„The Beast“: Bester Sci-Fi-Film der letzten Jahre?
Definitiv: Umwerfende Liebeserklärung an eine Großschauspielerin
Wenn auf jeden Fall was von „The Beast“ in Erinnerung bleibt, dann ist das Lèa Seydoux.
Die französische Schauspielerin ist hier satte 146 Minuten lang in fast jeder Einstellung zu sehen und Regisseur Bertrand Bonello nutzt jede sich bietende Gelegenheit dieses umwerfend schöne, so fragil, wie herbe, leicht entrückt wirkende Gesicht mit den durchdringenden Augen zu erkunden. Ein Gesicht, gleichwohl der Kern des Films wie über den Film schwebend. Und Sedoux bedankt sich für die Aufmerksamkeit mit einer vielschichtigen, äußerst kontrollierten Vorstellung, die ihr niemals entgleitet, niemals zum Showreel wird, „The Beast“ zusammenhält. Das ist ihr Film.
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„The Beast“ basiert auf der 1903 erschienenen Novelle „The Beast in the Jungle“ des amerikanisch-britischen Schriftstellers Henry James, im angelsächsischen Raum ein großer Name, hierzulande wohl nur dank „Schloss des Schreckens“, der 1961 erschienenen, genialen Adaption von James’ „Das Durchdrehen der Schraube“, dem ein oder anderen ein Begriff.
„The Beast in the Jungle“ erzählt von John Marcher, der May Bartram begegnet, einer Frau, die er seit einem Aufenthalt in Süditalien vor 10 Jahren kennt und die von seinem merkwürdigem Geheimnis weiß: Marcher glaubt tief daran, dass sein Leben von einem spektakulären oder katastrophalen Ereignis bestimmt werden wird, das wie das titelgebende Tier im Dschungel auf ihn lauert. May entschließt sich, mit ererbtem Geld ein Haus in London zu kaufen und ihre Tage mit Marcher zu verbringen, neugierig darauf, was sein Schicksal für ihn wohl in Petto haben wird. John hält May dabei stets auf Abstand, da er nicht will, dass sie seinem Schicksal ebenfalls ausgesetzt wird. Am Ende muss John die Erkenntnis machen, dass die größte Katastrophe war, dass er seine besten Jahre vergeudet, die Liebe einer wunderbaren Frau ignoriert hat.
Gute Literatur zeichnet sich durch eine gewisse Offenheit aus. So auch James’ Kurzroman, durch den Motive wie Einsamkeit, Schicksal, Liebe, Tod schwirren und die zum Beispiel als Parabel auf ein vergeudetes Leben und als gleichzeitige Aufforderung das Potential des Moments zu realisieren, im Hier und Jetzt zu leben, verstanden werden kann. Oder als literarische Aufarbeitung von James’ langjähriger, vermutlich romantischer Beziehung zur amerikanischen Schriftstellerin Constanze Fenimore Woolson.
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So ungewöhnlich das Buch, so ungewöhnlich die Überführung ins Medium Film. So wurde 2023 die französisch-belgisch-österreichische Co-Produktion „Das Tier im Dschungel“ (La bête dans la jungle) von Patric Chia veröffentlicht. Chias Adaption verlagert die Geschichte in einen Pariser Nachtclub, in dem seine beiden von einander besessenen, aber sich stets nur umkreisenden und Abseits der Tanzfläche sitzenden Protagonisten von 1979 bis 2004 in Habachtstellung verharren. Der Clou: Der Film findet – fast – nur in diesem Nachtclub statt. Er bietet eine Interpretation des Motivs „Zeitmaschine“ an, denn die Protagonisten erleben das Verfliegen der Zeit fast komplett abgekapselt von der Außenwelt, in diesem engen, irreal wirkenden Ambiente, das von Menschen bevölkert wird, die versuchen dem Draußen fliehen, nicht von der „normalen Welt“ aufgesaugt werden wollen, auf der Jagd nach dem „wirklichen Leben“ sind.
Dass sich etwas ändert, wird nur durch die sich wechselnden Outfits, die unterschiedliche Musik (Chias Film ist zudem eine Reise durch 25 Jahre elektronische Musik – von Disco zu Industrial) und vor allem durch Zeitgeschehen auf einem kleinen Monitor, unter anderem Mitterrands Amtszeit, die Aidskrise, der Mauerfall, der 11. September, deutlich. Und das Menschen kommen und gehen oder vielmehr aus den Mikrokosmos der beiden verschwinden. Oder aber gespenstergleich wieder auftauchen.

Chias nahezu hypnotisches Werk atmet trotz des veränderten Rahmens stark den Geist Henrys und schildert in farbenprächtigen, verspielt-überästhetisierten Bildern ein ungelebtes Leben. Selbst wenn man zwangsläufig eines Tages an einem mausgrauen Tag (die wenigen Außenszenen könnte in keinem größeren Kontrast stehen) aufwacht und mit dem bleiernen Schrecken des Alterns konfrontiert werden wird, ist es nicht verkehrt, dem Glam und Glitter des Moments zu genießen, dem Gefühl des Augenblicks zu folgen, der Platz sollte stets mittendrin sein. Wer zögert, wird bereuen. Das Erwachen folgt so oder so.
