14. Juni 2022 1 Likes

Nippon Connection – 22. Japanisches Filmfestival Frankfurt am Main

Wieder toll und dieses Mal sogar mit einem fliegenden Penis

Lesezeit: 6 min.

Es sind nicht viele Worte als Einstieg nötig: Auch wenn ich leider nicht vor Ort, sondern nur online dabei sein konnte: Für Filmfans, die auf der Suche nach ganz besonderen Erlebnissen sind, bleibt die Nippon Connection die Anlaufstelle schlechthin. Das Programm war erneut ein einziges Füllhorn, aus dem die wunderbarsten Seh-Erlebnisse nur so rauspurzelten. Eigentlich sollte die Nippon Connection mittlerweile unter das BtM-Gesetz fallen, denn wer einmal in dieses wunderbare Festival abtaucht, kommt nur unter extremen körperlichen Schmerzen davon los!

Für uns relevant:

 


„Popran“

Popran (Japan 2022)

Worum geht’s? Tagami ist Chef eines erfolgreichen Manga-Vertriebs und stellt eines Morgens schmerzlich fest, dass sein Penis verschwunden ist. Als wäre das nicht schlimm genug, düst sein bestes Stück auch noch mit rasender Geschwindigkeit durch die Lüfte Tokios! Wenn er seinen „Popran” nicht in sechs Tagen fängt, droht er zu verschwinden.

Lohnt sich? Der neue Film von Shinichiro Ueda, der mit 2017 mit „One Cut Of The Dead“ einen künstlerischen wie kommerziellen Sensationserfolg landen, aber bereits 2019 mit „Special Actors“ in beiderlei Hinsicht nicht mehr anknüpfen konnte, sich jetzt aber mit „Popran“ wieder ein Stück nach vorne bewegt, was vor allem daran liegt, dass die bizarre Mischung aus trockener Komödie und – jawohl! – Vergangenheitsbewältigung wieder deutlich fokussierter daherkommt. Grundsätzlich ist das natürlich balla-balla, aber hier kommt einmal mehr die besonders bei den Japanern anzutreffende Fähigkeit zur Geltung auch die bekloppteste Idee völlig straight durchzuziehen oder anders formuliert: In Amerika wäre daraus eine grell-überdrehte Bad-Taste-Comedy geworden, hier gerät der Protagonist zum Beispiel in einer herrlichen Szene in ein Geheimtreffen Penisbefreiter (inkl. Eingangskontrolle) und erfährt mittels Pseudo-Science was zu tun ist, um diesen Zustand wieder zu beheben. Inszeniert ist das mit größtmöglicher Beiläufigkeit, es könnte sich auch um ein Treffen der anonymen Alkoholiker oder sonst was handeln. Es ist aber natürlich gerade die Aufrichtigkeit mit der der Film seinem völlig absurden Thema begegnet, die das Geschehen umso lustiger macht. Etwas straffen hätten man wegen mir können, etwas zerdehnt wird die Ausgangsidee schon, aber trotzdem: Geht ziemlich in Ordnung.

 


„My Brother, The Android And Me“

My Brother, The Android And Me (Japan 2022)

Worum geht’s? Ingenieur Kaoru kommt nicht mit seiner Umwelt zurecht und richtet sich als Zufluchtsort ein privates Labor in einem verlassenen Krankenhaus ein. Sein Ziel: Einen Androiden zu erschaffen, der als sein zweites Ich den Alltag besser meistern kann als er. Doch das Experiment nimmt eine unerwartete Wendung.

Lohnt sich? Sehr ruhige, langsame und teilweise auch kryptische Neuinterpretation des Frankenstein-Mythos, die sich ausgiebig bei den Motiven der Gothic Fiction bedient: Doppelgängermotiv, finsteres Gruselhaus, Labor, verrückter Wissenschaftler, Regen, Nacht – ich muss zugeben, so ganz bin ich nicht rein gekommen und deswegen enthalte ich mich mal einem Urteil. Eine zweite Chance würde ich „My Brother, The Android And Me“ aber allein schon wegen der exzellent Gestaltung geben – ich wüsste keinen zweiten Film, in dem selbst schlichtes Fahrradfahren gruselig wirkt.

 


„Double Layered Town/Making A Song To Replace Our Positions“

Double Layered Town/Making A Song To Replace Our Positions (Japan 2019)

Worum geht’s? Wie werden sich die Menschen im Jahr 2031 an die furchtbaren Ereignisse der Dreifachkatastrophe des 11. März 2011 und die Folgen erinnern? Welche Geschichten werden sie sich erzählen? Vier junge Teilnehmer eines Workshops besuchen 2018 die Stadt Rikuzentakata, die nach der Überflutung durch den Tsunami neu aufgebaut werden musste. Sie treffen Zeitzeugen und verflechten deren Berichte mit einem fiktiven Zukunftsszenario.

Lohnt sich? Ungewöhnlicher Experimentalfilm, der Interviews mit Stadtbewohnern mit einer Mischung aus Rezitationen der Gespräche und einer Geschichte der Co-Regisseurin verknüpft, was unter anderem mit großartigen Panorama-Aufnahmen vom Wiederaufbau der Stadt bebildert wird. Das ergibt eine ineinander verschlungene Mischung aus Dokumentarfilm, Spielfilm und Bühnenstück. Das hört sich jetzt sicherlich schraubig an und ist gelegentlich auch schraubig, aber vermittelt einen tiefgehenden Eindruck der menschlichen Dimension der Katastrophe. Trotz stellenweise sehr reduzierter Herangehensweise – phasenweise gibt es nur sprechende Köpfe auf schwarzem Hintergrund zu sehen – jederzeit fesselnd.

