Im Gespräch mit Nikki Erlick („Die Vorhersage“)
Die US-Bestsellerautorin über Schicksalsgöttinnen, Lebensfäden, Corona und Hoffnung
Nikki Erlick (im Shop) studierte an der Harvard University und der Columbia University. Als Reiseschriftstellerin besuchte die Amerikanerin später ein Dutzend Länder zwischen Frankreich und Norwegen, und ihre Texte erschienen im „New York“-Magazin, „Newsweek“, „Cosmopolitan“ und der „Huffington Post“. Außerdem war Erlick schriftstellerisch schon als Ghostwriterin tätig. Schließlich veröffentlichte sie ihr Romandebüt „The Measure“ alias „Die Vorhersage“ (im Shop), das es auf die New-York-Times-Bestsellerliste schaffte und ein Buchclub-Liebling wurde. In Erlicks dystopischen Roman wird die Welt dadurch auf den Kopf gestellt, dass eines Morgens jeder erwachsene Mensch wie aus heiterem Himmel eine mysteriöse Schachtel erhält, in der sich ein Faden befindet, anhand dessen man die Länge des eigenen Lebens abmessen kann. Das hat natürlich nicht nur Folgen für jeden Einzelnen und für alle möglichen zwischenmenschlichen Beziehungen, sondern auch für die gesamte Gesellschaft (hier geht’s zu einer Rezension des Romans). Im Interview spricht Nikki Erlick über ihre mythologischen Inspirationen für „Die Vorhersage“, die wechselhafte Beziehung ihres Romans zur Corona-Pandemie und ihre Hoffnungen für die Zukunft.
Hallo Frau Erlick. Was lehrten Ihre Erfahrungen als Reiseschriftstellerin und Ghostwriterin Sie für das Leben und für Ihre Arbeit als Romanautorin?
Alle meine Erfahrungen – angefangen bei meiner Zeit bei Universitätszeitung bis hin zu meinen Jahren als Reiseschriftstellerin und Ghostwriterin – haben dazu beigetragen, meine Stimme zu formen, und sie haben mich definitiv eine Menge über die Bedeutung guten Überarbeitens und Lektorierens gelehrt! Und sie haben mich auch gelehrt, Fragen zu stellen. Ob als Journalistin, als Interviewerin oder als Entdeckerin in einem neuen Land, es ist so wichtig, neugierig zu sein und so viele Fragen wie möglich über die Welt um einen herum zu stellen. Mein Roman wurde aus einer ganz bestimmten Frage heraus geboren: Was wäre, wenn wir alle erfahren könnten, wie lange wir zu leben haben? Und dann entwickelte sich die Geschichte weiter, als ich immer mehr Fragen stellte: Wie würde sich das auf eine Beziehung auswirken? Eine Freundschaft? Auf das Gesundheitswesen? Auf die Politik? Klassenzimmer? Krieg? Die Reihe an Fragen schien endlos, und das machte die Erfahrung des Schreibens zu gleichen Teilen herausfordernd und sehr inspirierend.
Und wie genau sind Sie von dieser Idee und diesen Fragen zu den Kisten mit den Fäden gekommen, die im Roman die Lebensdauer eines jeden Menschen anzeigen?
Ich habe mich schon immer zu großen Fragen hingezogen gefühlt: Wie viel Kontrolle haben wir über unser Leben? Wie viel Macht haben wir über unser Schicksal? In unseren glücklichsten Momenten und in unseren schwierigsten Zeiten ist es leicht, sich zu fragen: War es das Schicksal, das mich hierher geführt hat? Ich wollte herausfinden, ob ich diese großen Fragen in Form einer Geschichte angehen könnte, denn ich bin eine Person, die sich schon immer Geschichten zugewandt hat, um der Welt einen Sinn zu geben und um mich in ihren vielen Zusammenhängen und ihrer Komplexität zurechtzufinden.
