26. April 2023 1 Likes

Fantasy Filmfest Nights 2023

Von amoklaufenden Prostituierten, mutierten Kakerlaken und mehr

Lesezeit: 7 min.

Hach, wie schnell die Zeit doch vergeht: Bereits zum 21. Mal wurden die „Fantasy Filmfest Nights“, ein kürzeres „Neben-Festival“ des seit 1987 jährlich stattfindenden „Fantasy Filmfests“, veranstaltet und erneut gab es ein ausgewogenes Programm, bei dem wohl jeder fündig geworden sein dürfte. Schade ist allerdings immer noch, dass Programmplätze für Majorproduktionen wie „Evil Dead Rise“ verschwendet werden, die kurze Zeit später eh regulär in den deutschen Kinos starten. Natürlich, hier laufen sie im Originalton und nicht in der Synchronisation, aber ob das bei einer Metzelorgie wie beim neusten Teufelstanz jetzt einen dermaßen gewichtigen Unterschied macht …?

Für uns interessant:

 


„Skinamarink“ © Capelight Pictures, Plaion Pictures

1. Skinamarink (Kanada 2022)

Worum geht’s? Die Vorschulgeschwister Kaylee und Kevin durchleiden den absoluten Horror: Als sie eines Nachts erwachen, ist der Vater verschwunden – genauso wie sämtliche Fenster und Türen des Hauses. Um sich von der aufsteigenden Panik abzulenken, stürzen sie sich auf ihre Spielsachen und legen alte Trickfilme auf VHS ein. Doch der wahre Schrecken wartet erst auf sie, denn noch jemand (oder etwas?) befindet sich mit den Kindern in den finsteren vier Wänden.

Lohnt sich? Das HD-Zeitalter hat der Phantastik weit mehr geschadet als genutzt. So impliziert der Slogan „Schärfer als die Realität“ doch vor allem eins: Dass die erzeugten Bilder unrealistisch sind. Wie also soll man Unrealistisches realistisch, glaubwürdig, in Bildern darstellen, denen das Unrealistische inhärent ist? Ein wunderbares Anschauungsbeispiel war „Evil Dead Rise“, der nicht nur auf dem Festival lief, sondern dessen Trailer vor jedem (!) Film des Festivals platziert wurde, was im Fall von „Skinamarink“ für einen extrem steilen Kontrast sorgte, denn den scharfen, poliert wirkenden Bildern des fünften Teils der beliebten Franchise, in denen die Überdeutlichkeit dem Authenzititätsanspruch im Weg steht, wurde eine grobkörnige 8-mm(?)-Optik entgegengesetzt, die zudem fehlerbehaftet ist, die Materialität extra betont, aber dadurch eben weit weniger artifiziell, sondern lebendiger, organischer wirkt, mit all ihren Unregelmäßigkeiten und Leerstellen deutlicher näher an der menschlichen Wahrnehmung liegt, eben Realismus suggeriert.

Mit dem „Grindhouse“-Phänomen, diesem meist nur halbherzig ausgeführten Evozieren von Nostalgie und Wehmut mittels „schlechter Bildqualität“, hat das in dem Fall nichts zu tun, sondern mit dem Ziel Unrealistisches, in dem Fall sogar Ungreifbares, realistisch abzubilden oder vielmehr einen Alptraum so nachfühlbar wie nur irgend möglich auf die Leinwand zu bringen. „Skinamarink“ ist dabei so radikal wie kaum ein Horrorfilm zuvor: Selbst die oft getätigten Vergleiche zu „Blair Witch Projekt“ (1999) oder „Paranormal Acitivity“ (2007) laufen ins Leere, denn beide lösen sich trotz ungewöhnlicher Herangehensweise nicht vom Vertrauten, der experimentelle, für gerade mal $15.000 realisierte Trip, der gnadenlos in Urängsten stochert, entzieht jeden Halt. Es existiert kein Plot, sondern es wird der Logik eines Alptraums gefolgt, es gibt keinen Soundtrack, der Gefühle diktiert, mit zunehmender Laufzeit schwindet die Orientierung, denn Raum und Zeit werden immer weiter aufgelöst, die Protagonisten sind, wenn überhaupt, nur von hinten sichtbar, man erfährt von ihnen nichts. Es sind einfach Kinder, die durch ein dunkles Haus irren, sich verlassen, isoliert und ausgeliefert fühlen (klugerweise filmt die Kamera auf der Höhe der kleinen Protagonisten, was das Gefühl der Hilflosigkeit verstärkt) und Angst vor dem haben, was sie in der Dunkelheit sehen – und was sie nicht sehen. Kinder, die wir alle mal waren.

