28. Dezember 2022

Science-Fiction und darüber hinaus

Ein Rückblick auf Science-Fiction-Legende Brian W. Aldiss

Lesezeit: 6 min.

Wer sich ernsthaft mit Science-Fiction beschäftigt, kennt Brian W. Aldiss – und kennt ihn doch wieder nicht. Denn der international hochgeschätzte Schriftsteller, der am 19. August 2017 und damit vor etwas mehr als fünf Jahren verstarb, gehört zwar zu den großen Namen des Genres und darf von sich behaupten, maßgeblich zu dessen Erneuerung beigetragen zu haben. Doch sein Werk hat noch weitere Facetten – Romane, die nichts mit SF zu tun haben zum Beispiel, oder erstklassig bestückte Anthologien. Außerdem hat Aldiss Gedichte und autobiographische Schriften verfasst, Bilder gemalt sowie sich vielfach kulturtheoretisch geäußert. Dass zu seinem Werk auch ein Reisebuch über Jugoslawien gehört, wird da beinahe zur Nebensache.

Brian Wilson Aldiss wurde am 18. August 1925 geboren und starb fast auf den Tag genau 92 Jahre später am 19. August 2017. Er hat schon als Kind kleine Geschichten erfunden, die von seiner Mutter aufgeschrieben und gesammelt wurden. Von 1943 bis 1947 war er als Soldat in Indien, Burma und Sumatra stationiert; nach dem Krieg begann er, in einem Buchgeschäft in Oxford zu arbeiten, wo er seine erste Ehefrau kennenlernte. Als die Beziehung scheiterte, heiratete der Brite ein zweites Mal. Insgesamt gingen aus beiden Ehen vier Kinder hervor.

Mitte der 1950er Jahre begann Aldiss damit, Prosa zu publizieren. Seine erste Buchveröffentlichung war bezeichnenderweise kein Genrebeitrag, sondern The Brightfount Diaries (1955), das fiktive Tagebuch über einen alten Buchladen und seine kauzigen Besucher. Der Band hatte Erfolg und als der Verlag nach mehr fragte, lieferte Aldiss seine SF-Kurzgeschichtensammlung Space, Time and Nathaniel (1957; dt. Raum, Zeit und Nathaniel). Ein Jahr später folgte der Roman Non-Stop (1958; dt. Starship – Verloren im Weltraum), die Geschichte eines Generationenraumschiffs, die Aldiss noch bekannter machte. Dieses Nebeneinander von Science-Fiction und Nicht-Science-Fiction, von Romanen und Erzählungen ist typisch für Aldiss, dessen Werk sich schlecht auf wenige Sätze reduzieren lässt. Er hat völlig unterschiedliche Dinge ausprobiert und immer wieder neu angesetzt, als ginge es ihm darum, sich nicht zu wiederholen. Genau dies macht seine Bücher so spannend – vor dem Aufschlagen ist meist unklar, womit man es zu tun bekommt. Noch bevor Hothouse (im Shop) erschien, Aldiss‘ mit dem Hugo ausgezeichnetes Meisterwerk über eine von aggressiver Vegetation geprägte Erde weit in der Zukunft, veröffentlichte er 1961 mit The Male Reponse (dt. O! Afrika) und The Primal Urge (dt. Es brennt ein Licht) zwei übermütige und erotisch grundierte Satiren auf den britischen Kolonialismus bzw. auf das nationale Gesundheitssystem, die auf SF-Elemente fast vollständig verzichten. Aldiss wird diese nichtfantastische Linie seines Schaffens später mit The Hand-Reared Boy (1970; dt. Groß durch eigene Hand) fortsetzen, dem ersten von drei Romanen über die von Pubertätsnöten geplagte Figur des Horatio Stubbs. Zunächst aber veröffentlicht er seine Öko-Dystopien The Dark Light Years (1964; Die dunklen Lichtjahre, im Shop), Greybeard (1964; dt. Graubart, im Shop) und Earthworks (1965; dt. Tod im Staub, im Shop); danach leistet er mehrere wichtige Beiträge zur New Wave. Report on Probability A (1968; dt. Bericht über Probabilität A) ist eine radikale Auseinandersetzung mit der Subjektivität jedweden Realitätsbegriffs und an den französischen Nouveau roman angelehnt, während Barefoot in the Head (1969; dt. Barfuß im Kopf) einen mit psychedelischen Mitteln geführten Krieg in Europa zum Thema hat, bei dessen Schilderung sich Aldiss von James Joyce, aber auch von William S. Burroughs beeinflussen ließ. Spätestens hier zeigt sich, dass dem Briten nichts an einfacher Unterhaltung lag: Es kam ihm wie etwa J.G. Ballard, Thomas M. Disch und Samuel R. Delany darauf an, die intellektuellen wie stilistischen Grenzen des Genres durch eine Hinwendung zur literarischen Moderne zu überwinden. Zwar fallen seine folgenden Romane etwas gemäßigter aus, was die kreativen Ambitionen betrifft, aber außergewöhnlich sind sie dennoch. So lässt sich Frankenstein Unbound (1973; Der entfesselte Frankenstein, im Shop) als postmoderner Roman klassifizieren, dessen in die Vergangenheit geschleuderter Held nicht nur Mary Shelley, sondern auch Victor Frankenstein und dessen Kreatur begegnet. Bei The Eighty-Minute Hour (1974; dt. Die Achtzig-Minuten-Stunde) handelt es sich um eine lustvoll überdrehte Zeitreisegeschichte voller bunter Überraschungen im Stil der 1970er Jahre, während The Malacia-Tapestry (1976; dt. Der Malacia-Gobelin) in einer alternativen Renaissancewelt spielt.