Als ich überlegte, wie ich eine Geschichte über ein so komplexes Thema wie das Schicksal schreiben könnte, erinnerte ich mich an die antike griechische Vorstellung davon. Ich war fasziniert von den drei Schicksalsgöttinnen, welche die unermessliche Macht hatten, die Fäden des Lebens auf ihrer Spindel zu spinnen und die Zeit abzumessen, die jede und jeder von uns erhalten würde. Ich kam nicht umhin, mich zu fragen: Was wäre, wenn? Was wäre, wenn wir unsere Fäden sehen könnten? Wie würde sich das auf unsere Welt auswirken? Was würden wir mit diesem Wissen tun?
Die Entscheidung, die Fäden in einer Schachtel für jede Person auszuliefern, fiel etwas später, als mir klar wurde, dass ich alle Menschen entscheiden lassen wollte, ob sie ihren Faden sehen mögen oder nicht. Auch wenn das Schicksal der Figuren in gewisser Weise vorherbestimmt ist, haben sie immer noch die Macht und die Möglichkeit zu entscheiden, ob sie es wissen wollen, und dann natürlich auch, wie sie dieses Wissen nutzen. Die Schachtel selbst wurde von einem anderen berühmten griechischen Mythos inspiriert, der Büchse der Pandora, die den ultimativen Test der Willenskraft verkörpert: Kann man der Versuchung widerstehen, nachzusehen?
„Die Vorhersage“ ist auch ein Buch über klassische Themen zwischen Leben und Tod. Aber es geht ebenso um einen Einschnitt in die moderne Weltordnung. Ein Leben vor, und ein Leben nach einem bestimmten Ereignis. Wie viel von Ihren Erfahrungen mit Corona ist in den Roman eingeflossen?
Ich denke, was diese Erfahrungen so überraschend und intensiv gemacht hat, war der Umstand, dass ich bereits 2018 und 2019 mit dem Schreiben begonnen habe, vor der Pandemie und ohne den geringsten Schimmer, was passieren sollte. Von Anfang an hatte ich geschrieben, dass die Fäden im März auftauchen würden, weil der März für mich der unberechenbarste aller Monate ist, aber dann wurde der März 2020 natürlich der Monat, den viele Menschen mit dem weltweiten Ausbruch der Pandemie in Verbindung bringen, und der Monat, in dem zahlreiche internationale Grenzen geschlossen wurden.
Es war auch der Monat, in dem ich meinen Job als Reiseschriftstellerin verlor, zusammen mit vielen anderen Menschen in einer ähnlichen Situation, und mein eigenes Leben wirklich neu bewerten musste. Natürlich entging mir nicht, dass ich mit dem Schreiben eines Romans über eine unerwartete globale Krise angefangen hatte und dann selbst eine unerwartete globale Krise erlebte. Auch wenn die Pandemie nicht das Konzept des Buches inspiriert hat, glaube ich, dass sie den weiteren Verlauf der Geschichte vor allem dadurch beeinflusste, dass die Pandemie sowohl das Schlimmste als auch das Beste in der Menschheit zum Vorschein brachte.
Es war eine Zeit, in der wir sahen, wie Menschen egoistischen Impulsen nachgaben und ihren eigenen Komfort und ihre eigene Bequemlichkeit über die Gesundheit und Sicherheit ihrer gefährdeten Nachbarn stellten, wir aber auch sahen, wie Mitarbeiter des Gesundheitswesens, Lehrer, Arbeitnehmende an der Front und viele weitere Menschen ihr eigenes Leben aufs Spiel setzten, um anderen zu helfen. Wir haben gesehen, wie Menschen durch Spaltung und Angst auseinandergerissen wurden, und wir haben gesehen, wie Gemeinschaften zusammenrückten, um sich gegenseitig durch unvorstellbare Prüfungen zu helfen.
