16. August 2022 2 Likes

„Der Schlächter der Anderson-Station“ – Eine The-Expanse-Story

Eine exklusive Story aus „Das Protomolekül“, dem Sammelband mit allen The-Expanse-Erzählungen

Lesezeit: 38 min.

Mit THE EXPANSE haben Daniel Abraham und Ty Franck alias James Corey eine große Science-Fiction-Serie entwickelt. Nachdem nun alle neun THE EXPANSE-Romane (im Shop) erschienen sind, haben die beiden Autoren auch alle ihre Storys, die im Universum der Serie spielen, in „Das Protomolekül“ (im Shop) veröffentlicht. Neben „Der Antrieb“ ist „Der Schlächter der Anderson-Station“ die zweite Story daraus, die wir hier exklusiv posten – inklusive des Autorenkommentars am Schluss.

 

DER SCHLÄCHTER DER ANDERSON-STATION

Aus dem Amerikanischen von Marcel Häußler
 

James Corey: Das ProtomolekülDamals auf der Erde, mit fünf oder sechs Jahren, hatte Fred in dem dunklen Keller seines Onkels eine Pflanze wachsen sehen. Sie war bleich und dünn gewesen, aber doppelt so hoch wie ihre Artverwandten draußen im Garten. Das ständige Strecken nach dem Sonnenlicht hatte sie deformiert. Genau so sah der Mann hinter der Theke aus: zu groß, zu blass, zu versessen auf etwas, das er nie gehabt hatte und nie bekommen würde. Die Gürtler waren alle so.

In der Bar mischten sich Punjabi-Rhythmen mit einer hohen Frauenstimme, die in dem Sprachgewirr des Gürtel-Kreol rappte. Im Hinterzimmer klapperte ein verbeulter Pachinko-Automat. Haschischrauch versüßte die Luft. Fred lehnte sich auf dem Barhocker zurück, der für zehn Zentimeter größere Gäste gemacht war, und lächelte freundlich.

»Gibt es ein beschissenes Problem?«, fragte er.

Der Barkeeper hätte Chinese oder Koreaner sein können oder eine Mischung aus beidem. Wahrscheinlich war seine Familie mit einer der ersten Wellen raufgekommen. Fünf Generationen, in denen jeder Atemzug mühsam war und Großfamilien in Erkundungsschiffen mit sieben Kojen eingezwängt waren und auf eine Sonne zurückblickten, die kaum mehr war als der hellste Stern. Es war schwer, noch etwas Menschliches in ihnen zu sehen.

»Kein Problem, jefe«, sagte der Barkeeper, ohne sich zu rühren. Im Spiegel hinter der Bar sah Fred, wie die Tür aufglitt. Vier Gürtler kamen hereingeschlurft. Einer trug ein Armband mit dem geteilten Kreis der Allianz der Äußeren Planeten. Fred sah, dass sie ihn sahen. Und er sah, dass ihn einer von ihnen erkannte. Sofort spürte er einen angenehmen kleinen Schuss Adrenalin im Blut.

»Wie wär’s dann, wenn du mir was zu trinken gibst?«

Der Barkeeper hielt noch einen Augenblick inne, dann bewegte er sich doch. Whiskey floss unter künstlicher Schwerkraft durch Rotation anders aus der Flasche, aber nicht so sehr, dass Fred hätte sagen können, was damit nicht stimmte. Die Corioliskraft der Ceres-Station war nicht stark genug, um den Winkel zu beeinflussen, nicht so nah an der Asteroidenoberfläche. Vielleicht lag es nur daran, dass die Flüssigkeit so langsam herabfiel. Der Barkeeper schob ihm das Glas zu.

»Aufs Haus.« Er schwieg einen Herzschlag lang. »Colonel.«

Fred sah ihm in die Augen. Keiner der beiden sagte etwas. Fred trank den Schnaps pur. Er brannte und hinterließ den Geschmack von alten Pilzen und schimmligem Brot auf der Zunge.

»Hast du nicht irgendwas, das nicht aus fermentierten Pilzen ist?«

»Als u aprecie no, koai sa sa?«, sagte eine Stimme hinter ihm. Wenn es dir nicht passt, was machst du dann hier?

Fred drehte sich auf dem Hocker um. Einer aus der Viererbande, die gerade hereingekommen war, sah ihn finster an. Für einen Gürtler war er breitschultrig. Vielleicht ein Mech-Fahrer. Oder er ging einfach oft ins Fitnessstudio. Manche von ihnen verschafften sich mithilfe von Geräten und Gewichten und teuren Medikamenten das, was die Schwerkraft ihnen nicht geben konnte.

Was machst du hier? Vernünftige Frage.

»Ich mag Whiskey aus Getreide. Wenn du gerne an Pilzen nuckelst, lass dich von mir nicht aufhalten.«

Der Mech-Fahrer drehte sich auf seinem Stuhl um. Fred dachte, er würde aufstehen, aber stattdessen zuckte der Mann nur die Achseln und sah zur Seite. Seine Freunde warfen sich Blicke zu. Der mit dem Armband hielt sein Terminal in der Hand und tippte schnell auf dem Bildschirm.

»Ich habe Bourbon von Ganymed«, sagte der Barkeeper. »Ist aber nicht gerade billig.«

»Macht nichts«, sagte Fred und drehte sich wieder um. »Bring die ganze Flasche.«

Der Barkeeper bückte sich. Er wühlte unter der Theke herum. Wahrscheinlich hatte er da unten eine Waffe. Fred konnte sie beinahe vor sich sehen. Etwas, mit dem man jemanden einschüchtern und, falls das nicht funktionierte, umblasen konnte. Vielleicht eine Schrotflinte mit abgesägtem Lauf. Fred wartete, aber als der Barkeeper die Hand hob, hielt er eine Flasche darin. Er stellte sie auf die Theke. Fred war erleichtert und enttäuscht zugleich.

»Sauberes Glas«, sagte er.

»Ich dachte mir«, sagte der Barkeeper, während er nach den Gläsern vor dem Spiegel griff, »dass du aus einem bestimmten Grund hier bist. Der Schlächter der Anderson-Station in einer Gürtler-Bar.«

»Ich will nur einen Drink«, sagte Fred.

»Niemand will nur einen Drink«, entgegnete der Barkeeper.

»Ich bin eben was Besonderes.«

Der Barkeeper grinste.

»Stimmt.« Er bückte sich, sodass sein Kopf fast auf Freds Höhe war. »Sieh mich an, Colonel.«

Fred schraubte den Verschluss von der Flasche und goss zwei Fingerbreit Whiskey in das frische Glas. Er drehte den Verschluss wieder zu. Der Barkeeper rührte sich nicht. Fred sah in seine hellbraunen Augen. Er wollte etwas sagen, irgendwas Sarkastisches, Herabsetzendes und Gemeines. Im Spiegel nahm er eine Bewegung wahr. Männer hinter ihm.

Fred blieb ein Augenblick Zeit, sich auf das Messer oder die Kugel oder den Schlag vorzubereiten, aber stattdessen wurde ihm ein schwarzer Sack über den Kopf gestülpt.

Vor drei Jahren war alles anders gewesen.

*

»Dagmar auf Kurs, neunzig Sekunden bis zum Aufsetzen, alles planmäßig.«

»Verstanden, Dagmar. Beginn des Eindringmanövers in neunzig …«

Fred stellte die Lautstärke des Pilotenkanals leiser, bis die Kommunikation zu einer Hintergrundmusik wurde, die Positionen und Vektoren besang. Noch neunzig Sekunden, bis der Sturmtrupp eindringen würde.

Eine Ewigkeit, wenn man wartete.

Fred atmete tief aus, und das Visier seines Helms beschlug einen Moment lang. Er versuchte sich zu dehnen, aber die Druckliege erlaubte ihm nicht, die Glieder ganz zu strecken. Die Steuerkonsole zeigte dreiundachtzig Sekunden bis zum Aufsetzen auf der Anderson-Station. Das Atmen und Strecken hatte nur sieben Sekunden verbraucht.

Er schaltete sein Display auf die vordere Luftschleuse um. Die Dagmar war ein Marine-Landungsfahrzeug, mit dem man an einem Schiff oder einer Station festmachen konnte, um ein Loch hineinzuschneiden, und das Display zeigte zweihundert Marines, die in vertikalen Druckkäfigen angeschnallt waren und ihre Waffen neben sich mit Schnellverschlüssen befestigt hatten. Die Luftschleuse würde sich wie die Irisblende einer Kamera öffnen, sobald die Sprengladungen ein Loch gerissen hatten und die äußeren Dichtungen geschlossen waren.

