„Xenogenesis“: die Leseprobe
Das einzigartige Science-Fiction-Meisterwerk von der Autorin von „Die Parabel des Sämanns“
Mit ihrer hoffnungsvollen Vision nimmt uns Octavia E. Butler in „Xenogenesis“ (im Shop) mit auf eine atemberaubende Reise in die ferne Zukunft der Menschheit. Ein Atomkrieg hat die Erde fast vollständig zerstört. Nur einige wenige Menschen wurden von den Oankali, einer geheimnisvollen außerirdischen Spezies, gerettet. Jetzt sollen sie auf ihren Heimatplaneten zurückkehren. Aber die Hilfe der Oankali hat ihren Preis … „Xenogenesis“ beinhaltet die drei Romane „Dämmerung“, „Rituale“ und „Imago“.
*
Was würden sie diesmal machen? Noch mehr Fragen stellen? Ihr einen neuen Begleiter geben? Es interessierte Lilith kaum. Sie saß angezogen auf dem Bett und wartete, müde auf eine tiefe, leere Weise, die nichts mit physischer Müdigkeit zu tun hatte. Früher oder später würde jemand zu ihr sprechen.
Sie musste lange warten. Sie hatte sich hingelegt und war fast eingeschlafen, als eine Stimme ihren Namen sagte.
»Lilith?« Die übliche ruhige, androgyne Stimme.
Sie holte tief und müde Luft. »Was?«, fragte sie. Doch noch während sie sprach, wurde ihr klar, dass die Stimme nicht wie sonst von der Decke gekommen war. Sie setzte sich hastig auf und blickte sich um. In einer Ecke entdeckte sie die schattenhafte Gestalt eines dünnen, langhaarigen Mannes.
War er der Grund für die Kleidung? Er schien eine ähnliche Montur zu tragen. Etwas, das er ausziehen würde, wenn sie beide sich besser kennenlernten? Großer Gott!
»Ich glaube, Sie könnten der Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen bringt«, sagte sie leise.
»Ich bin nicht hier, um dir wehzutun«, antwortete er.
»Nein. Natürlich nicht.«
»Ich bin hier, um dich nach draußen zu bringen.«
Jetzt stand sie auf. Sie wünschte sich mehr Licht, als sie ihn prüfend betrachtete. Scherzte er? Machte er sich über sie lustig?
»Nach draußen? Wozu?«
»Ausbildung. Arbeit. Der Beginn eines neuen Lebens.«
Sie trat einen Schritt auf ihn zu, dann blieb sie stehen. Er machte ihr irgendwie Angst. Sie konnte sich nicht überwinden, an ihn heranzutreten. »Irgendetwas stimmt nicht«, sagte sie. »Wer sind Sie?«
Er bewegte sich leicht. »Und was bin ich?«
Sie zuckte zusammen, weil sie genau das fast gesagt hätte.
»Ich bin kein Mann«, fuhr er fort. »Ich bin kein Mensch.« Lilith wich bis zum Bett zurück, setzte sich aber nicht. »Sagen Sie mir, was Sie sind.«
»Ich bin hier, um es dir zu sagen … und zu zeigen. Willst du mich nun ansehen?«
Da sie ihn – es – schon ansah, runzelte sie die Stirn. »Das Licht …«
»Es wird sich verändern, wenn du bereit bist.«
»Sie sind … was? Von einer anderen Welt?«
»Von einer Reihe anderer Welten. Du bist eine der wenigen Englischsprechenden, die nie erwogen hat, dass sie sich in den Händen von Außerirdischen befinden könnte.«
»Ich habe es erwogen«, flüsterte Lilith. »Zusammen mit der Möglichkeit, dass ich im Gefängnis sein könnte, in einer Heilanstalt, in den Händen des FBI, der CIA oder des KGB. Die anderen Möglichkeiten schienen nur geringfügig weniger lächerlich.«
Das Wesen sagte nichts. Es stand völlig regungslos in seiner Ecke, und Lilith wusste von ihren vielen Erwachen, dass es erst wieder mit ihr sprechen würde, wenn sie tat, was es wünschte – wenn sie sagte, dass sie bereit war, es anzusehen, und dann, im helleren Licht, den obligatorischen Blick auf es warf. Diese Dinger, was immer sie waren, diese Wesen, waren unglaublich gut im Warten. Sie ließ das hier ein paar Minuten warten, und es schwieg nicht nur, es bewegte auch nicht einen Muskel. Disziplin oder Physiologie?