Was die Handlung des Romans anbelangt, so inspirierte mich alles, wovon ich Augenzeugin wurde, zur literarischen Erkundung dessen, wie die Ankunft der Fäden in meinem Buch eine ähnliche Reaktion hervorrufen könnte: das Schlimmste und das Beste in den Menschen zum Vorschein bringen, Gesellschaften spalten und neue Verbindungen schaffen. Auf einer eher emotionalen Ebene denke ich, dass es in diesem Roman immer darum hat gehen sollen, wie wir unser eigenes Leben und das Leben anderer bewerten, wie wir unsere Zeit verbringen wollen und welche Prioritäten wir im Leben setzen. Diese Fragen sind angesichts all der Herausforderungen der letzten Jahre einfach immer relevanter und dringlicher geworden, und das hat es der Geschichte meines Erachtens ermöglicht, auf noch nachdrücklichere Weise in den Menschen widerzuhallen.
Pandemie, Klimakrise, Politik, soziale Ungerechtigkeit – hätten Sie erwartet, dass die Welt an diesen elementaren Themen so zerbrechen würde?
Unglücklicherweise haben wir Menschen schon immer Wege gefunden, uns voneinander abzuspalten – diejenigen, die nicht so sind wie wir, als „die Anderen“ abzutrennen, und so gut wie jedes gesellschaftliche Thema als eine Art „Wir gegen die“-Konflikt zu betrachten. Ich hoffe, dass dieser Roman als eine breitere Kritik an unserem Hang zum Tribalismus und zur Gleichgültigkeit, Angst oder sogar Feindseligkeit gegenüber unseren Mitmenschen dient. Das ist etwas, das wir im Lauf der Geschichte immer wieder getan haben und das auch heute noch auf traurige Weise akut ist, da wir eine Zunahme von Hassverbrechen und gewalttätiger Polarisierung erleben. Aber ich hege die Hoffnung, dass die Geschichte letztlich daran erinnert, dass Liebe über Hass triumphieren kann, Empathie über Furcht und Spaltung. Ich glaube an die Hoffnung, dass die nächste Generation diese Muster durchbrechen und stattdessen mit Mitgefühl vorangehen kann.
Ich habe Ihren Roman auch als eine Metapher für das Leben mit tödlichen Krankheiten und lebensverändernden Diagnosen gesehen …
Genauso wie die Ankunft der Fäden bei jeder Figur unterschiedliche Reaktionen hervorruft, stelle ich mir vor, dass die Themen, Metaphern und Erkenntnisse aus dieser Story für alle Lesenden unterschiedlich ausfallen werden, je nachdem, mit welchen Aspekten der Geschichte man sich am stärksten verbunden fühlt. Die Themen, die mich persönlich am meisten interessierten, sind die verschiedenen Möglichkeiten, wie wir alle unser Leben „messen“ können, um Erfüllung, Sinn und Glück auf eine Weise zu finden, die sich für uns richtig anfühlt. Das Leben in vollen Zügen zu genießen bedeutet für jede Figur in diesem Roman etwas anderes, so, wie das auch für jeden von uns gilt.
Diese Geschichte soll ein Zeugnis dafür sein, dass das Leben eines jeden Menschen die gleiche Bedeutung, den gleichen Wert und den gleichen Zweck hat – unabhängig von der Zeit, die uns gegeben ist. Tatsächlich sind es in diesem Roman oft die Figuren mit den kürzesten Fäden und Leben, die die weitreichendsten Auswirkungen auf die Welt um sie herum haben. Für mich persönlich ist Lesen schon immer ein Abenteuer in Sachen Empathie gewesen, und wenn mein Roman auch nur einen kleinen Beitrag dazu leisten kann, unserer Welt ein wenig mehr Empathie zu verleihen, indem er die Menschen dazu anregt, andere und sich selbst mit mehr Mitgefühl zu betrachten, dann wäre das für mich schon genug.
Korrupte Politiker ohne Skrupel, tapfere Soldaten – wie wichtig sind Stereotypen für eine erfolgreiche Geschichte, und was ist der Schlüssel, um sie nicht zu Klischees werden zu lassen, sondern zu funktionierenden Figuren in der Fiktion?