Es war schwer zu beurteilen, da sie alle vakuumgeeignete Kampfanzüge trugen, aber die Marines wirkten ruhig. Sie waren auf Luna ausgebildet worden, bis ihnen das Manövrieren bei Mikrogravitation oder Schwerelosigkeit in Fleisch und Blut übergegangen war. Sie hatten in engen Schiffen trainiert, bis sie keine Angst mehr davor hatten, durch klaustrophobisch enge Korridore mit uneinsehbaren Quergängen vorzurücken. Man hatte ihnen erzählt, dass Marines bei einem Sturmangriff mit einer Todesrate von bis zu 60 Prozent rechnen mussten, bis diese Zahl ihnen nichts mehr bedeutete.

Fred musterte seine Leute in den Käfigen und stellte sich vor, dass sechs von zehn nicht zurückkämen.

Auf der Anzeige verblieben noch dreißig Sekunden.

Fred schaltete die Konsole auf Radar um. Zwei große Echozeichen flankierten die Dagmar. Ihre Schwesterschiffe, die ebenfalls jeweils zweihundert Marines an Bord hatten. Dahinter die kleinen schnellen Begleitschiffe. Und voraus der gewaltige rotierende Ring der Anderson-Station, der von Sekunde zu Sekunde näher kam.

Alle waren auf Position, die Soldaten waren einsatzbereit, die Diplomatie hatte versagt, und es war Zeit, dass er seinen Auftrag erledigte. Als er den Kommandokanal zu seinen Truppführern öffnete, drangen plötzlich zehn Varianten von Hintergrundrauschen in seinen Helm.

»An alle Einheiten, zehn Sekunden bis zum Eindringen. Los geht’s.«

Zehn Stimmen bestätigten das Kommando.

»Waidmannsheil«, sagte Fred und rief das taktische Display auf. Der zweidimensionale Grundriss der Anderson-Station erschien gestochen scharf. Er war irreführend, denn man konnte nicht wissen, wie viele Barrikaden die Gürtler errichtet hatten, nachdem sie die Station übernommen hatten.

Seine Soldaten wurden durch sechshundert grüne Punkte dargestellt, die knapp außerhalb der Station schwebten.

»Eindringen, jetzt! Jetzt! Jetzt!«, schrie der Pilot der Dagmar über Funk. Das Schiff bebte, als die Klauen der Luftschleuse sich mit einem metallischen Kreischen, das Fred durch seinen gepolsterten Sitz spürte, in die Station gruben. Die Schwerkraft kehrte mit einem Seitwärtsruck zurück, während die Station die eindringenden Schiffe auf ihrer Rotation von 0,3 G mit sich zog. Mit einer Reihe von durchdringenden Knallen zündeten die Sprengladungen.

Über dem taktischen Display leuchteten zehn kleinere Monitore auf, als die Truppführer ihre Helmkameras einschalteten. Die Marines strömten durch die drei Löcher in der Außenhaut der Anderson-Station. Fred tippte auf den Grundriss.

»Alle Einheiten errichten Brückenköpfe und Rückzugspositionen in Korridor L zwischen Kreuzung 24 und 38.« Fred war jedes Mal überrascht, wie ruhig seine Stimme im Gefecht klang.

Grüne Punkte bewegten sich durch die Korridore auf seinem Display. Manchmal tauchten rote Punkte auf, wenn das HUD eines Marines feindlichen Beschuss entdeckte und den Verursacher als Bedrohung markierte. Die roten Punkte hielten sich nie lang. Gelegentlich wurde ein grüner Punkt gelb. Ein Soldat am Boden. Die gepanzerten Anzüge erkannten die Verletzungen oder den Tod und stellten die Kampfunfähigkeit fest.

Kampfunfähigkeit. Was für ein schöner Euphemismus dafür, dass einer seiner Leute auf einer beschissenen Station am hintersten Ende des Gürtels verblutete. Sechzig Prozent erwartete Opfer. Vier grüne auf sechs gelbe Punkte, alles seine Soldaten.

Er beobachtete, wie der Angriff ablief wie ein Hightechspiel, verschob seine Figuren, reagierte auf Bedrohungen mit neuen Befehlen und ermittelte den Spielstand, indem er feststellte, wie viele grüne Punkte grün blieben.

Drei rote Punkte tauchten auf. Vier grüne Punkte unterbrachen ihren Vormarsch und suchten Deckung. Fred schickte vier weitere grüne Punkte in einen Seitengang, um von der Flanke aus anzugreifen. Die roten Punkte verschwanden. Die grünen Punkte setzten sich wieder in Bewegung. Man konnte sich leicht in dem Ablauf verlieren und vergessen, was die Symbole auf dem Bildschirm wirklich bedeuteten.

Der Truppführer der vordersten Einheit riss ihn aus seiner Selbstvergessenheit, indem er ihn über den Kommandokanal rief.

»Overwatch, hier Einheit eins.«

Fred konzentrierte sich auf das Bild der Helmkamera des Truppführers. Eine improvisierte Barrikade kauerte am anderen Ende eines langen, leicht abfallenden Korridors. Das taktische Display zeigte über zehn feindliche Kämpfer, die sie verteidigten. Während Fred zusah, wirbelte ein kleiner Gegenstand über die Barrikade und explodierte wie eine Granate wenige Meter von der Position seines Truppführers.

»Hier Overwatch, ich höre, Einheit eins«, antwortete Fred.

»Stark befestigte Stellung blockiert Zugang zum Hauptkorridor. Könnten sie mit schweren Waffen räumen, aber das würde ernsthafte Schäden verursachen und wahrscheinlich den Ausfall des Lebenserhaltungssystems in diesem Abschnitt bedeuten.«

Fred sah auf die taktische Karte und stellte fest, dass sich tatsächlich mehrere wichtige Lebenserhaltungssysteme und Stromverteiler in der Nähe befanden. Deshalb haben sie die Barrikade da aufgebaut. Weil sie glauben, wir würden es nicht tun.

»Verstanden, Einheit eins«, sagte Fred, während er nach einer Alternativroute suchte. Es schien keine zu geben. Die Gürtler waren schlau.

»Overwatch, sollen wir die Barrikade mit schweren Waffen räumen oder einfach vorrücken?«

Entweder würden sie einen großen Teil des Lebenserhaltungssystems der Station in die Luft jagen und wer weiß wie viele Zivilisten töten, die sich in ihren Quartieren versteckten, oder er würde seine Männer losschicken und die 60-prozentige Opferquote ausschöpfen, um die Stellung einzunehmen.

Scheiß drauf. Die Gürtler hatten die Entscheidung getroffen. Jetzt mussten sie mit den Folgen leben.

»Einheit eins, erteile Erlaubnis zum Einsatz schwerer Waffen, um das Hindernis zu räumen. Ende.«

Nach wenigen Sekunden verschwand die Barrikade in einem Lichtblitz und einer Rauchwolke. Seine Männer rückten weiter vor.

Drei Stunden und dreiundzwanzig gelbe Punkte später kam der Funkspruch. »Overwatch, hier Einheit eins. Kommandozentrale eingenommen. Die Station gehört uns. Wiederhole, die Station gehört uns.«

*

Die hinter dem Rücken gefesselten Arme schmerzten. Da sie an den Fußknöcheln festgebunden waren, konnte er entweder auf der Seite liegen oder sich auf die Knie hieven. Aufstehen war unmöglich. Er entschied sich für das Knien.

Unter dem Sack über seinem Kopf herrschte absolute Dunkelheit, aber aus der Rotationsschwerkraft schloss er, dass er sich irgendwo in der Nähe der Außenhülle der Station befand. Eine Luftschleuse also. Er hatte das Zischen und Knacken gehört, als die Innentür abgedichtet wurde. Bald würde entweder das langsame Ausströmen der Luft folgen oder, falls sie ihn ins All befördern wollten, das Klicken beim Ausschalten der Sicherungsfunktion. Er strich mit den Füßen über den Boden und suchte die Schlitze. Würde die Schleuse aufgleiten, oder war es eine der alten mit Klappmechanismus?

Das Geräusch, das ertönte, war kein mechanisches. Irgendwo links von ihm räusperte sich eine Frau. Ein paar Sekunden später wurde eine Tür geöffnet und wieder geschlossen. Es klang, als würde sie unter Druck abgedichtet, aber das hatte auf einer Station nicht viel zu bedeuten. Die meisten Türen waren luftdicht. Schritte näherten sich. Fünf Leute. Vielleicht sechs. Die Frau mit dem Kratzen im Hals gehörte nicht dazu.

»Colonel? Ich nehme Ihnen jetzt den Sack ab.«

Fred nickte.

Licht kehrte in die Welt zurück.