Sie hatte keine Angst. »Hässliche« Gesichter hatten sie schon lange vor ihrer Gefangennahme nicht mehr erschrecken können. Es war das Unbekannte, das ihr Angst machte. Der Käfig, in dem sie sich befand. Sie wollte sich lieber an egal wie viele hässliche Gesichter gewöhnen, als in ihrem Käfig zu bleiben.
»Also gut«, sagte sie. »Zeigen Sie sich mir.«
Das Licht wurde heller, wie sie vermutet hatte, und was wie ein großer, schlanker Mann ausgesehen hatte, war zwar immer noch humanoid, aber es hatte keine Nase – keinen Wulst, keine Nüstern –, nur glatte, graue Haut. Es war grau – hellgraue Haut, dunkelgraueres Haar auf dem Kopf, das nach unten wuchs, um seine Augen und Ohren herum und an seiner Kehle. Es war so viel Haar vor seinen Augen, dass Lilith sich fragte, wie das Wesen sehen konnte. Das lange, üppige Ohrhaar schien sowohl aus den Ohren heraus als auch um sie herum zu wachsen. Darüber verband es sich mit dem Aughaar und darunter und dahinter mit dem Kopfhaar. Die Insel Kehlhaar schien sich leicht zu bewegen, und Lilith kam der Gedanke, dass dies die Stelle sein könnte, wo das Wesen atmete – eine Art natürliche Tracheotomie.
Sie warf einen flüchtigen Blick auf den humanoiden Körper und fragte sich, wie menschlich er wirklich war. »Nichts für ungut«, sagte sie, »aber sind Sie ein Mann oder eine Frau?«
»Es ist falsch, anzunehmen, dass ich ein Geschlecht haben muss, wie du es kennst«, erwiderte es, »aber zufällig bin ich ein Mann.«
Gut. »Es« konnte wieder »er« werden. Weniger peinlich.
»Du solltest bemerken«, fuhr er fort, »dass das, was du wahrscheinlich als Haar siehst, gar kein Haar ist. Ich habe kein Haar. Die Realität scheint Menschen zu beunruhigen.«
»Was?«
»Komm näher und schau!«
Lilith wollte ihm nicht näher sein. Sie hatte zuerst nicht gewusst, was sie zurückgehalten hatte. Jetzt war sie sicher, dass es seine Fremdartigkeit war, seine Andersartigkeit, seine buchstäbliche Unirdischkeit. Sie fand sich immer noch unfähig, auch nur einen Schritt näher an ihn heranzutreten.
»O Gott«, flüsterte sie. Und das Haar – das was immer es war – bewegte sich. Etwas davon schien auf sie zuzuwehen wie im Wind – obwohl sich kein Luftzug im Raum rührte.
Sie runzelte die Stirn und bemühte sich, zu sehen, zu verstehen. Dann begriff sie abrupt. Sie wich zurück, um das Bett herum bis an die gegenüberliegende Wand. Als sie nicht mehr weiterkonnte, blieb sie an der Wand stehen und starrte ihn an.
Medusa.
Ein Teil des »Haars« wand sich unabhängig, wie ein Nest aufgescheuchter Schlangen, die in alle Richtungen auseinanderfuhren.
Angewidert drehte Lilith das Gesicht zur Wand.
