich wieder mir zu.

»Für euch geht die Sonne hinter dem großen Haus da unter, oder? Das heißt, ihr kriegt nie zu sehen, wo sie wirklich unter- geht. Dieses Gebäude steht immer im Weg.« Mit einem kurzen Blick vergewisserte sie sich, dass die Erwachsenen noch im Taxi waren, und fuhr fort: »Bei uns zu Hause steht nichts im Weg. Von meinem Zimmer droben kann man genau sehen, wo die Sonne untergeht. Genau den Ort, wo sie nachts hingeht.«

Anscheinend wirkte ich überrascht. Und am Rand meines Gesichtsfelds sah ich, dass Rosa sich vergaß und Josie eben- falls verwundert anstarrte.

»Allerdings kann ich nicht sehen, wo sie morgens wieder heraufkommt«, sagte Josie. »Da stehen Hügel und Bäume im Weg. Irgendwie wie hier. Irgendwas ist immer im Weg. Aber abends ist es anders. Wo mein Zimmer hinausgeht, ist alles weit und leer. Wenn du zu uns kämst, um bei uns zu wohnen, würdest du es sehen.«

Jetzt stieg zuerst die eine, dann die andere Erwachsene aus dem Taxi aus; Josie hatte sie nicht gesehen, aber vielleicht hatte sie etwas gehört, denn sie sprach schneller.

»Ich schwör’s! Du siehst ganz genau, wo sie untergeht.« Die Erwachsenen waren zwei Frauen, beide trugen ranghohe Bürokleidung. Die Größere war vermutlich Josies Mutter, weil sie Josie auch dann nicht aus den Augen ließ, als sie Wangenküsse mit ihrer Begleiterin tauschte. Dann war die Begleiterin fort, zwischen den Vorbeigehenden verschwunden, und die Mutter kam auf uns zu. Und nur eine Sekunde lang lag ihr bohrender Blick nicht mehr auf Josies Rücken, sondern auf mir, und ich schaute sofort weg und das RPO-Gebäude hinauf. Aber Josie sprach immer noch gegen das Glas, gedämpfter, gerade noch hörbar.

»Ich muss weg. Aber ich komme bald zurück. Wir reden wieder.« Dann sagte sie, fast flüsternd, sodass ich sie kaum noch hörte: »Du gehst nicht weg, oder?«

Ich schüttelte den Kopf und lächelte.

»Gut. Okay. Dann sag ich jetzt Tschüss. Aber nicht für lange.«

 

Die Mutter stand direkt hinter Josie. Sie hatte schwarze Haare und war dünn, allerdings nicht so dünn wie Josie oder manche Läufer. Jetzt, wo ich sie aus der Nähe und ihr Gesicht deutlicher sah, korrigierte ich meine Altersschätzung auf fünfundvierzig. Wie gesagt, ich konnte damals noch nicht so gut schätzen, aber diese Zahl erwies sich als mehr oder minder korrekt. Aus der Ferne hatte ich sie für jünger gehalten, aus der Nähe sah ich die tiefen Furchen um ihren Mund und er- kannte eine zornige Erschöpfung in den Augen. Mir fiel auch auf, dass ihr Arm, den sie von hinten nach Josie ausstreckte, in der Luft kurz zögerte, sich beinahe wieder zurückzog, sich dann aber doch um die Schultern ihrer Tochter legte.

Sie mischten sich in den Strom der Vorbeigehenden, die in Richtung des zweiten Abschleppzonenschilds unterwegs waren, Josie mit ihrem vorsichtigen Gang, den Arm ihrer Mutter um die Schultern. Ehe sie außer Sichtweite waren, drehte sich Josie noch einmal um, und obwohl es den Rhythmus ihrer Schritte störte, winkte sie mir ein letztes Mal zu.

 

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Kazuo Ishiguro: Klara und die Sonne · Aus dem Englischen von Barbara Schaden · Karl Blessing Verlag · 352 Seiten · Auch als Hardcover und als Hörbuch/Audio-Download erhältlich · E-Book: € 18,99 (im Shop)

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