 

Satoshi Kon, the Illusionist (Frankreich, Japan 2021)

Worum geht’s? Nach seinem frühen Tod im Jahr 2010 hinterließ der Anime-Regisseur Satoshi Kon nur vier Langfilme: „Perfect Blue“, „Millennium Actress“, „Tokyo Godfathers“ und „Paprika“. Diese zählen jedoch bis heute zu den wichtigsten Werken des japanischen Animationsfilms. Der Filmemacher Pascal-Alex Vincent hat Satoshi Kon ein umfassendes Porträt gewidmet, in dem nicht nur sämtliche seiner Arbeiten reflektiert werden, sondern auch zahlreiche Weggefährten zu Wort kommen und einen tiefen Einblick in die Denkweise des Ausnahmekünstlers geben.

Lohnt sich? Definitiv. Der mit gerade mal 46 Jahren verstorbene Regisseur, Animator, Drehbuchautor und Manga-Künstler Satoshi Kon gehört trotz einem eher schmalen Œuvre zu einem der ganz großen Regisseure des japanischen Zeichentrickfilms, dessen Einfluss weit über das Heimatland hinausreicht, was in dieser übrigens exzellent gedrehten Doku von Regie-Star Darren Aronofsky persönlich bezeugt wird. Die Doku geht ganz klassisch in chronologischer Reihenfolge durch sein Werk (darunter Science-Fiction-Titel wie „Paprika“ oder „Paranoia Agent“), erläutert Hintergründe und stellt Zusammenhänge her. Sehr schön: Es gibt nur eine begrenzte Anzahl von Interviewpartnern zu sehen, die wurden dafür aber gut ausgewählt und bekommen genug Zeit sich relativ ausführlich zu äußern – was enorm zur Verdichtung beiträgt. Eine äußerst gelungene Huldigung an ein Ausnahmetalent.

 


„Parasite in Love“

Parasite in Love (Japan 2021)

Worum geht’s? Kengo leidet unter Mysophobie – der Angst vor Schmutz, Viren und Bakterien. Er lernt Hijiri kennen, die sich aufgrund einer Scopophobie – der Angst, gesehen zu werden – ebenfalls komplett von der Umwelt abschottet. Zwischen beiden bahnt sich eine unwahrscheinliche Liebesgeschichte an. Doch bald sind sie sich nicht mehr sicher: Verlieben sie sich wirklich oder manipuliert ein mysteriöser Parasit ihre Gefühle und ihr Verhalten?

Lohnt sich? Auch wieder so eine Nummer, die so wohl nur vor allem Japaner hinkriegen. Zartes Liebesdrama zwischen zwei Außenseitern, vermischt mit (allerdings eher sanften) Parasiten-Horror à la Cronenberg und stimmungsvollen Weltuntergangsvisionen. Natürlich sind die Genre-Elemente hier auch als Metaphern für das Aufwachsen in einer auf Konformität geeichten Gesellschaft und auf das schöne, aber immer auch ein bisschen unheimliche, weil machtlos machende Gefühl der Liebe zu verstehen, aber die toll bebilderte Romanverfilmung wird mit seiner Symbolsprache nie aufdringlich, nimmt die Welt seiner beiden, kongenial gespielten, Protagonisten ernst und findet eine die meiste Zeit fein austarierte Balance zwischen dramatischen und leichten Elementen. Top!

 


„Mr. Suzuki – A Man In God’s Country“

Mr. Suzuki – A Man In God’s Country (Japan 2020)

Worum geht’s? Eine japanische Stadt in der Zukunft: Aufgrund der sinkenden Geburtenrate werden alle Unverheirateten ab dem Alter von 45 Jahren in die Armee eingezogen oder vertrieben. Um diesem Schicksal zu entgehen, sucht die 44-jährige Yoshiko daher dringend einen Partner. Als sie dem mysteriösen Suzuki begegnet, scheinen ihre Probleme gelöst. Doch nicht alles ist wie es scheint.

Lohnt sich? An George Orwell und Aldous Huxley angelehnte Dystopie, die nach einem eher leichten, trocken-humorigen Anfang in etwas ernstere Gefilde rutscht und in eine proto-faschistische Welt entführt, in der unter anderem mittelgescheitelte Klone des obersten Anführers auf Obdachlose losgehen und ihre Schandtaten im Netz livestreamen. Der Film kritisiert in erster Linie harsch die japanische Gesellschaft mit ihrem Konformitätszwang und ihrem Gottkaiserglauben, aber natürlich findet sich die hier gezeigten Strukturen auch in anderen Ländern, was den gut gespielten und gefilmten Low-Budget-Film, der mit wenig Mitteln eine kaum erstrebenswerte Zukunft pinselt, außerhalb des Heimatlandes anschlussfähig macht. Etwas mehr Tempo und vielleicht gelegentlich Filmmusik hätte es aber gerne sein dürfen – selbst für japanische Verhältnisse geht’s hier unterm Strich arg spröde zu.

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