Comic-Legenden, KI-Debatten und der lange Weg eines Franchise
Phantastik-Comic-Neuheiten im Mai
Charles Burns bleibt weiterhin der Beauftragte für die Schatten der Pubertät, Erik Kriek liefert holländischen Folkhorror, Ika Sperling zeigt einen unbescholtener Familienvater im Morast der Verschwörungstheorien. Und wie hat George Lucas bloß die Dreharbeiten zu „Star Wars“ überlebt?
Charles Burns: Daidalos Band 3
Der Abschlussband von Charles Burns’ Trilogie über die fragile Phase der Pubertät: Das klingt nach Arthouse, aber Burns sucht stets den dezenten Schock mithilfe bizarrer Traumbilder und grotesker Visualisierungen des Unbewussten. Man rechnet ständig damit, dass unvermittelt eine kürbisgroße Made durch das Setting kriecht oder plötzlich eine Figur mutiert aus einem Nickerchen erwacht und ist zugleich auf der Hut vor dem Unbill des Lebens, von dem die Pubertät reichlich bereithält. Bei Burns ist nicht nur der Traum von der meist nicht schönen Realität okkupiert, es kann sich auch umgekehrt abspielen. Und so verfolgt man ängstlich die aussichtslose Romanze zwischen Brian Milner und Laurie Dunn, die mit Freunden, für die das Unterfangen längst nicht so existenziell ist wie für Brian, einen Super-8-Horrorfilm drehen, dabei aber immer wieder in Konflikt mit ihren unterschiedlichen Bedürfnissen geraten. Das schildert Burns mit gebotener Ruhe und brodelnder, sich langsam erhebender Befremdlichkeit. Am Ende haben wir erneut einem perfekten Coming-of-Age-Psychospiel beigewohnt, von dem sich nie genau sagen lässt, ob wir dem Horror der Melancholie oder der Melancholie des Horrors begegnet sind.
Charles Burns: Daidalos Band 3 • Reprodukt, Berlin 2024 • 88 Seiten • Hardcover • € 24,00
Erik Kriek: Die Grube
Auch der Niederländer Erik Kriek fühlt sich im Horror-Genre wohl und hat beispielsweise mit „Vom Jenseits und andere Erzählungen“ einen vergnüglichen Kurzgeschichtenband mit Lovecraft-Storys herausgebracht, dem Krieks Liebe zu Charles Burns‘ Arbeiten anzusehen ist. Und das gilt auch für seine neue Veröffentlichung „Die Grube“, einer Graphic Novel, in der das Trauma eines Paares, dessen Sohn gestorben ist und das die Trauer durch einen Umzug von Amsterdam in ein abgelegenes Haus in einem verwunschenen Waldstück auf dem Land zu bannen versucht, mit übernatürlichen Ereignissen konfrontiert wird. Schauriger Folkhorror auf psychologischer Basis: Mit der gegenseitigen Entfremdung des Paares steigert sich auch die Intensität der unerklärlichen Beobachtungen, sodass der Horror auch hier zur Metapher des mentalen Schmerzes seiner beiden Protagonisten wird. Stephen Kings psychologisches Meisterstück „Pet Sematary“ wird den Weg hierhin geebnet haben. Kriek hat ihn sich hervorragend einverleibt.
Erik Kriek: Die Grube • Avant-Verlag, Berlin 2024 • 132 Seiten • Hardcover • € 26,00
Ika Sperling: Der Große Reset
Ika Sperlings Graphic Novel führt tief in den Morast der Verschwörungstheorien. Sperling erzählt eine Geschichte, die sie selbst erlebt hat: vom Leid einer Familie – Mutter, Vater und zwei Töchter –, die auseinanderbricht, weil sich der Vater während Corona heillos in Youtube-Videos verloren hat, die vom „Großen Reset“ halluzinieren – Corona, Klimawandel, Ukrainekrieg, Inflation, alles von der Regierung und den „Eliten“ gesteuerte Ereignisse, die nur den großen Bürgerkrieg und die Ökodikatur vertuschen sollen, die beide bevorstünden. Nun will der Vater das Haus verkaufen und auswandern, was er damit seiner Frau, die in der Pandemie ihren Job verloren hat, antut, ist ihm egal. Die Studentin Ika besucht übers Wochenende ihre Familie auf dem Dorf, eine Reise ins Herz der Verdrängung. Jedes Familienmitglied hat seine eigene Kommunikationsstrategie entwickelt, um mit diesen neuen Umständen klarzukommen, keine erweist sich als erfolgreich. Die Brüchigkeit des Verbundes spiegelt sich auch in der zarten Aquarellierung der Zeichnungen, deren flüchtige Schönheit zur Hoffnungslosigkeit in dem Familienheim einen nur noch leeren Kontrapunkt bildet. Den Vater zeigt Sperling konsequent als amorphe Blase mit einem menschlich geformten Körper, der aus Flüssigkeit besteht, ein fremdes Wesen, bei dem es schmerzlich mitanzusehen ist, wie es sich zwischen all den unerträglichen Tiraden, die niemand hören möchte, mit hilflosen kleinen Gesten als der gleichgebliebene Vater aus unbeschwerten Zeiten zu benehmen versucht. So veranschaulicht Sperling auf der Mikroebene die Folgen eines unkontrollierten Medienmolochs, der sich zum wichtigsten Verbreitungsmittel für die Destabilisierungsversuche der Rechtspopulisten entwickelt hat.