»Es sind keine separaten Tiere«, sagte er. »Es sind Sinnesorgane. Sie sind ebenso wenig gefährlich wie deine Nase oder deine Augen. Es ist natürlich, dass sie sich auf meine Wünsche oder Emotionen oder auf Stimuli von außen bewegen. Wir haben sie auch an unseren Körpern. Wir brauchen sie genauso, wie du deine Ohren, Nase und Augen brauchst.«
»Aber …« Ungläubig drehte sie sich wieder zu ihm um. Warum sollte er solche Dinge – Tentakel – zur Ergänzung seiner Sinne brauchen?
»Wenn du kannst«, fuhr er fort, »komm näher und schau mich an. Ich habe erlebt, dass Menschen glaubten, sie sähen menschliche Sinnesorgane an meinem Kopf, und dann wütend auf mich wurden, als ihnen klar wurde, dass sie sich irrten.«
»Ich kann nicht«, flüsterte sie, obschon sie es jetzt wollte. Konnte sie sich so geirrt haben, so von ihren eigenen Augen getäuscht worden sein?
»Komm«, sagte er. »Meine Sinnesorgane sind nicht gefährlich für dich. Du wirst dich an sie gewöhnen müssen.«
»Nein!«
Die Tentakel waren elastisch. Bei Liliths Ausruf dehnten sich einige von ihnen aus und streckten sich auf sie zu. Sie musste an große, langsam zuckende, sterbende Regenwürmer denken, die nach einem Schauer auf dem Gehsteig lagen. Sie musste an kleine, tentakelbewehrte Meeresschnecken denken – Nacktkiemer –, die auf unglaubliche Weise zu menschlicher Größe und Form angewachsen waren und, abstoßenderweise, mehr wie ein Mensch klangen als manche Menschen. Aber sie musste ihn sprechen hören. Wenn er schwieg, war er völlig fremdartig.
Sie schluckte. »Hören Sie, bitte schweigen Sie nicht. Reden Sie mit mir!«
»Ja?«
»Wieso sprechen Sie überhaupt so gut Englisch? Sie müssten zumindest einen ungewöhnlichen Akzent haben.«
»Leute wie du brachten es mir bei. Ich spreche mehrere menschliche Sprachen. Ich begann sehr jung mit dem Lernen.«
»Wie viele Menschen haben Sie noch hier? Und wo sind wir hier?«
»Dies ist mein Zuhause. Du würdest es als Schiff bezeichnen – ein gewaltiges im Vergleich zu denen, die dein Volk gebaut hat. Was es wirklich ist, lässt sich nicht übersetzen. Man wird dich verstehen, wenn du es ein Schiff nennst. Es befindet sich auf einer Umlaufbahn um deine Erde, ein wenig außerhalb der Umlaufbahn deines Erdenmonds. Was deine Frage anbetrifft, wie viele Menschen hier sind: alle, die euren Krieg überlebten. Wir sammelten so viele ein, wie wir konnten. Diejenigen, die wir nicht rechtzeitig fanden, starben an Verletzungen, Krankheit, Hunger, Strahlung, Kälte … Wir fanden sie später.«
Sie glaubte ihm. Die Menschheit hatte bei ihrem Versuch, sich selbst zu zerstören, die Welt unbewohnbar gemacht. Lilith war sicher gewesen, dass sie sterben würde, obschon sie die Bombardierung ohne einen Kratzer überlebt hatte. Sie hatte ihr Überleben als Unglück betrachtet – die Aussicht auf einen schleichenden Tod. Und jetzt …? »Ist noch irgendetwas übrig geblieben auf der Erde?«, flüsterte sie. »Etwas Lebendiges, meine ich?«
»O ja. Die Zeit und unsere Bemühungen haben sie wiederhergestellt.«
Lilith hielt inne und brachte es sogar fertig, ihn einen Moment anzuschauen, ohne sich von den sich langsam windenden Tentakeln ablenken zu lassen. »Wiederhergestellt? Warum?«
»Zum Gebrauch. Du wirst irgendwann dorthin zurückkehren.«
»Sie werden mich zurückschicken? Auch die anderen Menschen?«
»Ja.«
»Warum?«
»Das wirst du nach und nach verstehen lernen.«
Sie runzelte die Stirn. »Na schön, ich fange jetzt damit an. Sagen Sie es mir.«
Seine Kopftentakel wogten. Einzeln betrachtet, sahen sie eher wie große Würmer als wie kleine Schlangen aus. Lang und dünn oder kurz und dick, wie … Wie was? Wie seine Stimmung wechselte? Wie sich seine Aufmerksamkeit verlagerte? Lilith blickte weg.
