26. Dezember 2020

Sarya fliegt auf

Eine neue, exklusive Leseprobe aus Zack Jordans „Last Human – Allein gegen die Galaxis“

Lesezeit: 15 min.

Fast ihr ganzes Leben ist es Sarya, der Hauptfigur aus Zack Jordans „Last Human – Allein gegen die Galaxis“ (im Shop), gelungen, ihre Identität als letzter Mensch im Universum geheim zu halten. Doch als ein unerwarteter Gast auf Watertower-Station auftaucht, wird es brenzlig für sie.

Damit Ihnen die Zeit zwischen Weihnachten und Silvester nicht zu lange wird, stellen wir Ihnen eine neue uns exklusive Leseprobe aus „Last Human“ zur Verfügung.

 

3

Es ist eine Sache, intellektuell zu verstehen, dass man in den Ringen eines Gasriesen lebt. Die Idee ist einfach, übersichtlich und unzweideutig. Wo wohnst du? Oh, auf einer orbitalen Wassergewinnungsstation. Hier ist sie auf einer Übersichtskarte des Sonnensystems. Dieser winzige Punkt neben dem anderen Punkt.

Sarya ist auf einem von ihnen und betrachtet den anderen. Ihr Verstand setzt aus. Sie presst das Gesicht gegen ein Fenster, das die ganze Wand einnimmt, weiß aber nicht mehr, wie sie dorthin gekommen ist. Sie hat die Augen fast geschlossen, weil es so hell ist, und schmiegt sich mit dem ganzen Körper an das durchsichtige synthetische Material. Sie kann nicht einmal sagen, ob ihr Mund offen oder geschlossen ist. Zum zweiten Mal an diesem Tag hat sie eine überwältigende Vision, die den Realitätssinn zu zerstören scheint. Es ist … majestätisch. Ein anderes Wort dafür gibt es nicht. Bei der Göttin, es ist …

Na gut, vielleicht gibt es doch ein Wort. Gold. Überall ist Gold, ein blendend heller Schmelzofen voller Gold. Hilflos hängt Sarya über einem zweihunderttausend Kilometer großen goldenen Inferno. Durch die Atmosphäre schießen Blitze, die einen größeren Mond umspannen könnten. Jeder einzelne von ihnen entlässt genug Energie, um die Watertower-Station Jahrhunderte zu speisen. Wolken wallen und kreisen in Drucksystemen, in denen selbst die Blitze winzig wirken. Es ist ein brodelnder Killerplanet, eine wütende Sphäre, deren Schwerkraft ihr Heim festhält. Dieser Riese würde nichts lieber tun, als sie und alles, was sie liebt, in Atome zu zerlegen … und angesichts ihrer momentanen Gefühlslage hätte Sarya nicht einmal etwas dagegen, weil der Planet dabei so schön aussehen würde.

Langsam löst sie sich von der wilden Pracht dort unten und stellt verlegen fest, dass sie zittert. Oh, bei der Göttin, sie weint sogar. Sie spürt die Feuchtigkeit im Gesicht und wischt sie mit dem Ärmel des Overalls weg. Dabei verliert ihre Netzwerkeinheit vorübergehend den Fokus. Das ist einer der Nachteile des menschlichen Körpers. Überall sind Lecks.