Der Raum hatte einen billigen Bodenbelag und nackte Steinwände. Stromleitungen und Rohre überzogen die Decke und die Wände, und ein gedrungener Metallschreibtisch stand unbenutzt in der Ecke. Ein Wartungstunnel. Das Licht war grell. Er erkannte die vier Männer aus der Bar. Ein weiterer Mann hatte sich ihnen angeschlossen. Dünn, jung und mit behandlungsbedürftiger Akne. Fred reckte den Hals, um die Frau zu sehen. Sie stand in Habachtstellung, hielt ein fünfzig Jahre altes Flechet-Gewehr in den Händen und trug am Bizeps das AAP-Armband mit dem geteilten Kreis.

Keiner von ihnen hatte eine Maske auf. Als der Neuankömmling sprach, war seine Stimme nicht modifiziert. Es kümmerte sie nicht, ob Fred sie wiedererkennen würde.

»Colonel Frederick Lucius Johnson. Ich habe mich darauf gefreut, Sie kennenzulernen. Mein Name ist Anderson Dawes. Ich arbeite für die AAP.«

»Anderson, was?«, sagte Fred, und der Mann zuckte die Achseln.

»Meine Eltern haben mich nach der Anderson-Hyosung Cooperative Industries Group benannt. Ich glaube, insgesamt gesehen bin ich gut weggekommen.«

»Und? Die Anderson-Station war wie ein Bruder für Sie?«

»Namensvetter. Nennen Sie mich Dawes, wenn es Ihnen lieber ist.«

»Fick dich, Dawes.«

Dawes nickte und kniete sich vor Fred.

»Chi-chey au?«, fragte einer der Männer aus der Bar.

»Etchey«, sagte Dawes, und der Mann ging davon. Dawes wartete, bis sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, ehe er fortfuhr. »Sie haben eine Menge Zeit in Gürtler-Bars verbracht, Colonel. Man könnte glauben, dass Sie nach irgendwas suchen.«

»Dawes?«

»Fred?«

»Ich habe besseres Verhörtraining bekommen, als Sie es je erleben werden. Sie wollen Vertrauen aufbauen? Nur zu. Reden Sie eine Weile, nehmen Sie mir die Fesseln ab, erzählen Sie mir, dass Sie mich retten können, wenn ich Ihnen nur sage, was ich weiß. Und dann steche ich Ihnen die Augen aus und ficke Ihren Schädel. Kapiert?«

»Natürlich«, sagte Dawes, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern. »Also, erzählen Sie, Fred. Was ist auf Anderson-Station mit Ihnen passiert?«

*

Sobald die Soldaten die Korridore nach versprengten Kämpfern abgesucht hatten, eskortierte eine Einheit Marines Fred in die eroberte Station. Er blieb an der Rückzugsstellung stehen, die sie kurz hinter der Luftschleuse aufgebaut hatten. Marines kamen allmählich von anderen Posten zurück. Sie waren mit Adrenalin vollgepumpt und aufgedreht von der Angst, die sich nach den Kampfhandlungen Bahn brach. Fred zeigte sich ihnen. Er legte ihnen die Hände auf die Schultern und sagte ihnen, dass sie ihre Sache gut gemacht hatten.

Einige kehrten auf Tragen zurück. Fleisch gewordene gelbe Punkte. Sanitäter liefen zwischen ihnen umher und stöpselten ihre Terminals in die Anschlüsse der Kampfanzüge, lasen die Diagnosen aus und wiesen den Marines je nach Schwere der Verwundung einen Platz auf der Operationsliste zu. Manchmal drückten sie einen Knopf auf ihrem Terminal, und einer von Freds gelben Punkten wurde schwarz. Seine Kommandosoftware signalisierte ihren Tod und schickte Nachrichten an die zuständigen Truppführer und Kompaniekommandanten, damit sie eine Nachricht an die Familie schrieben. Auch in seiner Aufgabenliste erschien ein solcher Eintrag.

Alles lief sehr sauber und organisiert ab. Es hatte sich in Jahrhunderten der Kriegsführung im elektronischen Zeitalter so entwickelt. Fred legte die Hand auf den Arm einer jungen Frau, deren Anzug schwere Wirbelsäulenverletzungen meldete, und drückte ihn. Als sie ihm den erhobenen Daumen zeigte, fühlte es sich an wie ein Schlag in den Solarplexus.

»Sir?«

Fred sah auf und sah seinen Ersten Lieutenant, der vor ihm Haltung angenommen hatte. »Sind wir so weit?«

»Ja, Sir. Vielleicht laufen noch ein oder zwei Versprengte herum, aber wir kontrollieren die Gänge von hier bis zur Kommandozentrale.«

»Bringen Sie mich hin«, sagte Fred.

Sie legten die Strecke, die die Marines stundenlang freigekämpft hatten, in wenigen Minuten zurück. Die Säuberungsteams warteten noch in den Schiffen auf grünes Licht. In den Korridoren lagen die Leichen der besiegten Feinde. Fred betrachtete sie. Bis auf das Fehlen von AAP-Abzeichen fand er in etwa das vor, was er erwartet hatte. Lange dünne Männer und Frauen, die von Explosionen zerrissen oder von Geschossen aus leichten Waffen durchsiebt waren. Die meisten waren bewaffnet, aber einige auch nicht.

Sie gingen um eine Ecke in den Hauptkorridor und kamen zu der Barrikade, deren Zerstörung er befohlen hatte. Über ein Dutzend Leichen lagen um sie herum. Manchen trugen improvisierte Körperpanzer, aber die meisten nur einfache Schutzanzüge. Die Druckwellen-Rakete, mit der die Marines den Korridor freigesprengt hatten, hatte sie aufplatzen lassen wie überreife Weintrauben. Freds vakuumgeeigneter Kampfanzug schützte ihn vor dem Geruch der Eingeweide, meldete jedoch einen leichten Methananstieg in der Atmosphäre. Der Gestank des Todes reduziert auf einen Datenwert.

Ein kleiner Haufen Waffen und improvisierter Sprengsätze lag auf dem Boden.

»Damit waren sie bewaffnet?«, fragte Fred.

Sein Begleiter nickte.

»Ziemlich leichtes Zeug, Sir. Zivilistenkram. Das meiste hätte nicht mal gereicht, um eine Delle in unsere Kampfanzüge zu machen.«

Fred beugte sich vor und hob eine selbst gebastelte Granate auf.

»Sie haben euch mit Granaten beworfen, damit ihr nicht nah genug kommt, um zu merken, dass ihre Gewehre nichts ausrichten können.«

Der Lieutenant lachte. »Und uns dazu gebracht, sie in Stücke zu sprengen. Wenn wir gewusst hätten, dass sie nur Blasrohre haben, hätten wir einfach hingehen und sie tasern können.«

Fred schüttelte den Kopf und legte die Granate zurück.

»Holen Sie einen Räumungstrupp, um die Sprengsätze zu entschärfen, bevor dieser selbst gebastelte Scheiß in die Luft fliegt und jemanden tötet.«

Er sah zu dem Knotenpunkt eines Lebenserhaltungssystems, der durch die Druckwellen-Rakete zerstört worden war. Heute sind schon genug Unbeteiligte gestorben. Fred rief den Statusreport der Station auf, den sein Cyberteam gerade auf den neuesten Stand brachte. Er zeigte den völligen Ausfall der Lebenserhaltungssysteme in diesem Abschnitt und in zwei angrenzenden Sektoren. Über elfhundert Menschen ohne Luft und Strom. Hinter jedem Eingang, den er sah, konnte eine Familie ihre letzten Atemzüge damit verbracht haben, verzweifelt gegen die Tür zu hämmern, weil ein Haufen idiotischer Gürtler seine Barrikade an dieser Stelle errichtet hatte. Und weil er beschlossen hatte, sie zu zerstören.

Während der Lieutenant nach einem Bombenräumteam rief, ging Fred zur Kommandozentrale. Auf dem Weg sah er weitere tote Gürtler. Sie hatten auch dann noch versucht, den Korridor zu halten, nachdem seine Leute die erste Barrikade weggesprengt hatten, und sich hinter primitiven Verschanzungen versteckt und ihre in der Badewanne gebrauten Sprengsätze geworfen. Um Zeit zu gewinnen, aber wofür? Der Ausgang der Schlacht hatte nie infrage gestanden. Sie waren in der Unterzahl und viel zu schlecht ausgerüstet gewesen. Seine Soldaten hatten nur deshalb drei Stunden gebraucht, weil Fred darauf bestanden hatte, dass sie vorsichtig vorrückten. Als er die ungepanzerten Leichen sah, begriff er, dass seine Männer in der Hälfte der Zeit in der Kommandozentrale hätten sein können.