„Das Tier im Dschungel“ verleitet aufgrund der etwas theatralen Inszenierung der Darsteller und der eigentümlichen, halbgestelzt klingenden Texte leicht zum Zücken des „prätentiös“-Etiketts, allerdings ist die Annäherung an James’ formvollendeten, aber oft eigentümlichen und selbst zu seiner Zeit nicht gerade alltagstauglich klingenden Schreibstil nur konsequent und addiert zur eigentümlichen Atmosphäre.
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Der letzte Absatz trifft auch auf Bonellos „The Beast“ (ebenfalls von 2023, allerdings erst jetzt hierzulande breitflächig zugänglich) zu, der den Bogen um einiges weiter spannt – nämlich von 1910 bis 2044. Würde einen schon die Nacherzählung von Chias Film vor ein Feld voller Stolpersteine stellen, ist Bonellos kaum noch greifbar.
Das Gerüst: Im Jahr 2044 sind im leergefegten Paris Gasmasken angesagt und die Arbeitslosigkeit ist hoch, da eine KI für gesellschaftliche Fragen zuständig ist, viele Aufgaben gleich selbst erledigt und die Verteilung der übrigen Arbeit übernimmt, was für Gabrielle frustrierend ist, denn sie ist für die Temperaturprüfung von Schaltkreisen zuständig. Etwas mehr Herausforderung wäre fein, doch die junge Frau muss dazu von der KI erst ihre DNA „reinigen“ lassen, da in dieser gar nicht so schönen, neuen Welt Gefühle zur Bedrohung geworden sind, da durch diese rationale und KI-konforme Entscheidungen verhindert werden. Beim Prozess wird sie von der Maschine in ihre frühere Leben zurückversetzt, um so mögliche Traumata zu verarbeiten.
Die erste Station ist das Jahr 1910, kurz vor dem Seinehochwasser, in dem Gabrielle mit einem reichen Fabrikanten in Paris lebt, der lebensecht wirkende Puppen aus Kunststoff anfertigt. Sie verkehrt als brillante Pianistin in der Oberschicht und begegnet dort Louis, den sie bereits sechs Jahre zuvor in Neapel kennengelernt und ihm gestanden hatte, dass ihr Leben von der Angst vor einer eintreffenden Katastophe beherrscht wird. Louis und Gebrielle kommen sich näher, doch sie fängt aufgrund ihrer Furcht keine Affäre mit Louis an, wird ihm aber 2014 in ihrer Inkarnation als Model und Schauspielerin und 2044 wieder begegnen …
Bonello tauscht nicht nur die Vorzeichen, es ist hier die Frau, die von der Angst vor dem Biest im Dschungel geplagt wird, sondern entfernt sich weiter als Chia von der Vorlage. Er spannt einen viel größeren Bogen, der von einem Thema, der Angst vor Gefühlen, vor der Liebe, lose verbunden wird, aber mit fortschreitender Laufzeit einen immer größere werdenden Bedeutungsraum öffnet, der weitere Themen wie Automatisierung, Entfremdung oder Einsamkeit anschneidet, ohne aber je eine eindeutige Haltung einzunehmen. Stattdessen wird im Verlauf noch eine Schicht draufgesetzt und die Echtheit der hier geschilderten Erinnerungen und Gefühle angezweifelt. Handelt es sich wirklich um eine Art doomed romance, läßt sich am Ende wirklich das simple Fazit rauslesen, das Furcht und Schmerz zum Leben, zur Liebe nun mal dazugehören oder hat die KI Gabrielle und damit die Zuschauer manipuliert?
„The Beast“ ist ambivalent bis rätselhaft, eine mäandernde, symbolbefrachtete Reise durch die Zeit, ein Kaninchenbau, aus dem es kein Entkommen gibt, dem man auch nicht entkommen will. Es ist ein Film voller großer, malerischer, eindringlicher Tableaus, selten schwebten Ertrunkene schöner und stilvoller unter Wasser, selten wirkte die Zukunft so beängstigend einsam und es ist ein Film, der seinen hohen künstlerischen Anspruch selbstbewusst vor sich her trägt, sich aber nicht zu schade ist, Slasher-Terrain zu betreten oder Harmony Korines „Trash Humpers“ (2009) zu zitieren.
Aber vor allem handelt es sich bei „The Beast“ um eine Liebeserklärung, der man sich nur allzu gerne anschließen wird.
„The Beast“ ist leider nur auf äußerst schwach ausgestatter DVD (!) von Grandfilm erhältlich oder auf MUBI abrufbar.
„The Beast“ • La bête • Frankreich/Kanada 2023) • Regie: Betrand Bonello • Darsteller: Léa Seydoux, George MacKay, Guslagie Malanda, Dasha Nekrasova, Martin Scali, Elina Löwensohn
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