Als das Overlay wieder aufgebaut ist, füllt es sich mit Symbolen. Vor dem feurigen Planeten im Hintergrund markieren sie Hunderte Silhouetten, die wie perfekte, scharfkantige Löcher in der strahlenden Oberfläche wirken. Während sie ihrer peinlichen menschlichen Natur erlegen war, hat ihre Netzwerkeinheit eifrig die Umrisse katalogisiert und die Formen und Positionen mit verschiedenen öffentlichen Datenbanken abgeglichen, um die Beschriftungen einzublenden, sobald sie Gewissheit hatte. Die größeren Klötzchen sind Eisberge in den Ringen, die in nahe gelegene Umlaufbahnen geschleppt und geerntet werden. Manche sind Außenposten und dienen Zwecken, die sie nicht einmal erahnen kann. Manche sind Schiffe. Nicht dass sie irgendwelche Erfahrungen mit Schiffen hätte, aber auch ohne die Hilfe ihrer Einheit hätte sie die Silhouetten von den Eisbergen unterscheiden können. Jetzt betrachtet sie blinzelnd den lodernden Planeten und versucht, die Namen zu erkennen. Da ist der klobige Umriss der [Spearfisher]. Dort drüben schwebt die [Burst of Blossoms], gleich daneben die schmale lange Hülle der [Nagelneuer Großraumtransporter II]. Weiter draußen entdeckt sie winzige Kieselsteinchen: die [Riptide], die [Swiftness] und die hell glänzende [Blazing Sunlight]. Es gibt noch Hunderte weitere.

Ihr Blick wandert von einem Schiff zum nächsten, während hinter ihr ein Lehrkörper mit quälend langweiliger Stimme doziert. »… größte Wassergewinnungsanlage im Umkreis von zwölf Lichtjahren«, endet die letzte Bemerkung. »Und so ist es schon seit fast einem Jahrtausend.«

[Wann geht uns das Wasser aus?], fragt eine Schülerin hinter Sarya mit strahlend weißen Symbolen. Die Worte drängen in Saryas Gesichtsfeld und versperren den Blick auf den Planeten unten. Das erste unwillkommene Erlebnis in ihren kurzen Erfahrungen mit dem Netzwerk.

»Das ist eine gute Frage«, antwortet die Lehrerin. »Ich kann dir die Antwort gleich …«

»Das ist eine ausgezeichnete Frage, Broca«, sagt eine volltönende neue Stimme. Sie klingt freundlich und warm. Die Art Stimme, die sofort Vertrauen weckt. »Wenn wir das Wasser auch in Zukunft mit der heutigen Rate gewinnen, können wir noch neunzehntausend Jahre so weitermachen«, erklärt die Stimme, die Saryas Seele berührt.

Sie hätte angenommen, dass nichts sie von der Pracht da draußen wegreißen kann, doch mit dieser Stimme hat sie nicht gerechnet. Sie dreht sich um und sucht die Sprecherin. Sie hat die Stimme von Watertower schon einmal gehört, hallend im Rundgang und wenn sie auf den Korridoren Durchsagen machte. Da klang sie aber immer fern und unpersönlich. Jetzt ist Sarya im Herzen der Station und stellt verlegen fest, dass die Menschenaugen schon wieder brennen.

Mitten im Raum schwebt zwischen zwei Lehrkörpern ein silbriger Schein. [Ellie (Sie, Familie), Spezies: Unabhängig, Rang: 2,7] erklärt der Text neben der Erscheinung.

»Hallo, Ellie«, sagt ein Lehrkörper. Die neue Netzwerkeinheit schenkt Sarya eine kleine Einsicht. Ein gelbes [Gereiztheit(leicht)] erscheint neben dem schmalen Gesicht. »Vielleicht möchtest du den Rest meines Vortrags übernehmen?«

»Aber gern«, antwortet der silberne Schein. Die Stimme fließt durch das Beobachtungsdeck wie eine warme Woge. »Ich habe sogar eine Kleinigkeit vorbereitet – nur für den Fall, dass du wieder meine Hilfe brauchst.«

»Das ist die Stationsintelligenz«, flüstert eine von Ehrfurcht und Schleim gezeichnete Stimme neben Saryas Ellenbogen. »Meine Väter sagen, sie ist superklug.«

»Es ist reizend, dass deine Väter dies sagen, Jobe von Jonobo dem Größeren«, wirft Ellie ein. Sarya spürt den Ruck neben sich, als Jobe hört, wie diese wundervolle Stimme seinen Namen ausspricht. »Relativ gesehen, ist es sogar wahr. Ich bin die einzige Rang-3-Intelligenz auf der Station.«

»Um es ganz deutlich zu machen, meine Schüler«, wirft die Lehrerin ein, »Ellie liegt bei zwei Komma sieben. Auf Watertower gibt es keine Dreier.«

»Genau«, antwortet Ellie geschmeidig. »Eine amüsante Tatsache: Das entspricht ungefähr dem Fünfeinhalbfachen des Durchschnitts dieser Klasse.«

»Aber immer noch unter dem Durchschnitt für eine Station dieser Größe«, entgegnet die Lehrerin. Auf der gelben Kennung erscheint das Wort »leicht« nicht mehr neben »Gereiztheit«.