Die Menschen, die um ihn herum am Boden lagen, mussten es auch gewusst haben. Die Idioten haben uns dazu gebracht, sie zu töten.

Der Lieutenant holte ihn ein, als er die Kommandozentrale betrat. Mindestens zwanzig Leichen füllten den Raum. Die meisten steckten in irgendwelchen Schutzanzügen, aber ein Mann in der Mitte des Raums trug nur einen billigen blauen Overall mit dem Logo der Bergbaugesellschaft auf der Schulter. Er hatte eine Menge Schüsse abbekommen. Eine kleinkalibrige Pistole klebte mit seinem eigenen Blut an seiner Hand fest.

»Der Anführer vermutlich«, sagte Freds Begleiter. »Er hat irgendwas gesendet. Die anderen haben bis zum letzten Mann gekämpft, um ihm Zeit zu verschaffen. Wir haben versucht, ihn lebendig zu fassen, aber er hat die kleine Pistole aus der Tasche gezogen und …«

Fred ließ den Blick über das Gemetzel schweifen und spürte ein beunruhigendes Gefühl im Bauch. Es hielt einen Moment lang an, bevor es von glühender Wut abgelöst wurde. Wenn er allein gewesen wäre, wäre er zu dem Mann in dem blauen Overall gegangen und hätte ihn getreten. Stattdessen biss er die Zähne zusammen.

»Verdammte Scheiße, was war los mit euch?«, fragte er die Toten.

»Sir?«, sagte sein Lieutenant und blickte zur Kommunikationsstation. »Sieht aus, als hätte er bis zum letzten Moment versucht, etwas zu senden.«

»Zeigen Sie es mir«, sagte Fred.

*

»Ich habe auf der Anderson-Station nur meine Pflicht getan«, sagte Fred.

»Ihre Pflicht«, wiederholte Dawes. Es war keine Frage. Er verspottete ihn nicht. Er wiederholte einfach die Worte.

»Ja.«

»Sie haben nur Befehle befolgt«, sagte Dawes.

»Sparen Sie sich das, Arschloch. Der Nürnberg-Scheiß funktioniert bei mir nicht. Ich habe die Befehle meiner Vorgesetzten befolgt, die Station von den Terroristen zurückzuerobern, die sie besetzt hatten. Ich habe diese Befehle für legal und angemessen gehalten, und alles, was danach kam, fällt in meine Verantwortung. Ich habe die Station eingenommen und dabei erstens versucht, die Verluste unter meinen Leuten gering zu halten, und zweitens, den Schaden an der Station zu begrenzen.«

Dawes sah ihn an. Ein leichtes Stirnrunzeln gesellte sich zu der Akne. In den Rohren klapperte und zischte es, dann war es wieder still.

»Man hat Ihnen etwas aufgetragen, und Sie haben es getan«, sagte Dawes. »Also haben Sie doch wohl Befehle befolgt, oder?«

»Ich habe Befehle gegeben«, sagte Fred. »Und ich habe getan, was ich getan habe, weil ich es für richtig gehalten habe.«

»Okay.«

»Sie wollen mir einen Ausweg bieten. Ich soll sagen, dass die Gürtler auf Anderson-Station gestorben sind, weil jemand über mir eine Entscheidung getroffen hat. Das ist Schwachsinn.«

»Und warum sollte ich das tun?«, fragte Dawes. Er war gut. Er wirkte tatsächlich neugierig.

»Um Vertrauen aufzubauen.«

Dawes nickte, dann runzelte er wieder die Stirn und wirkte gequält. »Und damit sind wir wieder beim Schädelficken?«

Gegen seinen Willen musste Fred lachen.

»Deswegen bin ich nicht hier, Colonel«, fuhr Dawes fort, »und ich will auch nicht vom Thema abschweifen, aber kann man das nicht auch andersrum sehen? Sie haben nicht geschossen. Sie haben weder einen Abzug gedrückt noch einen Startbefehl eingegeben. Sie haben Befehle erteilt, aber Ihre Soldaten haben sie für richtig und legal gehalten.«

»Weil sie das waren«, sagte Fred. »Meine Leute haben das Richtige getan.«

»Weil Sie es ihnen gesagt haben. Sie haben Ihre Befehle befolgt.«

»Ja.«

»Sie tragen also die Verantwortung.«

»Ja.«

Die Frau mit dem antiken Gewehr hustete wieder. Dawes ließ sich im Schneidersitz auf dem Boden nieder. Selbst jetzt überragte er Fred um einen halben Kopf. An den Stellen, an denen sie nicht rot war, war seine Haut blass. Durch die Pickel und den schlaksigen Körperbau sah er aus wie ein Jugendlicher. Außer um die Augen herum.

»Und die Terroristen«, sagte Dawes.

»Was?«

»Die Männer, die die Station übernommen haben. Glauben Sie, die waren auch verantwortlich?«

»Ja«, sagte Fred.

Dawes atmete tief ein und stieß die Luft langsam zwischen den Zähnen aus.

»Ihnen ist sicher bewusst, Colonel, dass die Erstürmung der Anderson-Station eine der am besten dokumentierten Militäreinsätze der Geschichte ist. Die Sicherheitskameras haben alles übertragen. Ich habe Monate damit verbracht, die Aufzeichnungen anzusehen. Ich kann Ihnen Sachen über die Aktion erzählen, die nicht einmal Sie wissen.«

»Wenn Sie es sagen.«

»Als die Barrikade gesprengt wurde, sind sieben Menschen getötet worden. Drei weitere haben in den nächsten zwei Minuten ihren letzten Atemzug getan, und die letzten beiden haben überlebt, bis Ihre Leute kamen.«

»Wir haben keine Verletzten getötet.«

»Ihre Männer haben einen getötet, als er seine Pistole heben wollte. Eine Frau hatte einen Lungenkollaps und ist an ihrem eigenen Blut erstickt, bevor Ihre Sanitäter sich um sie gekümmert haben.«

»Soll ich mich dafür entschuldigen?«

Dawes’ Lächeln war jetzt kühler.

»Sie sollen verstehen, dass ich über jede Aktion auf der Station Bescheid weiß. Über jeden Befehl. Über jeden Schuss und aus welcher Waffe er abgefeuert wurde. Ich weiß alles über die Erstürmung, genau wie der halbe Gürtel. Sie sind hier draußen berühmt.«

»Trotzdem haben Sie mich gefragt, was passiert ist.« Fred zuckte die Achseln, soweit das mit seinen gefesselten, tauben Armen möglich war.

»Nein, Colonel, ich habe gefragt, was auf der Anderson-Station mit Ihnen passiert ist.«

*

General Jasiras privates Büro war dekoriert, wie man sich einen englischen Gentlemen’s Club vorstellte. Sämtliche Möbel bestanden aus dunklem Eichenholz und noch dunklerem Leder. Der schwere Schreibtisch roch nach Zitrone und Tungöl. Der Stifthalter und der Globus auf der Platte waren aus Messing. In den Regalen standen echte Bücher aus Papier und andere Souvenirs aus einem Leben auf Reisen. Nirgendwo war ein elektrisches Gerät zu sehen, das komplizierter war als eine Lampe. Wenn die Mondschwerkraft von 0,17 G nicht gewesen wäre, hätte man glauben können, in einem Büro im London des frühen zwanzigsten Jahrhunderts zu sein.

Der General wartete, dass er zuerst sprach, deshalb ließ Fred den Scotch im Glas kreisen und genoss das Klackern der Eiswürfel und den scharfen Geruch des Schnapses. Er leerte das Glas in einem Zug und stellte es auf den Schreibtisch, eine Aufforderung zum Nachschenken.

Während Jasira zwei Fingerbreit Scotch nachfüllte, schien seine Geduld zu Ende zu gehen. »Ich nehme an, Sie hatten Zeit, sich das Video anzusehen, das die Terroristen von der Anderson-Station übertragen haben«, sagte er.

Fred nickte. Er hatte sich schon gedacht, dass dies der Grund für die Einladung außerhalb der Geschäftszeiten war. Er nippte an seinem Glas, aber der Scotch hatte einen bitteren Geschmack angenommen, und er stellte es ab.

»Ja, Sir. Wir haben den Funkverkehr beim Anflug vorschriftsmäßig blockiert, aber wir haben das kleine Richtstrahl-Relais übersehen, das sie noch …«

»Fred«, unterbrach ihn Jasira lachend. »Das ist kein Verhör. Sie sind nicht hier, um sich zu entschuldigen. Sie haben Ihre Sache gut gemacht, Colonel.«

Fred runzelte die Stirn, nahm sein Glas und stellte es wieder ab, ohne daraus getrunken zu haben.