»Nein!«, sagte er scharf. »Ich werde nur mit dir sprechen, Lilith, wenn du mich ansiehst.«
Sie ballte eine Hand zur Faust und grub bewusst die Nägel in die Handfläche, bis sie beinahe die Haut durchbohrten. Durch diesen Schmerz abgelenkt, sah sie ihn an. »Wie heißen Sie?«, fragte sie.
»Kaaltediinjdahya lel Kahguyaht aj Dinso.«
Sie starrte ihn an, dann seufzte sie und schüttelte den Kopf.
»Jdahya«, sagte er. »Dieser Teil bin ich. Der Rest sind meine Familie und andere Dinge.«
Sie wiederholte den kürzeren Namen, wobei sie sich bemühte, ihn genauso auszusprechen wie er und das ungewohnte angedeutete j richtig klingen zu lassen. »Jdahya«, sagte sie, »ich will den Preis für die Hilfe Ihres Volks wissen. Was verlangen Sie von uns?«
»Nicht mehr, als ihr geben könnt – aber mehr, als du hier und jetzt verstehen kannst. Mehr, als Worte dir zunächst zu verstehen werden helfen können. Es gibt Dinge, die du draußen hören und sehen musst.«
»Sagen Sie mir jetzt etwas, ob ich es verstehe oder nicht.« Seine Tentakel kräuselten sich. »Ich kann nur sagen, dass dein Volk etwas hat, das wir schätzen. Du beginnst vielleicht zu verstehen, wie sehr wir es schätzen, wenn ich dir sage, dass es nach eurer Zeitmessung mehrere Millionen Jahre her ist, dass wir es wagten, uns in den Selbstzerstörungsakt eines anderen Volkes einzumischen. Viele von uns bezweifelten, ob es diesmal klug war, es zu tun. Wir dachten … dass es einen Konsens zwischen euch gegeben hätte, dass ihr vereinbart hättet, zu sterben.«
»Keine Spezies würde das tun!«
»Doch. Einige haben es getan. Und ein paar davon haben ganze Schiffe mit unseren Leuten mitgenommen. Wir haben gelernt. Massenselbstmord ist eins der wenigen Dinge, um die wir uns gewöhnlich nicht kümmern.«
»Wissen Sie jetzt, was mit uns passiert ist?«
»Ich weiß, was passiert ist. Es ist … fremd für mich. Erschreckend fremd.«
»Ja. So ähnlich habe ich selbst empfunden, obwohl es mein Volk ist. Es war … mehr als Wahnsinn.«
»Einige der Leute, die wir auflasen, hatten sich tief unter der Erde versteckt. Sie hatten einen Großteil der Zerstörung verursacht.«
»Und sie leben noch?«
»Einige von ihnen.«
»Und Sie haben vor, sie zur Erde zurückzuschicken?«
»Nein.«
»Was?«
»Diejenigen, die noch leben, sind jetzt sehr alt. Wir haben sie langsam benutzt und Biologie, Sprache und Kultur von ihnen gelernt. Wir weckten immer ein paar gleichzeitig und ließen sie ihr Leben hier in verschiedenen Teilen des Schiffs leben, während du schliefst.«
»Während ich schlief … Jdahya, wie lange habe ich geschlafen?«
Er ging durch den Raum zu dem Tischpodest, legte eine vielfingrige Hand darauf und drückte sich hoch. Die Beine an den Körper angezogen, lief er mühelos auf den Händen zur Mitte der Plattform. Die ganze Bewegungsfolge war so flüssig und natürlich und doch so fremd, dass es Lilith faszinierte.