Natürlich, es handelt sich um keine einfach zu konsumierende Kost, das über weite Teile sehr ruhige Debüt von Kyle Edward Ball verlangt ins kalte Wasser zu springen und fordert vor allem zur Konzentration auf. Man darf davon ausgehen, dass es in der Geschichte des Fantasy Filmfests wohl nicht sehr viel Filme gegeben hat, die derart polarisierten (erste vernommene Reaktion bei der Stuttgarter Vorführung: „Der war jetzt aber mal SO RICHTIG scheiße!“) – das Feedback zeigt aber, wie sehr mittlerweile selbst Horrorfilmfans von Hollywood auf Linie gebracht worden sind.

Es wäre übrigens zu hoffen, dass sich Ball der Prosa des legendären Gruselgroßmeisters H.P. Lovecraft annimmt, denn es ist bemerkenswert, wie gut er diese ganze bestimmte Stimmung von Lovecrafts Arbeiten trifft, an der sich seit Jahrzehnten Generationen von Filmemachern verzweifelt abarbeiten. Offenbar braucht es für einen radikalen Schriftsteller einfach einen entsprechend radikalen Regisseur.

 


„Smoking Causes Coughing“, © Gaumont

2. Smoking Causes Coughing (Frankreich 2022)

Worum geht’s? Die „Tobacco Forces“ – eine Art Power Rangers in abgedrehten Retrokostümen, die die Welt von der Tabaksucht befreien wollen – haben bei ihrer letzten Kampfmission gegen eine teuflische Riesenschildkröte geschlampt. Kommandoleiter Didier tobt und verdonnert die Truppe zu einem Teambuilding-Wochenende. Berücksichtigt man, dass Didier eine kleine Stoffratte ist, aus deren Nase unaufhörlich grüner Schleim läuft, ist es doch bemerkenswert, mit welch harter Pfote er die Gruppe zu führen versteht. Fast ohne Murren begeben sich Benzol, Methanol, Nikotin, Quecksilber und Ammoniak zu dem poppig designten Retreat am See. Um sich die Zeit zu vertreiben, werden am Lagerfeuer Geschichten erzählt – eine gruseliger als die andere.

Lohnt sich? Einer von zwei Filmen, die der französische Regie-Weirdo Quentin Dupieaux (der andere war „Incredible But True“) letztes Jahr aufs Publikum losließ. „Smoking Causes Coughing“ wartet mit den Ingredienzien auf, für die man Dupieaux’ Filme lieben gelernt hat: Ultrabizarre Ideen und megaschrulliger Humor. Unter anderem tauchen auf: Ein Power-Rangers-Verschnitt, der mutierte Schildkröten und Kakerlaken mit Tabakrauch bekämpft, – was mir besonders gut gefallen hat – eine Supermarkfiliale in einem Kühlschrank und ein Mann, der immer tiefer in einen Häcksler fällt, sich aber, selbst als nur noch der Mund übrig bleibt, unverändert gut fühlt. Im Gegensatz zu den Vorgängern wirkt „Smoking Causes Coughing“ aber zu keinem Zeitpunkt wie ein kohärenter Film, sondern eher wie eine Ansammlung von liegen gebliebenen Ideen, die völlig entspannt auf die Leinwand geklatscht wurden. Verdammt unterhaltsam und kurzweilig ist das Ganze aber natürlich dennoch oder vielleicht gerade deshalb.