»Dann frage ich mich ehrlich gesagt, Sir, weswegen ich hier bin.«

Jasira lehnte sich auf seinem Stuhl zurück.

»Ein paar Kleinigkeiten. Ich habe gesehen, dass Sie beantragt haben, die Arbeit des Verhandlungsteams zu untersuchen. Dass Sie die Freigabe der Verhandlungsprotokolle verlangt haben. Das überrascht mich.«

Beim Sprechen rollte Jasira mit den Schultern, obwohl sie in der minimalen Schwerkraft des Mondes kaum angespannt sein konnten. Er musste eine Menge Zeit auf der Erde verbracht haben, und solche Angewohnheiten hielten sich lang.

»Sir«, sagte Fred und wählte seine Worte sorgfältig, »wegen des Relais hat die Öffentlichkeit schon die Bilder der Schlacht gesehen. Wir bekommen den Geist nicht zurück in die Flasche. Aber niemand scheint über den Richtstrahl reden zu wollen, den sie uns am Schluss gesendet haben. Wir …«

»Und was soll diese Information ändern? Sie haben Ihre Arbeit gemacht, Soldat. Das Verhandlungsteam hat seine gemacht. Feierabend.«

»Nach Stand der Dinge sieht es aus, als wären die Leute, die die Anderson-Station übernommen haben, Verrückte und wir hätten sie hingerichtet.« Fred unterbrach sich, als er merkte, dass er laut wurde, und fuhr leiser fort. »Es gab irgendein Missverständnis. Die zweite Nachricht verdeutlicht, dass sie dachten, sie hätten sich ergeben. Durch diesen Kommunikationsfehler sind eine Menge Leute gestorben.«

Jasira lächelte, aber er wirkte nicht amüsiert.

»Seien Sie nicht so hart zu sich selbst. Sie haben kaum Verluste erlitten«, sagte er. »Jedenfalls wird Ihre Anfrage abgelehnt. Wir haben keinen Grund, in der Angelegenheit irgendwelche Untersuchungen anzustellen. Die Bilder von der Schlacht sind draußen, und offenbar wirkt sich das zu unseren Gunsten aus. Je einfacher die Botschaft, desto mehr Menschen verstehen sie: Wenn ihr eine unserer Stationen einnehmt, erobern wir sie zurück. Mit aller Härte. Wir richten nur Verwirrung an, wenn wir die Sache ins Politische ziehen.«

»Sir«, sagte Fred mit einer Stimme, die jegliche Wärme verloren hatte, »ich habe bei dem Einsatz 173 bewaffnete Aufständische und über tausend Zivilsten getötet. Sie schulden es diesen Menschen – Sie schulden es mir –, zu zeigen, dass wir das Richtige getan haben. Was, wenn wir es beim nächsten Mal vermeiden können?«

»Es gibt kein nächstes Mal«, sagte der General. »Und Sie sind derjenige, der dafür gesorgt hat.«

»Sir, Sie stellen es so dar, als hätte es überhaupt keinen Fehler gegeben. Wer hat den Befehl erteilt, die Kapitulation zu ignorieren und mich reinzuschicken? Waren Sie das?«

Jasira zuckte mit den Schultern. »Spielt keine Rolle. Sie haben getan, was nötig war. Das werden wir nicht vergessen.«

Fred sah auf seine Hände. Er stand ein wenig zu schnell auf, geriet in der niedrigen Schwerkraft ins Wanken und salutierte scharf. Jasira schenkte sich noch ein Glas Scotch ein und ließ Fred so dastehen, während er trank.

»Gibt es sonst noch was, Sir?«

Jasira bedachte ihn mit einem langen resignierten Blick.

»Sie bekommen die Freiheitsmedaille verliehen.«

Freds Arm erschlaffte, und der Salut fiel in sich zusammen.

»Was?«, brachte er hervor.

»Ich gehe zurück in die Schwerkraftsenke. Ich bin zu alt, um noch Vakuum zu atmen. Sie werden mit der höchsten Auszeichnung der UN-Marines bedacht, und kurz danach bekommen Sie Ihren ersten Stern. Bevor das Jahr zu Ende ist, haben Sie einen Sitz hier in der Operationszentrale. Versuchen Sie, so zu tun, als würden Sie sich darüber freuen.«

*

Das Schweigen zog sich in die Länge. Fred konzentrierte sich auf einen nicht vorhandenen Punkt ungefähr drei Meter vor ihm. Dawes beobachtete ihn fast eine Minute lang, bevor er aufgab.

»Okay. Dann fange ich eben an«, sagte er. »Folgendes ist passiert. Sie haben mit einer der Marines geschlafen. Niemand durfte es wissen, weil Sie der Kommandant sind, und das geht gar nicht, oder? Deshalb sind Sie sehr vorsichtig, als Sie die Station einnehmen. Sie erleiden nur geringe Verluste, haben aber Pech, dass Ihre Geliebte darunter ist.«

Fred sah ihn mit versteinerter Miene an. Dawes lehnte sich zurück und stützte sich auf einen langen dünnen Arm, als säße er in einem sonnigen Park unter dem Baum.

»Sie können sich nicht die übliche psychologische Unterstützung holen«, fuhr Dawes fort, »weil Ihre Beziehung dann ans Licht käme, und Sie schämen sich immer noch dafür. Sie haben einen kleinen Zusammenbruch. Schließlich treiben Sie sich in AAP-Bars rum und hoffen, dass Sie jemand tötet.«

Fred reagierte nicht. Seine Beine waren jetzt nicht mehr taub, sondern begannen zu schmerzen. Dawes grinste. Das Ganze schien ihm Spaß zu machen.

»Nein?«, sagte der AAP-Mann. »Gefällt Ihnen das nicht? Wie wär’s damit? Bevor Sie zu den Marines gegangen sind, waren Sie ein Sorgenkind. Haben alle möglichen schlimmen Dinge gemacht. Wild. Erst durch die Armee sind Sie auf den rechten Weg gekommen. Das hat Sie zu dem loyalen, aufrechten, gesetzestreuen und anständigen Mann gemacht, der Sie heute sind. Aber dann kommen die Aufnahmen von der Anderson-Station an die Öffentlichkeit. Ein paar Leute aus Ihrer Vergangenheit sehen die Bilder und erkennen Sie. Sie kommen als Held zurück, aber die Sache hat einen Haken. Sie werden erpresst wegen … hmm. Wie wär’s mit Vergewaltigung? Oder … nein. Drogenhandel. Sie haben früher in Ihrem Schlafsaal Tabletten zusammengebraut und in den Klubs verkauft. Jetzt holt die Vergangenheit Sie ein, und Sie haben einen kleinen Zusammenbruch. Schließlich treiben Sie sich in AAP-Bars herum und hoffen, dass Sie jemand tötet.«

Dawes wedelte mit einer Hand vor Freds Gesicht.

»Sind Sie noch da, Colonel? Gefällt Ihnen das auch nicht? Vielleicht haben Sie eine Schwester, die aus der Schwerkraftsenke hochgekommen ist, und Sie haben sie aus den Augen verloren …«

»Warum sparen Sie sich nicht Ihr beschissenes Gelaber«, knurrte Fred, »und tun einfach, weswegen Sie hier sind.«

»Weil das Warum wichtig ist. Das Warum ist immer wichtig. Was auch immer Ihre Geschichte ist, ich weiß, wie sie ausgeht. Am Ende sitzen Sie hier und reden mit mir. Das ist der einfache Teil, und ich glaube, Sie suchen nach einem einfachen Ausweg.«

»Was soll das denn bedeuten, verflucht?«

Die Frau mit dem Gewehr sagte etwas. Entweder war ihr Gürtler-Dialekt zu fremd und schnell, oder es war eine AAP-Sprache, denn Fred konnte im Fluss der Silben nicht einmal einzelne Wörter ausmachen. Dawes nickte, zog sein Terminal aus der Tasche und tippte etwas ein. Fred beugte sich vor, damit wieder Blut in seine Beine floss. Dawes legte das Terminal zur Seite.

»Sie haben sich verändert, Colonel. Seit den Ereignissen auf der Anderson-Station verhalten Sie sich anders. Vorher waren Sie nur ein Arschloch von den inneren Planeten, dem es scheißegal war, ob der Gürtel lebt oder stirbt. Sie sind auf Ihren Basen und bei Ihren durchorganisierten Hilfsprogrammen und auf den Stationsebenen geblieben, auf denen die Sicherheitskräfte von den Steuern auf der Erde bezahlt werden. Jetzt nicht mehr.