Zwischen 1982 und 1985 veröffentlicht Aldiss dann die Helliconia-Trilogie (im Shop) über einen erdähnlichen Planeten mit extrem langen Jahreszeiten, bei dessen Entwurf er sich immer wieder wissenschaftlichen Beistand holte. Abgesehen vom komplexen Worldbuilding zeigt sich die Qualität der Romane in ihrem Thema: der Zerbrechlichkeit einer Zivilisation, die sich in langgestreckten Zyklen entwickelt und wieder vergeht. Nach diesem Kraftakt (jeder der umfangreichen Bände wurde „in wenig mehr als achtzehn Monaten vollendet“, so Aldiss) erschienen zahlreiche weitere Romane, allerdings wurden sie hierzulande nur noch in Ausnahmefällen übersetzt, zum Beispiel HARM (2007; dt. Terror). Dies betrifft auch die Familiensaga Walcot (2010), die das gesamte 20. Jahrhundert umspannt und vom Verfasser als „magnum opus“ betrachtet wurde. Mit den kürzeren Büchern The Finches of Mars (2012, SF) und Comfort Zone (2013) beschließt Aldiss sein Werk.

Wer von den Romanen spricht, sollte allerdings auch Aldiss‘ beachtlichen Leistungen auf dem Gebiet der Kurzgeschichte erwähnen – nicht umsonst wurde Supertoys Last All Summer Long (1969) als A.I. (2001) von Steven Spielberg verfilmt. Drei weitere Beispiele: Die 1964 mit dem Nebula Award ausgezeichnete Novelle The Saliva Tree (dt. Der Speichelbaum) kombiniert ein an H.G. Wells erinnerndes Szenario mit Elementen von H.P. Lovecraft, wobei hinter dem abenteuerlichen Geschehen um einen außerirdischen Aggressor Industrialisierung und Sozialismus thematisiert werden. (Aldiss ist 1980 in seinem Roman Moreau‘s Other Island, dt. Dr. Moreaus neue Insel (im Shop) auf Wells zurückgekommen.) In Manuscript Found in a Police Station (1974; dt. Aufzeichnungen aus einem Polizeistaat) werden politische Gefangene in einem steinernen Rad untergebracht, das sie durch einen Berg ziehen müssen; Dauer der Strafe: Zehn Jahre. Die Handlung hätte ausgefeilter sein können, aber die Zustände in dieser „Strafkolonie“ sind unvergesslich; Aldiss hat die Idee in Helliconia: Winter erneut aufgegriffen. Heresies of the Huge God (1966; dt. Die Häresien gegen den riesigen Gott) handelt hingegen von einem gigantischen außerirdischen Artefakt, das auf die Erde niedergeht und den Planeten schließlich sogar aus der Umlaufbahn drängt, während es als Gottheit verehrt wird – eine böse Parabel auf Religion und Dogmatismus. Die Kurzgeschichten von Aldiss sind zwar vielfach gesammelt worden (etwa in dem Band Der Sternenschwarm, im Shop), verdienen aber ebenso eine Neuauflage wie die Romane.

Der Theoretiker Aldiss ist in Deutschland hingegen nur mit seiner SF-Historie Billion Year Spree (1973; später mit David Wingrove erweitert zu Trillion Year Spree, dt. Der Milliarden Jahre Traum) hervorgetreten, die zu Recht als – zudem preisgekröntes – Standardwerk gilt. Aufsatzbände wie beispielsweise This World and Nearer Ones. Essays Exploring the Familiar (1979) wurden nie übersetzt, was schade ist, weil man dort scharfsinnige Beiträge zu James Blish (im Shop), Philip K. Dick und Robert Sheckley (im Shop) lesen kann. Aber auch zu dem britischen Symbolisten Georg Frederic Watts (1817–1904) findet sich ein Aufsatz, was ein weiteres Mal das weitgefasste Themenspektrum des Verfassers unterstreicht. Ähnlich unbeachtet blieb hierzulande der autobiographische Aldiss, etwa in The Twinkling of an Eye, Or My Life as an Englishman (1998). Wer Einblick in die Interessen des Schriftstellers und in die Vielschichtigkeit seiner Person nehmen möchte, sollte auf den Fotoband My Father’s Things zurückgreifen, den Wendy Aldiss 2020 über den Nachlass ihres Vaters veröffentlicht hat.

Brian W. Aldiss wurde in Deutschland zunächst viel publiziert. Wie bei anderen engagierten SF-Autoren fanden seine Bücher nach 1989 leider nur noch in Ausnahmefällen Berücksichtigung; erst in jüngerer Zeit konnten einige Titel zumindest im E-Book wieder greifbar gemacht werden. Ein wichtiger Impuls, um fünf Jahre nach seinem Tod das intelligente, vielseitige und komplexe Werk von Brian W. Aldiss neu zu entdecken.

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