 


„Pearl“, © Universal

3. Pearl (USA 2022)

Worum geht’s? 60 Jahre vor dem entsetzlichen Massaker aus „X“ folgen wir der jungen Pearl zurück ins Jahr 1918. Während ihre streng gläubige Mutter von der Tochter harte Arbeit auf der einsamen Farm fordert, kämpft Pearls Ehemann derzeit noch in Europa an der Front. Aber der Krieg nähert sich dem Ende und auch das durch die Spanische Grippe verursachte Leid scheint allmählich überstanden. Pearls große Leidenschaft in diesen trostlosen Zeiten ist das örtliche Filmtheater. Hier träumt sie von einer Karriere als Tänzerin, angefeuert von ihrem Flirt, dem Filmvorführer, der sie ermutigt, sich bei den Proben für eine Tanztruppe vorzustellen. Doch das geht schief, gewaltig schief …

Lohnt sich? Erstaunlicherweise ja! Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet ein Prequel Ti Wests bis dato bester Film wird? Vermutlich liegt das daran, dass bei dieser Weiterführung von Wests „X“ die wunderbare Mia Goth („Infinity Pool“, „A Cure for Wellness“, „High Life“) nicht nur erneut die Hauptrolle spielt, sondern ebenso ihr Debüt als Drehbuchautorin und Produzentin gab. Jedenfalls ist West überheblich wirkende Vorliebe für referenzgetränkte Metaebenen-Spielereien praktisch verschwunden. „Pearl“ kommt als bizarres Drama in bunten Technicolor-Farben daher, als eine Mischung aus dem Kinderbuch- und Filmklassiker „Der Zauberer von Oz“ (der ja, auch dank diverser Fortsetzungen, zumindest mit einem Bein im Science-Fiction-Bereich steht) und typischen Horrorfilmmotiven wie der dominanten Übermutter, und beschreibt die Vorgeschichte der killenden Oma aus „X“. Das ist nicht sonderlich originell, Pearl will halt mit allen Mitteln aus Verhältnissen ausbrechen, die durch den Umstand, dass der Film zur Zeit der spanischen Grippe spielt und ihre Mutter Virenpanik schiebt, noch enger geworden sind, als sie eh schon sind. Aber: Der Figur wird auf Augenhöhe begegnet, sie wird nicht wie so oft bei West durch die postmoderne, halbironische Linse betrachtet und von der 29-jährigen Darstellerin, auf die das Geschehen komplett zugeschnitten ist, bis zur Haarspitze mit pulsierenden Leben erweckt. Egal ob der Film in komödiantische, dramatische oder Horrorgefilde driftet: Goth demonstriert eine enorme Bandbreite und ebenso großes Können – ein Highlight ist ein minutenlanger, packend, sehr nuanciert vorgetragener Monolog ohne einen Schnitt. Natürlich könnte man einwenden, dass sich die Darstellerin hier ein wenig ein Showreel auf den Leib geschneidert hat, aber es ist einfach großartige Darstellungskunst, die einen eigentlich durchschnittlichen Genrestoff transzendiert. (Ab 01.06. im Kino)

 


„New Religion“ © Reel Suspects

4. New Religion (Japan 2022)

Worum geht’s? Was hat Akami nur dazu getrieben!? Sie war eine unauffällige junge Frau, die als Callgirl arbeitete. Dann plötzlich attackiert sie auf offener Straße wildfremde Menschen mit einem Messer und taucht unter. Ihre Kollegin Miyabi langweilt sich weiterhin jede Nacht in dem schmucklosen Keller mit dem kalten Flackerlicht, bis der Fahrer sie zum nächsten Kunden bringt. In einem der Männer erkennt sie den letzten Freier Akamis. Statt Sex will er Polaroids. „Nur deine Wirbelsäule“, fordert er Miyabi auf. Beim nächsten Mal fotografiert er ihre Füße. Nacht um Nacht folgen weitere Körperteile und auf rätselhafte Weise beginnt Miyabi durch diese Begegnungen in einem nie bewältigten Trauma zu versinken. Und dann geht die Stadt in Flammen auf!

Lohnt sich? Kann ich nicht wirklich was dazu sagen, außer dass der symbollastige, relativ ruhige Film während des Zusammenbruchs der Gesellschaft spielt, in der hier aufgefächerten Welt Vergangenheit und Zukunft parallel zu existieren scheinen, der Amoklauf von Akami sehr brutal in Szene gesetzt wurde und man „New Religion“ nicht unbedingt als vierten Film in einem stickigen Kinosaal gucken sollte. Auf jeden Fall war die audiovisuelle Ebene oft faszinierend.

(Und zu „Monolith“ gab es an an dieser Stelle bereits ein paar Worte)

Große Abb. ganz oben: „Skinamarink“ © Capelight Pictures, Plaion Pictures

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