Mein ganzes Leben habe ich im Gürtel verbracht. Ich kannte viele Männer, die sterben wollten. Sie haben sich genauso benommen wie Sie. Die Frauen nicht. Das habe ich noch nicht verstanden, aber die Männer? Selbst wenn sie aus der Luftschleuse spazieren oder sich eine Pistole in den Mund stecken, gibt es immer diese Sachen vorher. Sie gehen Risiken ein. Hoffen, dass das Schicksal es für sie erledigt. Es ihnen einfach macht. Und der Gürtel ist eine Umgebung, die keine Fehler verzeiht. Wenn man sterben will, reicht es meistens, nachlässig zu werden.«

»Es ist mir scheißegal, was Sie denken«, sagte Fred. »Es ist mir scheißegal, was Sie wollen oder wissen. Und Ihre alberne Küchenpsychologie? Die können Sie sich sonst wo hinstecken. Ich muss mich vor Ihnen nicht rechtfertigen. Ich habe meine Arbeit gemacht, und ich schäme mich nicht für die Entscheidungen, die ich getroffen habe. Mit denselben Informationen würde ich wieder dasselbe tun.«

»Mit denselben Informationen«, stürzte Dawes sich auf seine Worte. »Sie haben also etwas rausgefunden?«

»Leck mich, Dawes.«

»Was war es, Colonel? Welche Information treibt den Schlächter von der Anderson-Station in den Selbstmord? Was macht ihn zu einem Feigling?«

*

Die hundertsiebzig Gürtler, die die Anderson-Station besetzt hielten, hatten bisher nicht angegriffen. Fred beobachtete die Station auf einem Infrarotbild.

»Wichtige Eilnachricht von der Operationszentrale, überprüft und verifiziert«, sagte der Nachrichtenoffizier an seinem Monitor. »Geheim. Ich schicke sie Ihnen.«

Es war nur eine Textzeile.

ERLAUBNIS STATION ZURÜCKZUEROBERN GEWÄHRT

Das war alles. Sechsunddreißig Stunden Verhandlungen waren vorbei. Das Oberkommando der äußeren Planeten wollte nicht länger warten und ließ die Hunde von der Leine.

Fred rief den Major und sagte: »Schicken Sie sie in die Käfige. Wir greifen an. Stellen Sie den Countdown auf eine Stunde.«

»Verstanden, Sir«, sagte der Major mit mehr Eifer, als Fred recht war.

Noch eine Stunde, bis sie die Station stürmen würden. Fred rief das Verhandlungsteam auf dem Kommandoschiff.

»Psychologische Spezialeinheit hier«, sagte Captain Santiago, der Kommandant der Truppe.

»Captain, hier spricht Colonel Johnson. Wir haben die Erlaubnis bekommen, die Station zurückzuerobern. Meine Leute schlagen in einer Stunde zu. Gibt es noch was, das wir versuchen können? Eine letzte Chance? Haben Sie sie vor dem Angriff gewarnt?«

Es gab keinen Grund zur Geheimhaltung. Man konnte drei Marine-Schiffe, die auf Kollisionskurs waren, nicht verbergen.

Am anderen Ende herrschte langes Schweigen, und Fred wollte schon überprüfen, ob die Verbindung noch stand, als die Antwort endlich kam.

»Colonel, stellen Sie meine Arbeit infrage?«

Fred zählte langsam bis zehn.

»Nein, Captain. Aber ich bin kurz davor, sechshundert Marines in die Station zu schicken. Außer den 170 feindlichen Kämpfern gibt es da über zehntausend Zivilisten. Viele oder sogar alle könnten den Tag nicht überleben. Ich will mich nur vergewissern, dass wir alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft haben, bevor wir …«

»Sir, ich habe meine Befehle, genau wie Sie. Wir haben getan, was wir konnten, aber die Psychologische Spezialeinheit ist jetzt draußen. Sie sind an der Reihe.«

»Bin ich der Einzige, dem das unlogisch vorkommt?«, sagte Fred. »Sie behaupten, sie hätten die Station wegen drei Prozent Transportgebühr besetzt? Ich meine, sie haben den Bürokraten, der sie eingeführt hat, schon aus der verfluchten Luftschleuse geworfen. Bei einem Kampf haben sie absolut nichts zu gewinnen.«

Die Antwort bestand aus statischem Rauschen.

»Lassen Sie mich mit ihnen reden«, sagte Fred. »Vielleicht verstehen sie es, wenn jemand anders …«

»Sir«, unterbrach Santiago ihn. »Dazu bin ich nicht befugt. Sie wollen darüber diskutieren? Dann setzen Sie sich mit General Jasira in der Operationszentrale in Verbindung. Ende.«

*

Fred stieß sich mit seinen tauben Beinen ab und stürzte sich auf Dawes. Aber Dawes wich zurück, sodass Fred auf dem harten Boden landete. Die Welt wurde einen Moment lang grau, und er schmeckte Blut. Trotzdem kroch er weiter und versuchte, Dawes’ Füße mit den Zähnen zu erwischen, wenn er anders nicht an ihn herankam. Der Gürtler machte einen weiteren Schritt nach hinten. Fred wand sich. In seiner linken Schulter knackte etwas widerlich, und ein stechender Schmerz schoss ihm in den Nacken. Die Frau trat vor.

Er sah in den dreieckigen Lauf des Flechet-Gewehrs und dann in ihre Augen. Sie waren so blau wie das Meer aus dem Orbit betrachtet. Es lag kein Mitleid darin. Ihr Daumen ruhte auf der Sicherung. Der Finger auf dem Abzug. Ein wenig Druck, und Hunderte von Stahlstiften, dünner als Nadeln, würden aus dem Gewehr fliegen und sein Gehirn durchbohren. Und sie wollte es. Man sah es an der Haltung ihrer Schultern und an ihrer Miene, wie sehr sie ihn erledigen wollte.

»Ich sage Ihnen, was das Problem mit Ihnen ist.« Dawes’ Stimme klang so ruhig, als säßen sie in einer Bar und tränken ein Bier zusammen. »Und das ist keine Kritik an Ihnen persönlich. Es trifft auf alle zu, die nicht im Gürtel aufgewachsen sind. Das Problem mit Ihnen ist, dass Sie ein Verschwender sind.«

»Ich bin kein beschissener Feigling«, sagte Fred durch seine schnell anschwellenden Lippen.

»Doch, natürlich. Sie sind schlau, Sie sind gesund. Vielleicht haben von vierzig Milliarden ein paar Hundert die gleiche Kombination aus Talent und Ausbildung wie Sie. Und Sie wollen diese sehr wertvolle Ressource verschwenden. Sie sind wie ein Mann, der keine Lust hat, die Dichtungen an der Luftschleuse zu erneuern, wenn sie undicht werden. Sie glauben, es wäre nur eine Kleinigkeit. Es würde keine Rolle spielen. Sie sind ja nur ein Mann. Sie werden getötet, keine große Sache.«

Er hörte, wie Dawes hinter ihn trat, behielt aber das Gewehr im Auge. Dawes packte ihn am Kragen und zog ihn zurück auf die Knie.

»Mein Vater hat mich früher grün und blau geschlagen, wenn ich woanders hingespuckt habe als in das Rückgewinnungsrohr, weil wir das Wasser brauchten. Wir verschwenden hier draußen nichts, Colonel. Wir können es uns nicht leisten. Das verstehen Sie doch, oder?«

Fred nickte langsam. Blut rann an seinem Kinn herab, obwohl weder Dawes noch die Frau ihn geschlagen hatten. Er hatte es sich selbst angetan.

»Als ich fünfzehn war, habe ich meine Schwester getötet«, sagte Dawes. »Nicht mit Absicht. Wir waren auf diesem Gesteinsbrocken ungefähr eine Woche von der Eros-Station entfernt. Wir haben das Schiff verlassen, um eine Messsonde zu holen, die im Schlamm stecken geblieben war. Ich sollte vorher ihre Anzugsdichtungen überprüfen, aber ich hatte keine Lust. Ich war fünfzehn, verstehen Sie? Deshalb habe ich schlampig gearbeitet. Wir sind rausgegangen, und alles schien in Ordnung zu sein, bis sie sich zur Seite gedreht hat, um sich an einer Felsnase festzuhalten. Ich habe über Funk ein Knacken gehört. Wir hatten diese alten Anzüge ukrainischer Bauart. Grundsolide, aber wenn was kaputt geht, dann geht es ganz schnell.«

Dawes zuckte die Achseln.

»Dann sind Sie ein widerliches Stück Scheiße, oder?«, sagte Fred.

Dawes grinste. »Ich habe mich so gefühlt, ja. Manchmal fühle ich mich immer noch so. Ich verstehe, warum jemand nach so einem Erlebnis sterben möchte.«

»Warum haben Sie sich dann nicht umgebracht?« Fred spuckte einen dunkelroten Klumpen auf den Boden vor seinen Füßen.