Abrupt wurde ihr klar, dass er ihr mehrere Meter näher war. Sie sprang zurück, doch dann kam sie sich albern vor und bemühte sich, wieder auf ihn zuzukommen. Jdahya hatte sich kompakt in eine unbequem aussehende, sitzende Position zusammengefaltet. Er ignorierte Liliths plötzliche Bewegung – bis auf seine Kopftentakel, die alle wie im Wind auf sie zuschwangen. Er schien zuzusehen, wie sie ganz langsam zum Bett zurückkam. Konnte ein Lebewesen mit Sinnestentakeln anstatt Augen sehen?
Als sie so dicht an ihn herangekommen war, wie sie konnte, blieb sie stehen und setzte sich auf den Boden. Es fiel ihr schwer, zu bleiben, wo sie war. Sie zog die Knie an die Brust und umklammerte sie ganz fest.
»Ich verstehe nicht, warum ich solche … Angst vor Ihnen habe«, flüsterte sie. »Davor, wie Sie aussehen, meine ich. So anders sind Sie doch nicht. Es gibt – oder gab – Lebensformen auf der Erde, die wie Sie aussahen.«
Er sagte nichts.
Lilith betrachtete ihn prüfend; sie hatte Angst, dass er in eins seiner langen Schweigen verfallen sei. »Ist es etwas, das Sie tun?«, wollte sie wissen. »Etwas, wovon ich nichts weiß?«
»Ich bin hier, um dir beizubringen, dich bei uns wohlzufühlen«, erklärte er. »Du verhältst dich sehr gut.«
Sie hatte ganz und gar nicht das Gefühl, dass sie sich gut verhielt. »Wie haben sich andere denn verhalten?«
»Einige haben versucht, mich zu töten.«
Sie schluckte. Es überraschte sie, dass sie es fertiggebracht hatten, ihn zu berühren. »Was haben Sie mit ihnen gemacht?«
»Weil sie versuchten, mich zu töten?«
»Nein, vorher – um sie dazu zu bringen.«
»Nicht mehr, als ich jetzt mit dir mache.«
»Ich verstehe nicht.« Sie zwang sich, ihn anzuschauen. »Können Sie wirklich sehen?«
»Sehr gut sogar.«
»Farben? Tiefe?«
»Ja.«
Und doch stimmte es, dass er keine Augen hatte. Lilith konnte jetzt sehen, dass dort nur dunkle Stellen waren, wo dicht Tentakel wuchsen. Genauso wie an den Seiten seines Kopfes, wo Ohren hätten sein sollen. Und da waren Öffnungen an seiner Kehle. Und die Tentakel um sie herum sahen nicht so dunkel aus wie die anderen. Trüb durchsichtige, blassgraue Würmer.
»Tatsächlich solltest du wissen«, fuhr er fort, »dass ich überall dort sehen kann, wo ich Tentakel habe – und dass ich sehen kann, ob ich es zu bemerken scheine oder nicht. Ich kann nicht nicht sehen.«
Das klang wie ein schreckliches Leben – nicht die Augen schließen und in die ungestörte Dunkelheit hinter seinen eigenen Lidern versinken zu können. »Schlafen Sie nicht?«
»Doch. Aber nicht so wie du.«
Sie wechselte abrupt das Thema. »Apropos schlafen, Sie haben mir noch nicht gesagt, wie lange Sie mich haben schlafen lassen.«
»Ungefähr … zweihundertfünfzig deiner Jahre.«
Das war mehr, als Lilith auf einmal verarbeiten konnte. Sie sagte so lange nichts, dass Jdahya das Schweigen brach.