»Ah, aber die Station wächst schon so lange«, erwidert Ellie. »Ich habe sie fast fünfzehnhundert Jahre lang recht gut gemanagt.«

»Ah«, spottet die Lehrerin, und [höfliches Interesse] schwebt neben mehreren Lehrkörpern. »Und trotzdem verlässt du uns jetzt.«

[Ellie verlässt uns?], fragen mehrere Schüler. Die Nachrichten kämpfen in Saryas Gesichtsfeld um den Raum.

»Wohin gehst du denn?«, platzt Jobe heraus.

»Meine Schüler, die Wahrheit ist, dass eure Lehrerin recht hat«, erwidert Ellie. »Wenigstens in dieser Hinsicht hat sie recht. Die Station ist für eine kleine Beinahe-3-Intelligenz wie mich etwas zu groß geworden. Deshalb habe ich beschlossen, meinen Vertrag in diesem Jahrhundert nicht zu verlängern. Unsere derzeitige Wasserlieferung – die wir jetzt gerade versandfertig machen – soll meine perfekte Amtszeit in Watertower beenden.«

»Mit perfekt meint Ellie …«, setzt die Lehrerin an.

»Wir wollen doch die wundervoll orchestrierte Präsentation nicht durch semantische Feinheiten stören«, unterbricht Ellie sie. »Schüler! Bitte blickt direkt zu dem Planeten dort unten. Ich glaube, das wird euch mehr interessieren als alles, was eure Lehrkörper euch sonst mitteilen wollten.«

Wieder presst Sarya sich an die Scheibe. Ihre Mitschüler gesellen sich zu ihr, blinzeln und schirmen die Augen und Sensoren mit verschiedenen Gliedmaßen ab und starren in das Feuer vor der Station. Sarya ignoriert sie, blickt mit weit aufgerissenen Augen ebenfalls nach draußen und sucht zwischen den rotierenden Eisblöcken und den schwebenden Maschinen irgendetwas Neues. Rechts neben ihr setzt unter den Schülern ein Gemurmel ein, das sich ihr wie eine Welle nähert. Sie beugt sich vor und legt die Stirn an das kühle Fenster, um ein möglichst weites Gesichtsfeld zu bekommen.

Da ist es.

Am unteren Rand des Fensters wächst etwas heran wie ein Kristall auf dem Substrat. Es ist schmal, äußerst scharfkantig und schwärzer als der Weltraum selbst. Es gleitet vor dem Planeten vorbei und zerteilt ihn einige Minuten lang diagonal, bis nur noch zwei lodernde Hälften frei im Weltraum schweben.

»Das wäre die Lang und Spitz«, informiert Ellie sie.

»Was für ein origineller Name«, erklärt die Lehrerin. »Man fragt sich, wie man auf so etwas kommt.«

»Der Kunde hat den Namen ausgewählt«, erwidert Ellie. »Normalerweise suchen wir majestätische Namen aus, aber wir wissen ja, wie ein Gruppenbewusstsein funktioniert.«

»Wie bitte?«, keucht die Lehrerin. [Schockiert] schwebt neben dem schmalen Gesicht.