»Ich habe noch drei Schwestern«, sagte Dawes. »Jemand muss ihre Dichtungen überprüfen.«

Fred schüttelte den Kopf. Seine Schulter zuckte vor Schmerz.

»Warum erzählen Sie mir das?«

»Um Vertrauen aufzubauen«, sagte Dawes. »Wie funktioniert es?«

Fred lachte unwillkürlich. Dawes gab der Frau ein Zeichen, und sie hob das Gewehr und ging zurück zur Tür.

»Also, Colonel«, sagte Dawes. »Welche Information, die Sie auf der Anderson-Station erhalten haben, hat dazu geführt, dass Sie hier gelandet sind und mit einem traurigen Drecksack wie mir reden?«

Fred holte tief Luft.

»Es wurde eine Nachricht an uns geschickt, als wir gestürmt haben«, sagte er. »Eine Nachricht, die ich erst gesehen habe, als es zu spät war.«

*

»Zeigen Sie es mir«, sagte Fred.

»Es sind mehrere«, sagte der Lieutenant. »Ein Teil, der nie ausgestrahlt wurde. Und einer, der anscheinend in Endlosschleife zum Kommandoschiff gesendet wurde. Außerdem eine Übertragung, die aussieht, als würde sie direkt von den Überwachungskameras kommen.«

»Zuerst den ungesendeten Teil.«

Das Video startete, und der Mann in dem Minen-Overall blickte ihn vom Monitor an. Es war ein surreales Erlebnis für Fred, einen Mann sprechen zu sehen, während seine Leiche neben ihm auf dem Boden erkaltete.

Ich hätte ihm sagen können, dass es so kommt.

Der tote Mann sagte: »Bürger des Sonnensystems, mein Name ist Marama Brown. Ich bin freiberuflicher Bergbautechniker für die Anderson-Hyosung Cooperative Industries Group. Zusammen mit einigen Gleichgesinnten habe ich die Kontrolle über die Versorgungsstation übernommen.«

Fred drückte auf Pause und wandte sich zu seinem Lieutenant um. Sein Magen zog sich zusammen. Der tote Mann hatte erwartet, dass seine Nachricht rausgehen würde. Obwohl er hatte wissen müssen, dass sie den Funkverkehr blockierten, hatte er damit gerechnet, gehört zu werden.

»Wohin ging die Übertragung von den Überwachungskameras?«, fragte Fred.

»Das werde ich sofort überprüfen, Sir«, antwortete der Lieutenant und rief die Leute von der elektronischen Kriegsführung auf der Dagmar. Fred blendete ihre Unterhaltung aus und drückte auf Wiedergabe.

»Ich glaube – wir alle glauben, dass unsere Aktion durch das gerechtfertigt ist, was hier passiert ist. Ein Mann namens Gustav Marconi, der Stationsverwalter, hat kürzlich eine dreiprozentige Gebühr auf Versorgungslieferungen eingeführt. Ich weiß, für einige von Ihnen hört sich das nicht nach viel an, aber die meisten von uns hier draußen kommen gerade so über die Runden. Schürfer und Leute, die Probebohrungen durchführen … entweder hat man Glück und wird reich oder man hungert. So läuft das Spiel. Aber jetzt können viele von uns drei Prozent weniger Vorräte kaufen, weil die Gebühr auf die Preise aufgeschlagen wird. Man kann ein bisschen weniger essen. Man kann weniger Wasser trinken. Man kann vielleicht langsamer fliegen, um Treibstoff zu sparen. Man kann die Lebenserhaltungssysteme auf Minimum laufen lassen. Aber …«

»Sir?«, sagte der Lieutenant, und Fred hielt die Aufzeichnung an. »Sir, die Übertragung − oder zumindest ein Teil davon − ging raus. Sie hatten einen Richtstrahl-Empfänger und einen Sender auf einem Gesteinsbrocken knapp außerhalb des blockierten Bereichs. Wir haben es übersehen. Aber die Jungs von der elektronischen Kriegsführung haben ihn geortet und schicken eine Phantom, um ihn zu zerstören.«

Zu spät, dachte Fred und ließ die Aufzeichnung weiterlaufen.

»… was, wenn man schon am Minimum angekommen ist? Soll man jedes Jahr drei Tage lang nicht atmen? Das könnte reichen. Oder man trinkt drei Tage kein Wasser. Oder man isst drei Tage nichts, obwohl man sowieso schon fast verhungert ist. Wenn man nirgendwo mehr sparen kann, wie soll man es dann ausgleichen?«

Marama wandte sich kurz ab, und als er sich zurückdrehte, hatte er sein Terminal in der Hand. Er hielt es in die Kamera. Es zeigte das Bild eines kleinen Mädchens. Sie trug einen taubenblauen Overall, auf dessen Brust von Hand »Hinekiri« gestickt war, und grinste mit kleinen schiefen Zähnen.

»Das ist mein kleines Mädchen, meine Kiri. Sie ist vier. Sie hat das, was die Ärzte ›hypoxische Hirnschädigung‹ nennen. Sie kam ein bisschen zu früh auf die Welt, und statt in einer sauerstoffreichen Umgebung war sie in meinem Bergbauschiff, wo die Luft dünner ist als im Basislager des Mount Everest auf der Erde. Wir wussten nicht mal, dass etwas nicht stimmt, bis wir gemerkt haben, dass sie sich nicht normal entwickelt.«

Er drehte sich zur Seite und legte das Terminal ab.

»Und sie ist nicht die Einzige. Entwicklungsstörungen durch zu wenig Sauerstoff und Mangelernährung werden immer häufiger. Als wir das Mr. Marconi erklärt haben, antwortete er: ›Arbeitet härter, dann könnt ihr euch die gestiegenen Preise leisten.‹ Wir haben uns bei der Hauptverwaltung von Anderson-Hyosung beschwert, aber niemand wollte uns zuhören. Wir haben uns auch bei der AAP-Leitung auf Luna beschwert.

Das ist kein … Wir hatten eigentlich nicht vor, die Station zu besetzen. Es ist einfach so passiert.« Einen Moment lang schwankte seine Stimme, dann zwang er sich, ruhig weiterzureden. »Wir wollen alle wissen lassen, dass – im Gegensatz zu den Verbrechen von Mr. Marconi, die zum Tod von Tausenden Gürtlern geführt hätten – bei der Übernahme der Station niemand verletzt wurde. Wir wollen niemandem etwas tun. Wir sind keine gewalttätigen Menschen, aber wir sind so in die Ecke gedrängt worden, dass wir nicht mehr weiter wissen. Seit fast zwei Tagen sprechen wir mit UN-Militär-Unterhändlern. In Kürze werden wir ihnen die Station übergeben. Wir senden diese Botschaft, bevor wir kapitulieren, um sicherzugehen, dass wir Gehör finden. Ich hoffe, niemand fühlt sich jemals wieder gezwungen, so etwas zu tun. Ich hoffe, dass die Leute nach all dem anfangen, darüber zu reden, was hier draußen passiert ist.«

Das Video endete. Fred rief den Richtstrahl auf, der während der Erstürmung an das Verhandlungsteam gesendet worden war.

Wieder Marama Brown, dieses Mal mit einer Pistole in der Hand und angstverzerrtem Gesicht.

»Warum greifen die Marines an?«, kreischte er panisch. »Wir brauchen nur ein bisschen Zeit! Wir ergeben uns!«

Die Nachricht begann von vorn. Fred schaltete sie ab.

»Sir.«

Fred holte tief Luft, um die Übelkeit zu unterdrücken, die ihn plötzlich überkam.

»Was gibt’s, Lieutenant?«

»Die Phantom meldet einen sauberen Treffer. Das Relais ist zerstört. Aber, ähm …«

»Spucken Sie es aus, Soldat.«

»Es hat nicht mehr übertragen. Was immer sie gesendet haben, sie waren fertig damit.«

Fred rief die Kommunikationslogs auf und erhielt die Bestätigung für das, was er schon vermutet hatte: Marama Brown war nicht dazu gekommen, sein Manifest zu senden. Fred hatte den Befehl zum Angriff erhalten, und Marama war damit beschäftigt gewesen, am Leben zu bleiben. Aber der letzte Richtstrahl zur psychologischen Spezialeinheit hatte sein Ziel erreicht. Sie hatten es gewusst.

»Sir?«, sagte der Lieutenant.

»Egal. Rufen Sie die Cybertypen und lassen Sie sie den Computerkern ausbauen. Ich suche den Verbindungsoffizier und leite die Hilfe für die Zivilisten ein.«

Sein Lieutenant gluckste.

