„Hardcore Never Dies“ - Da ballern nicht nur die Beats
Gaunereien zu dystopischen Klängen
Eine Ausgangssituation, in die sich wohl der ein oder andere wird einfühlen können: Der siebzehnjährige Michael, Sprössling einer klassischen Arbeiterfamilie, träumt von einer Pianistenkarriere, und der Knabe hat tatsächlich Talent, doch für den Papa ist das ein Luftschloss. Michael soll lieber was Gescheites arbeiten, weswegen der Sohnemann seine Tage auf einer Plantage mit dem Pflücken von Tomaten verbringt und den musikalischen Ambitionen im Geheimen nachgeht. Nächstes großes Ziel: Die Aufnahme in ein Konservatorium! Doch als der ältere Bruder Danny wieder auftaucht, der bereits mit 16 zu Hause rausgeschmissen wurde, gerät der ungefestigte junge Mann auf die schiefe Bahn, denn Danny ist Teil der Rotterdamer Gabberszene und bestreitet seinen Lebensunterhalt mit dem Verkauf von Drogen auf Raves. Michael ist schnell fasziniert von den beinharten Beats, dem Gemeinschaftsgefühl und der so ganz anderen Lebensart und realisiert erst spät, dass sein Bruder ein verantwortungsloses Großmaul ist, das sich eines Tages mit den Falschen anlegt …
Die niederländische Produktion „Hardcore Never Dies“ ist der erste Film, der im Gabbermilieu spielt und an dieser Stelle muss ich etwas weiter ausholen um deutlich zu machen, wieso das durchaus was Besonderes ist und der Film dadurch einen Platz in diesem Magazin verdient hat. Ich bin zur Hälfte Niederländer und war dementsprechend schon oft in Holland. Äußerst musikaffin bin ich schon, seit dem ich denken kann, aber Anfang der 1990er-Jahre hatte ich in diesem wunderbaren Land eine ungemein faszinierende akustische Begegnung der dritten Art und das ist selten: Gabber klang wie nichts, was ich zuvor gehört hatte. Aber wie wirklich gar nichts.
Sicher, das war elektronische Musik und ja, die Technowurzeln waren nicht zu überhören, aber trotzdem: Gabber war laut, chaotisch, meist düster und aggressiv, gelegentlich humorvoll, aber selbst dann krass: Die Geschwindigkeit war hoch, die Bassdrum verzerrt und klang lange aus, die Synthesizermelodien – sofern man überhaupt von Melodien sprechen konnte – hörten sich grob und plump an, gewürzt war das Ganze mit Samples aus Horror-, Science-Fiction- und anderen Filmen. Gabber - unterhalb dieser Review finden sich Beispiele – wird nicht ohne Grund in musikwissenschaftlichen Arbeiten als dystopische Musik bezeichnet, die eine apokalyptische Atmosphäre erzeugt, wozu die zur Theatralik neigenden Gabber-Raves wie die in den 1990er-Jahren berühmten Events „Thunderdome“ (natürlich benannt nach „Mad Max – Jenseits der Donnerkuppel, 1985) oder „Hellraiser“ (natürlich benannt nach Clive Barkers gleichnamigen Kultfilm) noch erheblich beitrugen.
Das kam aber nicht von ungefähr: Gabber boomte vor allem in Industriestädten, die Keimzeile liegt in Rotterdam. Gabber war der Sound der Arbeiterkinder, die keine Aussicht auf ein besseres Morgen hatten (was „Hardcore Never Dies“ deutlich macht) und deswegen hier und jetzt die Sau rausließen. Dieser neuartige Stil war zwar „technoid“, hatte aber wesentlich mehr vom Heavy Metal (ähnlich wie beim Metal schoss auch beim Gabber die christliche Gemeinde gegen die Musik, was „Hardcore Never Dies“ am Rande thematisiert) oder vom Oi!, dem Punk-Rock der britischen Arbeiterklasse. Letzteres beeinflusste zudem die Ästhetik der Fans – so trugen „echte Gabbers“ gerne Glatze, Bomberjacken, Jogginganzüge und Schuhe der Marke „Nike Air Max“. Außerdem wurde ein eigener Tanzstil kreiert, der Hakken.
Das Gegenkulturen schnell kommerzialisiert werden, ist normal, aber beim Gabber wundert es im Rückblick (mir zumindest ist das erst später so richtig bewusst geworden) dann doch ein wenig: Diese wahnsinnig heftige, zum Teil wirklich irre Musik wurde tatsächlich schnell mit extrem knalligen Werbespots (Beispiele finden sich unterhalb dieser Review) im Musikfernsehen gepushter Mainstream. Allerdings fanden eher Musikcompilationen, die zu den Raves herausgegeben wurden, reisenden Absatz (ganz vorne: die „Thunderdome“-Reihe verkaufte sich millionenfach), nicht so sehr die Veröffentlichungen der einzelnen Künstler. Doch so schnell Gabber zum Mainstream-Phänomen wurde, so schnell war damit auch wieder Schluss. Bereits ab ungefähr Mitte der 1990er verschwand der Brachialsound allmählich wieder in die Nische, aus der er einst kam, wird dort aber mit Liebe gepflegt: Zum Beispiel versuchten 2019 Fans eine animierte Gabber-Sci-Fi-Serie namens „Culturesport: Rotterdam 1995“ auf den Weg zu bringen.
„Hardcore Never Dies“ ist nun nicht der Spielfilm, den sich so manch einer erhofft hatte. Die Gabber-Szene wird tatsächlich nur als Setting für eine typische, aber unterhaltsame und gut gespielte Rise-and-Fall-Gaunergeschichte genutzt, die bedauerlicherweise mit einem etwas muffigen Unterton daherkommt, denn es ist natürlich der Gabber-Fan, der nichts auf die Reihe kriegt, immer tiefer und tiefer fällt und andere mit sich zieht. Dafür gibt’s hier Musik zu hören, die bis dato im Kino noch nie zu hören war und für die meisten wohl klingen wird, wie von einem anderen Planeten.
„Hardcore Never Dies“ läuft seit dem 20.06. hoffentlich ausschließlich in Kinos mit sehr gutem Sound.
Hardcore Never Dies • Niederlande 2023 • Regie: Jim Taihuttu • Darsteller: Joes Brauers, Jim Deddes, Jordy Dijkshoorn, Huub Smit, Rosa Stil, Bob Schwarze
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