»Dieser kleine Kerl«, fährt Ellie fort, als hätte die Lehrerin nichts gesagt, »ist vierhundert Kilometer lang. Er ist ein Teil der größten Lieferung, die wir je auf den Weg gebracht haben.«

Der Speer aus Eis zieht weiter vorbei, die dunklen Kanten zerteilen den Gasriesen. Er ist unvorstellbar groß. Vierhundert Kilometer. In Watertower-Stationen gemessen, entspricht das … das ist das Ausmaß von Saryas Welt, die Größe von allem, was sie je kennengelernt hat, mal achtzig. Sie stellt sich die Stationen an der schwarzen Rasierklinge entlang nebeneinander aufgereiht vor. Sie hätte nie gedacht, dass es im Sonnensystem so viel Eis gibt, ganz zu schweigen davon, es an einer einzigen Stelle zu finden.

»Das sieht aus wie … ein Sternenschiff«, murmelt sie.

»Genau das ist es auch, Sarya die Tochter«, antwortet Ellie. Ihr wird wohlig warm, als sie die Bestätigung hört. Ellie ist beinahe Rang drei, und sie spricht mit ihr – nicht mit Jobe oder Rama – und nennt sie beim Namen! »Ein vierhundert Kilometer großes Sternenschiff aus Eis«, fährt Ellie fort. »Wenn du noch ein paar Stunden zuschaust, wirst du sehen, wie die Triebwerke vorbeiziehen. In den letzten Jahrzehnten haben wir bereits neunundneunzig andere Schiffe dieser Art konstruiert.«

Wieder sperrt Sarya den Mund auf. Einhundert von diesen Dingern? Bei der Göttin, das ist mehr Eis als …

[Aber wie fliegt es? Durch das Netzwerk?] Die Frage schwebt über Jobes glänzendem Kopf. [Stolz], ergänzt Saryas Einheit darunter. Anscheinend hat er eine ganze Minute damit verbracht, die Nachricht auf dem Armdisplay zu schreiben.

»O nein, Jobe«, antwortet Ellie mit ihrer warmen Stimme, die seinem Namen eine gewisse Würde verleiht. »So viel Masse können wir nicht durch das Netzwerk transportieren. Das würde mehr kosten, als das Wasser wert ist. Nein, diese Lieferung wird in die andere Richtung fliegen, fort vom Netzwerkkorridor dieses Systems in den Tiefraum. Bei Unterlichtgeschwindigkeit wird die Reise Jahrzehnte dauern – vielleicht sogar Jahrhunderte. Glücklicherweise ist der Kunde ein Gruppenbewusstsein – übrigens genau wie deine Lehrerin, aber von höherem Rang –, und deshalb macht es IHM nichts aus, ein paar Jahrhunderte auf die Lieferung zu warten.«

Die Lehrerin verbirgt jetzt ihre Emotionen. Zum ersten Mal in ihrem Leben empfindet Sarya ein wenig Mitleid mit ihr. Es kommt nicht jeden Tag vor, dass Sarya eine Gemeinsamkeit mit einem Gruppenbewusstsein entdeckt, aber sie weiß genau, was jetzt in den vielen Köpfen der Lehrerin vorgeht.

»Dieser Kunde ist ein eigenartiger Typ«, warnt Ellie. »Im Moment existieren da draußen ein paar Tausend von IHM und führen einen Probelauf durch. ER stellt die ganze Mannschaft. Normalerweise schicken wir bei jeder Bestellung mehrere Tausend subpersonale Intelligenzen mit – dafür sind sie sehr gut geeignet –, aber ER hat darauf bestanden, seine Lieferung selbst zu steuern.«

»Wohin, äh, wohin bringt ER die Ladungen?«, fragt Sarya.

»Das geht uns nichts an«, erwidert Ellie, »aber du kannst dir sicher vorstellen, dass es spektakulär wird. Sie sind schließlich speziell für hochenergetisches Terraforming gedacht.«

Mehrere Lehrkörper heben die Hände. »Schüler«, sagt eine Lehrerin, »das bedeutet …«

»Das bedeutet, dass der Kunde mehrere Milliarden Tonnen Eis auf einen Planeten knallen lässt«, erklärt Ellie. »Mit sehr hoher Geschwindigkeit. Einhundertmal.«

»Aber hundert Stück davon?« Jobe ist [schockiert]. »Das könnte einen Planeten zerstören. Oder nicht?«

