5. Juli 2022 1 Likes

Musik für die Postapokalypse

Cuir: Schweißtreibende Begegnung der dritten Art

Lesezeit: 3 min.

Um erstmal potentielle Fragezeichnen in den Köpfen der Leserschaft auszuradieren: Wer sich wundert, dass es hier plötzlich um Punkmusik geht: So abwegig ist das gar nicht, denn Science-Fiction und Punk waren schon immer extrem eng verbunden: Nicht nur, dass sich in der Musik von Bands wie X-Ray Spex, The Rezillos, The Clash, The Adicts oder The Misfits zahlreiche Sci-Fi-Referenzen finden, Stanley Kubricks Dystopie „Clockwork Orange“ übte einen dermaßen großen Einfluss auf Punk aus, dass man durchaus behaupten kann, dass Punk ohne Science-Fiction vielleicht nie oder zumindest nicht in dieser Form existiert hätte. Doch der Einfluss war auch wechselseitig, so beeinflusste Punk nicht nur aber häufig in visueller Hinsicht den Science-Fiction-Film – schöne Beispiele für Punk-Ästhetik finden sich in der legendären „Mad Max“-Reihe (1979 - 2015) von George Miller.

Die Verbindung zur Science-Fiction ist bei der 2019 gestarteten französischen Ein-Mann-Band Cuir ist nicht schwer auszumachen: Im Video zu „Dégâts“ ist Sänger, Instrumentalist und Komponist Doug (über dessen Hintergrund außer seiner Tätigkeit als Sänger der Bands Sordid Ship und Coupe Gorge nichts bekannt ist) vor typischen Spätachtziger-/Frühneunziger-Virtual-Reality-Animationen zu sehen. Auffallend ist dabei aber natürlich sein Outfit, denn der Mann trägt eine rosa (!) S/M-Gesichtsmaske und ebenso rosafarbene, fingerlose Handschuhe – selbst für den farbenfrohe Punk ein relativ ungewöhnlicher Look. Wobei Punk nicht so ganz hundertprozentig zutrifft, Doug macht Synth-Punk, das heißt, in seinem Instrumentarium nimmt ein Synthesizer einen prominenten Platz ein. Das ist keine neue Idee, fügt sich aber nicht allzu oft so gut ein, wie in diesem Fall. Interessanterweise scheint auch das natürlich klingende Schlagzeug elektronisch erzeugt zu sein. Beim Liveauftritt am ersten Juli in der Gaststätte Zille im beschaulichen Göppingen brachte Doug jedenfalls zwei Männer in schwarzen Sturmhauben zur Unterstützung mit, während der Gitarrist aber ordnungsgemäß Gitarre spielte, kümmerte sich der „Schlagzeuger“ um einen kleinen Drumcomputer, leistete aber die meiste Zeit dem Frontmann gesangliche Unterstützung.

Bei der Zille handelt es sich um eine Gaststätte, wie es sie in Deutschland vermutlich nur noch ganz wenige gibt. Die kleine, total urige, gemütliche, überaus empfehlenswerte Kneipe existiert seit 1981 und seitdem wurde ganz offensichtlich nicht mehr allzu viel geändert – man fühlt sich beim Eintreten als ob man ein Zeitportal durchschritten hat. Die Konzerte finden regelmäßig in einem kleinen Hinterzimmer, ironisch „großer Ballsaal“ genannt, statt, das ansonsten zum Rauchen und Billardspielen genutzt wird und an dessen Decke eine Discokugel hängt, was dem mittels Poster schwer auf Heavy-Metal- und Rock getrimmten Ambiente einen leicht irrealen Touch gibt. Für Menschen mit Platzangst ist das natürlich absolut nichts, aber es hat natürlich den absoluten Vorteil, dass man sehr, sehr nahe an den Musikern dran ist, und wenn dann noch eine Truppe wie Cuir mit schnellen Beats, ungeheuer treibenden Gitarrenriffs, eingängigen Synthi-Melodien und einem wilden Frontmann, der sich durchaus mal mitten in die Meute begibt, anrückt, entfaltet sich schnell eine ungeheuer energiegeladene Atmosphäre, der sich wohl nicht mal Tote entziehen könnten. Sehr schön in dem Zusammenhang natürlich: Nicht nur das rustikale Interieur der Gaststätte ist aus der Zeit gefallen, sondern auch die Getränkepreise (der Slogan lautet „Die billigste Tankstelle in Göppingen und Umgebung.“), sprich: Dem totalen Abflug stand absolut nichts im Weg!

Der Auftritt von Cuir (zuvor spielte der Stuttgarter Act The Shitworker) war musikalisch wie optisch – nicht zu vergessen: ein Mädchen mit Kapuze und darüber gezogenen rosa Ohrschützern ballerte von Zeit zu Zeit mit Luftschlangen in den Raum – jedenfalls eine absolut perfekte Kombination und eine enorm schweißtreibende Begegnung der dritten Art, die prima in den nächsten Endzeit-Streifen gepasst hätte. Es war wenig verwunderlich, dass nach dem Ende der Show der Merchandising-Stand leergeplündert wurde, bedauerlicherweise ist aber auch auf der Bandcamp-Seite absolut alles ausverkauft. Immerhin gibt’s die Musik in digitaler Form, den Kaufpreis kann man selbst bestimmen.

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