»Irgendetwas ging schief, als du das erste Mal geweckt wurdest. Ich hörte von mehreren Leuten davon. Jemand fasste dich falsch an – unterschätzte dich. Du bist in mancher Hinsicht wie wir, aber man dachte, du wärst wie deine Militärleute, die sich unter der Erde versteckten. Auch sie wollten nicht mit uns reden. Zuerst nicht. Nach diesem anfänglichen Fehler ließ man dich ungefähr fünfzig Jahre lang schlafen.«
Sie kroch zum Bettende, Würmer hin, Würmer her, und lehnte sich dagegen. »Ich habe immer gedacht, dass zwischen meinem jeweiligen Erwachen Jahre liegen könnten, aber ich habe es nicht wirklich geglaubt.«
»Du warst wie deine Welt. Du brauchtest Zeit zum Heilen. Und wir brauchten Zeit, um mehr über deine Art zu lernen.« Er hielt inne. »Wir wussten nicht, was wir denken sollten, als sich einige deiner Leute umbrachten. Einige von uns glaubten, sie hätten es getan, weil sie bei dem Massenselbstmord vergessen worden wären … dass sie einfach ihr Sterben beenden wollten. Andere meinten, weil wir sie isoliert hielten. Wir begannen, zwei oder mehr zusammenzustecken, und viele verletzten oder töteten sich gegenseitig. Isolation kostete weniger Leben.«
Diese letzten Worte rührten an eine Erinnerung in ihr. »Jdahya?«, sagte sie.
Die Tentakel die Seiten seines Gesichts hinunter erzitterten und erinnerten einen Moment lang an einen dunklen Backenbart. »Einmal wurde ein kleiner Junge zu mir gesteckt. Sein Name war Sharad. Was ist aus ihm geworden?«
Jdahya schwieg für einen Augenblick, dann streckten sich alle seine Tentakel hoch. Jemand sprach von oben zu ihm auf die übliche Weise und in einer Stimme wie seine eigene, doch diesmal in einer fremden Sprache, abgehackt und schnell.
»Mein Verwandter wird es herausfinden«, sagte er zu Lilith.
»Sharad geht es mit ziemlicher Sicherheit gut, obwohl er vielleicht kein Kind mehr ist.«
»Sie haben die Kinder aufwachsen und alt werden lassen?«
»Ein paar, ja. Aber sie haben unter uns gelebt. Wir haben sie nicht isoliert.«
»Sie hätten keinen von uns isolieren dürfen, es sei denn, Sie wollten uns in den Wahnsinn treiben. Bei mir wäre es Ihnen mehr als einmal fast gelungen. Menschen brauchen einander.« Seine Tentakel wanden sich abstoßend. »Das wissen wir. Ich hätte nicht so viel Einsamkeit ertragen wollen wie du. Aber wir hatten keine Erfahrung darin, Menschen so zu gruppieren, wie es ihnen gefiel.«
»Aber Sharad und ich …«
»Er hat vielleicht Eltern gehabt, Lilith.«
Jemand sprach von oben, auf Englisch diesmal. »Der Junge hat Eltern und eine Schwester. Er schläft zusammen mit ihnen, und er ist noch sehr jung.« Es entstand eine Pause. »Lilith, welche Sprache sprach er?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Lilith. »Entweder war er zu jung, um es mir zu sagen, oder er hat es versucht, und ich habe es nicht verstanden. Aber ich glaube, er könnte Inder gewesen sein – wenn Ihnen das etwas sagt.«
»Andere wissen es. Ich war nur neugierig.«
»Geht es ihm wirklich gut?«
»Ja.«
Sie fühlte sich beruhigt und stellte die Emotion augenblicklich infrage. Warum sollte es sie beruhigen, wenn ihr irgendeine anonyme Stimme versicherte, dass alles in Ordnung sei?
»Kann ich ihn sehen?«, fragte sie.
»Jdahya?«, sagte die Stimme.
Jdahya drehte sich zu ihr um. »Du wirst ihn sehen können, wenn du ohne Panik unter uns gehen kannst. Dies ist dein letzter Isolationsraum. Wenn du bereit bist, werde ich dich hinausführen.«
*
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Octavia Butler: Xenogenesis · Aus dem Englischen von Barbara Heitkamp · Wilhelm Heyne Verlag · 976 Seiten · Paperback: € 19,– im Shop
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