»Oh, die kinetische Energie eines einzigen Eisschiffs würde eine weltweite Zivilisation vernichten, mein Lieber«, bestätigt Ellie leise kichernd. »Unser Kunde könnte das intelligente Leben auf hundert Planeten vernichten, wenn ER es wollte.«

»Aber das wird ER nicht tun, meine Schüler«, wirft die Lehrerin schnell ein, ehe das Gemurmel im Netzwerk zu laut wird. Aus mehreren Richtungen wirft sie Ellies hellem Schein missbilligende Blicke zu. »Selbst wenn ER es wollte – und ich versichere euch, dass ER es nicht will –, sind die sehr strengen Regelungen des Netzwerks in Bezug auf Terraforming in Kraft.«

»Ach beruhige dich doch«, sagt Ellie. »Das ist alles rein theoretisch, aber vielleicht muss man einen höheren Rang haben, um es zu verstehen. Auf einem besiedelten Planeten, ja, da wäre es ein katastrophales Ereignis. Aber wenn man die hundert Transporter auf einen schönen leeren Wüstenplaneten fallen lässt und ein paar Jahrhunderte wartet, während es kocht und sich wieder abkühlt, bekommt man eine hübsche Welt vom Typ F.«

»Was passiert mit … mit IHM?«, fragt Sarya und blickt mit einem Nicken aus dem Fenster. »Mit denjenigen von IHM, die auf dem Schiff sind? Was passiert mit IHNEN, wenn es abstürzt?«

»Oh, eine Gruppenintelligenz hat kein Problem damit, ein paar Exemplare seiner selbst zu verlieren«, erklärt Ellie. »Dieser Kunde beispielsweise besitzt dort, wo ER herkam, noch Milliarden andere.«

»Meine Schüler, nur damit ihr es wisst«, sagt die Lehrerin mit einem scharfen Blick in die Richtung des silbernen Scheins, »nicht alle Gruppenintelligenzen denken so. Einige von uns sind sehr um das Wohlergehen der einzelnen Zellen bemüht …«

»Aber natürlich«, unterbricht Ellie warm. »Ihr seid alle etwas ganz Besonderes und Einzigartiges.«

»Danke.«

Sarya betrachtet noch ein paar Sekunden die Klinge aus Eis, bis es ihr bewusst wird: Das war nicht die Stimme der Lehrerin. Es klang kleinmütiger, irgendwie gereizt. Und doch könnte sie schwören, dass auch dieses Mal die Antwort, wie es bei der Lehrerin manchmal geschieht, aus mehreren Richtungen gleichzeitig kam.

Sie dreht sich herum, das Overlay folgt der abrupten Bewegung mit einer kleinen Verzögerung. Ein paar Meter hinter ihr stehen zwei zierliche Gestalten in dem freien Raum, der entstanden ist, weil sich die Schüler eilig zurückziehen. Die Körperform der Wesen entspricht ihrer eigenen – zwei Arme, zwei Beine, ein Kopf –, aber sie sind höchstens einen Meter groß. Über den großen goldenen Augen sitzen zerzauste weiße Haarbüschel, und sie tragen ärmellose lange Kutten, die bei raschen Bewegungen flattern. Einer von ihnen hat ein Gerät in den Händen, das Sarya irgendwie bekannt vorkommt, und betrachtet damit den Raum.

»Ah«, sagt Ellie. Auf einmal scheint es so, als fühlte sie sich überhaupt nicht mehr wohl. »Meine Schüler, dies … nun, dies ist eine unerwartete Gelegenheit. Das ist unser Kunde persönlich! Ich wusste gar nicht …«

»Das höre ICH oft«, sagt einer und dreht sich mit dem Ding in den Händen herum, um Ellies Glühen zu untersuchen. »ICH nehme an, man übersieht MICH leicht.«

»Ich entschuldige mich in aller Form«, sagt Ellie. »Ich wollte nicht …«

»Oh, keine Sorge«, antwortet der andere. »Euch niedere Ränge nehme ICH nicht besonders ernst.«

»Aber … natürlich«, antwortet Ellie.