»Hey, Kinder«, sagte er. »Wir haben eure Station in Stücke gesprengt, hier habt ihr ein paar Militärrationen und UN-Marine-Sammelalben.«

Fred lachte nicht.

*

»Sie müssen doch gewusst haben, dass da draußen Verzweiflung herrschte«, sagte Dawes.

»Natürlich«, sagte Fred. »Es stand in allen Berichten. Verdammt, es war in den Nachrichten. Gestiegene Kosten. Den Leuten mangelte es am Nötigsten. Man hört es ständig. Wenn Sie jetzt einen Sender einschalten, hören Sie es wieder.«

Es floss kein Blut mehr aus Freds Mund, aber die Innenseite der Lippe fühlte sich wund an. Seine Schulter strahlte nur noch einen leichten Schmerz aus. Auf dem Boden vor ihm war ein dunkler Blutfleck.

»Aber dieses Mal war es anders?«, fragte Dawes. Er klang nicht sarkastisch oder wütend. Nur neugierig.

Fred verlagerte das Gewicht. Seine Beine waren abgestorben. Er spürte nichts mehr. Wenn ihm jemand ein Messer in den Oberschenkel gestoßen hätte, hätte er das Gefühl gehabt zuzusehen, wie es jemand anderem passierte.

»Der Mann hatte ein behindertes kleines Mädchen«, sagte Fred. »Ich habe ihn getötet.«

»Sonst hätten die UN jemand anderen geschickt«, sagte Dawes.

»Trotzdem habe ich ihn getötet.«

»Sie haben nicht den Abzug gedrückt.«

»Ich habe ihn getötet, weil er wollte, dass sie genug Luft zum Atmen hat«, sagte Fred. »Ich habe ihren Vater getötet, obwohl er sich ergeben wollte, und dafür habe ich einen Orden bekommen. Jetzt wissen Sie es. Das ist auf der Anderson-Station passiert. Was unternehmen Sie jetzt?«

Dawes schüttelte den Kopf.

»Das ist zu einfach. Sie haben viele Väter getötet. Was war bei diesem anders?«

Fred setzte zum Sprechen an, unterbrach sich und versuchte es erneut.

»Sie haben mich benutzt. Es ging darum, eine Botschaft an alle zu schicken, dass man sich nicht mit der Erde anlegt. Seht her, was wir machen, nur weil jemand auf einer abgelegenen Station einen Verwalter ins All schmeißt. Sie haben mich zur Symbolfigur des unverhältnismäßigen Gegenschlags gemacht. Sie haben mich zum Schlächter gemacht.«

Es war schmerzhaft, das auszusprechen, aber zugleich empfand er eine merkwürdige Erleichterung. Dawes blickte ihn mit unergründlicher Miene an. Fred konnte ihm nicht in die Augen sehen.

Dawes nickte, schien eine Entscheidung zu treffen, schob eine Hand in die Tasche und zog ein Messer heraus. Er klappte die alte schartige Klinge aus. Fred holte tief Luft und atmete langsam wieder aus. Er war bereit. Dawes trat hinter ihn. Ein schneller Schnitt durch die Kehle, und Fred würde in vier Minuten verbluten. Bei einem Stich in die Nieren könnte es Stunden dauern. Wenn er die Fesseln an seinen Armen durchtrennte, würde es Jahre dauern.

Dawes durchtrennte die Fesseln.

»Das war kein Prozess«, sagte Fred. »Sie sind nicht hier, um ein Urteil über mich zu fällen.«

»Das hatte ich auch nicht vor«, sagte Dawes. »Ich meine, wenn Sie wirklich nur eine Ihrer Marines gebumst hätten, hätte ich Sie einfach aus der Luftschleuse geworfen, Verschwendung hin oder her. Aber ich war ziemlich sicher, dass ich recht hatte.«

»Und was passiert jetzt?«

Dawes schob Fred nach vorn. Seine Hände begannen zu prickeln. Dawes schnitt die Fesseln an seinen Beinen durch.

»Wenn Sie nur einen einfachen Ausweg suchen, dann töten Sie sich selbst und versuchen Sie nicht länger, der AAP die Schuld in die Schuhe zu schieben. Ich habe genug schlechte Presse, ohne dass der Held der Anderson-Station ermordet wird.«

»Und andernfalls?«

Dawes ließ sich auf den Hintern sinken und klappte mit einer Hand die Klinge ein.

»Ich will keine Ressourcen verschwenden, Colonel. Das Mädchen und sein Vater haben nichts davon, wenn Sie sterben. Wenn Sie bei der Kleinen und denen, die Ähnliches durchmachen, etwas wiedergutmachen wollen, könnte ich Ihre Kompetenz gebrauchen. Sie sind eine seltene Ressource. Sie haben Wissen und Ausbildung, und als ein Mann, der im ganzen System für das Töten von Gürtlern berühmt ist, können Sie unser stärkster Fürsprecher sein. Sie müssen nur alles, was Sie kennen und lieben, hinter sich lassen. Das Leben, das Sie sich aufgebaut haben. Die Bewunderung, die Ihnen viele entgegenbringen. All die Dinge, die Sie sowieso schon verloren haben.«

»Dann war das eine Rekrutierung.«

Dawes stand auf und schob das Messer in die Tasche. Dieses Mal reichte sein Lächeln bis zu den Augen.

»Was Sie nicht sagen.« Dawes wandte sich an die Frau. »Recanos ai postar. Asi geendig.«

»Aiis«, sagte sie und schulterte professionell das Gewehr.

Die beiden gingen zusammen hinaus und ließen Fred auf dem Boden zurück, wo er seine Beine massierte, bis das Gefühl zurückkehrte.

*

Anmerkung der Autoren zu „Der Schlächter der Anderson-Station“

Am Anfang sollte es keine Erzählungen zu THE EXPANSE geben. Nicht, weil wir absolut dagegen gewesen wären, sondern weil man erst einmal daran denken muss, bevor man es machen kann – und wir kamen nicht auf die Idee. In dieser Hinsicht existiert dieses Buch nur dank John Joseph Adams, dem Herausgeber von Lightspeed. Er war der Erste, der uns fragte, ob wir schon überlegt hatten, Erzählungen im Universum von „Leviathan erwacht“ (im Shop) zu schreiben, und sobald er es sagte, taten wir es.

„Der Schlächter der Anderson-Station“ legte fest, was die Kurzgeschichten sein sollten: eine Gelegenheit, Nebenhandlungen zu erzählen oder Teile des Universums zu erkunden, die nicht zur Haupthandlung gehörten, aber interessante Aspekte boten.

„Der Schlächter“ ist eine Hintergrundgeschichte für Fred Johnson, ja. Aber es ist auch eine Geschichte über Schuld und über die Anstrengungen, die Menschen unternehmen, um sich davon zu befreien. Fred ist ein zutiefst moralischer Mann, der zu einem Instrument des Bösen gemacht wird. Auch wenn er nicht direkt etwas für die Ereignisse auf der Anderson-Station kann , wird er von ihnen verfolgt, und ohne Anderson Dawes’ Einschreiten hätten sie ihn umgebracht.

Es gibt eine Zeile aus dem Thomasevangelium, die Daniel mag: „Wenn du hervorbringst, was in dir ist, wird dich das, was du hervorbringst, erretten. Wenn du aber nicht hervorbringst, was in dir ist, wird dich das, was du nicht hervorbringst, zerstören.“ Dieser Gedanke und unsere Geschichte gehören zusammen.

Letztlich nahm John Joseph Adams die Geschichte nicht an. Es gibt viele Variablen, wenn man eine Zeitschrift herausgibt, und diese spezielle Story passte in dem Monat nicht ins Konzept. Kein Problem. Wir veröffentlichten sie schließlich als E-Book bei Orbit, wo sie seitdem ein glückliches Dasein fristet.

Eine andere Figur in der Geschichte ist eine Angst einflößende Frau, die Fred mit dem Gewehr bedroht und bereit ist, ihm in den Kopf zu schießen, sobald Dawes sie dazu auffordert. Später, als wir die Serie drehten, schlug Cara Gee (die Camina Drummer spielt) vor, dass die namenlose Frau Drummer in jungen Jahren gewesen sein könnte. Das leuchtete uns ein.

*

Diese Erzählung ist enthalten in:

James Corey: Das Protomolekül · Originaltitel: Memory’s Legion · Aus dem Amerikanischen von Marcel Häußler und Jürgen Langowski · Wilhelm Heyne Verlag · 512 Seiten · Paperback: € 16,- (im Shop)

Kommentare

Zum Verfassen von Kommentaren bitte Anmelden oder Registrieren.
Sie benötigen einen Webbrowser mit aktiviertem JavaScript um alle Features dieser Seite nutzen zu können.