Ich hoffe, Charaktere zu schaffen, die sich einzigartig anfühlen, aber dennoch zugänglich und nachvollziehbar sind. Bei diesem Roman sind viele der Figuren meiner Fantasie entsprungen, als ich immer mehr Zeit damit verbracht habe, in dieser neuen Welt der kurzen und langen Fäden zu leben. Das Buch hat letztlich ein recht großes Ensemble bekommen, anfangs war die Geschichte mit weniger Figuren konzipiert, und ich stellte sie mir hauptsächlich als Liebesgeschichte zwischen jemandem mit einen langen Faden und jemandem mit einen kurzen Faden vor – und über die Herausforderungen, die ihre Beziehung zu bewältigen haben würde.
Doch je mehr Zeit ich in dieser Welt verbrachte und über die Fragen nachdachte, die sie aufwarf, desto mehr dachte ich über verschiedene Typen von Menschen nach und fragte mich zum Beispiel, wie ein Arzt auf diese Situation reagieren würde, dessen Job es ist, Leben zu retten? Und wie könnte ein Soldat darauf reagieren, der wissentlich einen gefährlichen Beruf wählt? Und wie könnte ein Politiker diesen lebensverändernden Moment nutzen, um die veränderte gesellschaftspolitische Landschaft zu beeinflussen? Aus all diesen Fragen, die ich nicht abschütteln könnte, entwickelte sich eine ganze Reihe von Figuren, und ich fühlte mich veranlasst, jede von ihnen mittels ihrer eigenen Geschichte zu erkunden. Und ich hätte ehrlich gesagt noch weitermachen und mehr Figuren hinzufügen können, denn das Schöne an dieser Welt ist, dass es so viele mögliche Reaktionen auf die Fäden gibt, wie Menschen auf der Erde. Aber ich musste mir selbst und sicherlich auch dem Lektorat zuliebe irgendwo einen Schnitt machen!
Am Anfang des Romans werfen einige Leute ihre Schachteln weg, verstauen sie unterm Bett, ignorieren sie. Was würden Sie tun? Würden Sie Ihres Schachtel öffnen, um die Länge Ihres Fadens zu erfahren – und würde das Ihr Leben verändern?
Ich muss zugeben, dass sich meine Antwort auf diese Frage während des Schreibens am Roman täglich geändert hat, da ich den Wert beider Entscheidungen erkannt habe. Doch ich denke, ich habe mich darauf festgelegt, meine Schachtel nicht zu öffnen, zumindest für den Moment. Ich würde sie wahrscheinlich irgendwo verstecken, aber ich wäre nicht in der Lage, sie ganz loszuwerden, denn ich bin offen für die Möglichkeit, dass sich meine Meinung ändern könnte!
Unabhängig von der Länge des Fadens in meiner Schachtel, habe ich das äußerst große Glück, aktuell bereits meinen Traum als Schriftstellerin zu leben, deshalb glaube ich nicht, dass ich viel an meinem Leben ändern würde. Doch ich würde wahrscheinlich in ein paar mehr Länder auf meiner Löffelliste reisen, einschließlich Deutschland!
Können Sie uns schon verraten, worum es in Ihrem nächsten Roman gehen wird?
Mein nächster Roman befindet sich noch in einem sehr frühen Stadium, weshalb ich davon ausgehe, dass sich die Geschichte im Verlauf des Schreibprozesses noch ändern wird, aber ich hoffe, dass er zu ähnlich gehalt- und gedankenvollen Diskussionen anregen wird.
Gibt es noch etwas, das Sie Ihren deutschsprachigen Fans mitteilen möchten?
Vielen Dank, dass ihr diesen Roman lest und so viele eurer Fotos und Gedanken auf Instagram mit mir geteilt habt! Ich bin so dankbar für alle, die durch Weitersagen bei der Verbreitung des Buches geholfen haben!
Nikki Erlick: Die Vorhersage • Roman • Aus dem Amerikanischen von Sabine Thiele • Wilhelm Heyne Verlag, München 2022 • 480 Seiten • Erhältlich als Hardcover, eBook und Hörbuch Download • Preis des Hardcovers: € 22,00 • im Shop
Autorenfoto © privat
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