»Ich nehme an, dies ist DEIN Design?«, fragt die Lehrerin und zeigt zum Fenster. Auch ohne die Hilfe ihrer Netzwerkeinheit begreift Sarya, mit welch großem Respekt sie spricht. »Es ist schön«, sagt sie.

»Ja, nicht wahr?«, antwortet einer der beiden. Sie treten an das Fenster, und die Schüler weichen überstürzt zur Seite. Sie blicken nach draußen. Einer verschränkt die Finger – es sind fünf, wie Sarya bemerkt – hinter dem Rücken. »ICH kann es gar nicht erwarten, damit eine Zivilisation zu zerstören.«

Die Schülergruppe verstummt. Selbst die Lehrerin ist [schockiert].

»Äh …«, sagt Jobe laut und bricht das Schweigen. »Ist das … ein Scherz?«

»Dieser kleine Mann!«, ruft eines der Wesen und springt auf ihn zu. »Oder Mädchen. Oder Makel, Murks, Mumpitz, oder was du auch bist. Wenigstens ist einer hier, der ein wenig Humor hat. Sag mir, wie heißt du, Kleiner?«

Sarya sieht, wie Jobe verwirrt blinzelt. Sein Name, seine Pronomina, seine Biografie, alles, was man über ihn wissen will, hängt direkt und gut lesbar vor seinem Gesicht in der Luft. Es sei denn …

»Sie sind nicht im Netzwerk«, schnauft sie. Deshalb kommt ihr das Ding in seiner Hand so bekannt vor. Es ist eine Netzwerkprothese. Das findet sie mehr als seltsam – ein höheres Bewusstsein, das genau wie sie nicht im Netzwerk ist?

»ICH bin nicht im Netzwerk«, korrigiert sie einer der beiden, ohne sie anzusehen. »Keiner von MIR ist es.«

Sarya senkt den Blick und versetzt sich im Geiste einen Tritt, weil sie die Pronomina für Hochrangige vergessen hat. »Ich meinte damit …«

»Allerdings habe ICH das hier für unseren Besuch gemietet«, erklärt derjenige, der die Netzwerkprothese hat. ER wiegt sie vielsagend in der Hand. »Aber es ist so verdammt schwer.«

»ICH glaube, die altmodische Art und Weise ist die Beste«, erklärt der andere. »Nach innen die einfache altmodische Telepathie, nach draußen das einfache alte gesprochene Netzwerk-Standard.«

»Einverstanden«, murmeln mehrere Lehrkörper.

»Und jetzt«, sagt der mit der Prothese und wendet sich wieder an Jobe. »Was wolltest du sagen?«

Jobe trampelt von einem matschigen Bein auf das andere. »Ich bin Jobe«, sagt er.

»Na, war das nicht besser als ein Netzwerk-Overlay, Jobe?«, sagt das Wesen auf der linken Seite, das den Namen perfekt ausspricht. »Es freut mich, dich kennenzulernen. In den Geräuschformen primitiver Münder bin ICH der Beobachter.«

»Eigentlich ist das eher ein Spitzname als ein richtiger Name«, erklärt der auf der anderen Seite. »Aber man kann es leicht aussprechen.«

Eine größere Gestalt schiebt sich nach vorn. »Ich bin Rama«, zischelt eine quietschige Stimme, die Sarya noch nie gehört hat. Zwischen all den Zischlauten kann sie das Standard kaum verstehen.

»Hallo, Rama«, sagt der Beobachter.

»Ich bin Broca«, murmelt jemand anders.

»Broca!«, antwortet der Beobachter mit perfekter Aussprache. »Was für ein hübscher Name!«

Und dann ist die Luft voller primitiver Mundgeräusche, als die Schüler nacheinander ihre Namen in das gesprochene Standard übertragen. Anscheinend, denkt Sarya, haben es einige noch nie zuvor versucht.

»Langsam, ihr Kleinen!«, sagt der Beobachter. »ICH kann euch nicht alle begrüßen. Schließlich bin ICH aus einem bestimmten Grund hier.« Vier Augen bekommen an den Ecken Falten, zwei Münder öffnen sich und entblößen weiße Zähne. Sarya findet den Ausdruck verblüffend. Jede Spezies auf dieser Station benutzt tausend unverständliche Bewegungen und Mienen, um Emotionen zu übermitteln, aber dieser da … sie könnte schwören, dass sich ihr eigenes Gesicht manchmal ganz ähnlich regt. Beispielsweise, wenn sie fröhlich ist. Diesen Gesichtsausdruck hat sie schon oft ausprobiert und sich immer wieder vergeblich bemüht, ihn in das Mandibelnzucken der Witwen zu übersetzen. In Hologrammen hat sie es auch bei Menschen gesehen. Es ist … ein Lächeln.

Wie auf Kommando drehen sich die beiden Gestalten zu Sarya um.

»Oh, hallo«, sagt der Beobachter aus zwei Mündern. »Du bist es.«

Sarya starrt sie erschrocken an. Wie, beim Anblick der Göttin … zum dritten Mal an diesem Tag wird sie aus der Bahn geworfen. Wie angewurzelt steht sie da, bis ihr bewusst wird, dass viele Augen und Sensoren sie beobachten. Sie räuspert sich. »Weiß ich … kenne ich …«

»ICH kenne dich, Sarya die Tochter«, sagt ein Beobachter lächelnd. »Aber ICH habe dich lange nicht gesehen.«

»Jedenfalls war es für dich eine lange Zeit«, ergänzt der andere. »Für MICH war es nur ein Lidschlag.«

Sarya ringt immer noch um Worte. Peinlich ist ihr bewusst, dass sie im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht. Sie schluckt. »Kennen wir uns?«, fragt sie und kommt sich wie eine Idiotin vor, sobald sie es ausgesprochen hat.

Der Beobachter lächelt mit zwei Mündern. »Allerdings«, antwortet der mit der Prothese. »Vielleicht können WIR später UNSERE Erinnerungen austauschen. Aber im Augenblick – du weißt ja, wie das ist. WIR müssen rein nach Gefühl mehrere Milliarden Tonnen Masse steuern.«

»Eine falsche Berechnung«, ergänzt der andere, »und alle gehen kreischend zugrunde.«

Sarya kommt immer noch nicht mit. »Ich …«

»Hör zu«, sagt ein Beobachter. »ICH habe einen Freund auf der Station. Er steuert im Augenblick kein riesiges Eisschiff in der Nähe von Tausenden sogenannten Intelligenzen. Geh doch zu ihm und rede mit ihm.«

»Er ist in Dock A«, erklärt der andere. »Aber ICH möchte dich warnen, dass er einen niedrigeren Rang hat als …« Er senkt die Stimme. »Nun ja, in der gegenwärtigen Gesellschaft dürfte er durchschnittlich sein.« Auf dieses Urteil folgt ein rascher Blick zu Ellies silbernem Schein.

»Aber beeile dich«, drängt der Erste. »Er wird jeden Augenblick abreisen.«

Sarya rührt sich nicht. Sie kann es nicht. Nichts, was sie bisher erlebt hat, konnte sie auf so etwas vorbereiten. Auf einmal machen die beiden kleinen Gestalten eine Geste mit einem Finger. Sie krümmen ihn, was sie als komm her versteht. Sie zögert, dann sucht sie sich einen aus und beugt sich vor, damit er ihr den Mund an das Ohr halten kann. Er hebt den Finger und berührt sie an der Stirn. Sie zuckt zusammen. Die Stelle kitzelt, als hätte sie einen elektrischen Schlag bekommen.

»ICH weiß, woher du kommst«, flüstert der Beobachter.

Zack Jordan: „Last Human – Allein gegen die Galaxis“ ∙ Roman ∙ Aus dem Amerikanischen von Jürgen Langowski ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2020 ∙ 544 Seiten ∙ Preis des E-Books € 12,99 (im Shop)

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