Ika Sperling: Der Große Reset • Reprodukt, Berlin 2024 • 176 Seiten • Klappenbroschur • € 28,00
Sergio Ponchione: Memorabilia
Mit diesem Werk debütiert der italienische Künstler Sergio Ponchione auch in Deutschland. Der schmale Band besteht aus kleinen Verneigungen vor den US-amerikanischen Comiclegenden Wally Wood, Richard Corben, Will Eisner, Steve Ditko und Jack Kirby, denen Ponchione in kurzen Schlaglichtern und mit jeweils angepasstem Stil Tribut zollt. Das ist erzählerisch reizvoll und sollte gerne Schule machen, und tatsächlich bliebe höchstens zu meckern, dass man davon noch viel mehr lesen möchte. Hier hat Kollege Christian Endres bereits den Charme dieses Werks besungen.
Sergio Ponchione: Memorabilia • Avant-Verlag, Berlin 2024 • 56 Seiten • Hardcover • € 25,00
Laurent Hopman, Renaud Roche: George Lucas. Der lange Weg zu Stars Wars
Man kann von der Franchise-Maschine „Star Wars“ schwer genervt sein und wird trotzdem mit dieser Comicbiografie seinen Spaß haben. Renaud Roche und Laurent Hopman zeichnen nicht den Erfolgsweg bis zur Gegenwart nach, sondern beschränken sich auf die intensive Produktionsgeschichte des ersten Teils. Höhepunkt ist folglich, wie es Lucas trotz unzähliger Widrigkeiten gelingen wird, den Film 1977 in die Kinos zu bekommen. Wir befinden uns also tief in der Phase des New-Hollywood-Kino, einer Zeit, in der kein Produktionsstudio, ja nicht einmal Lucas‘ Filmcrew daran glaubt, dass sich das Publikum für ein eskapistisches SF-Märchen eines sozial gehemmten Nerds, der viel zu verkopfte Dialoge schreibt, interessieren wird. Die finanziellen Probleme und ihre teils fatalen Auswirkungen bilden den roten Faden des chronologisch erzählten, hervorragend recherchierten Comics, der sich in den besten Passagen wie die Tragikomödie eines Filmfanatikers ausnimmt.
Laurent Hopman, Renaud Roche: George Lucas. Der lange Weg zu Stars Wars • Splitter Verlag, Bielefeld 2024 • 208 Seiten • Hardcover • € 29,80
Laurent Daudet, Appupen: Dream Machine
Ein KI-Comic, der sachlich die aktuellen Debatten um die größte technische Revolution seit der Erfindung der Dampfmaschine zu bündeln versucht, manchmal etwas zu sachlich: Im Kern geht es um die Hauptfigur Hugo, der mit seinem Start-up das Large Language Model der KI erweitert: Mit seinem Programm lässt sich die KI nicht nur mit europäischen Texten, sondern auch mit Werken auf Arabisch und Hindi füttern. Deswegen unterbreitet ihm der Tech-Gigant REAL schon bald ein außerordentlich lukratives Angebot, was zu allerlei ethischen Diskussionen und Selbstbefragungen führt. Die wichtigste: In welche Richtung steuert eine Gesellschaft, in der die technischen Mittel nicht von der Wissenschaft, sondern von wenigen Megakonzernen erforscht, verwaltet und angepasst werden, weil sie die einzigen Akteure sind, die über genügend finanzielle Ressourcen für diese komplexe und sich rasant weiterentwickelnde Forschungsarbeit verfügen? Das ist diskursiv am Puls der Zeit, wird stilistisch aber so verschwenderisch mit Textblöcken gelöst, dass die Möglichkeiten des Mediums Comic keine nennenswerte Rolle spielen.
Laurent Daudet, Appupen: Dream Machine • Jacoby & Stuart, Berlin 2024 • 176 Seiten • Klappenbroschur • € 25,00
Georges Bess: Der Glöckner von Notre-Dame
Bram Stokers „Dracula“, Mary Shelleys „Frankenstein“ und nun Victor Hugos „Der Glöckner von Notre-Dame“ – Comicadaptionen von Klassikern der Weltliteratur sind mittlerweile Georges Bess‘ Markenzeichen. Und Hugos Roman über die sich langsam zersetzende klerikale Gesellschaft, der sowohl ein historisches Sittengemälde als auch eine Philosophie der Architektur liefert, verdichtet Bess in gewohnt prunkvoller Schwarzweiß-Grafik auf die sozialen Fragen: der Rassismus, die Frömmelei, die Misogynie, der Hass auf die Ausgestoßenen und Ausgebeuteten sind allesamt inhaltliche Aspekte, an deren Überwindung die Menschheit bis heute scheitert. Da ist es nur redlich, in sozial desolaten Zeiten an Hugo, das einstige soziale gewissen Frankreichs, zu erinnern.
Georges Bess: Der Glöckner von Notre-Dame • Splitter Verlag, Bielefeld 2024 • 208 Seiten • Hardcover • € 39,80
Gou Tanabe: Das Grauen von Dunwich Band 1
Der Mangaka Gou Tanabe ist der Comic-Chronist der Werke Lovecrafts: Mit „Das Grauen von Dunwich“, das in drei Bänden erscheinen wird, nähern sich seine Lovecraft-Umsetzungen langsam dem zweistelligen Bereich. Sie alle vereint die außergewöhnliche visuelle Hingabe: Besonders die Doppelseiten erinnern ob ihrer Akkuratesse an das Horror-Genie Bernie Wrightson. So findet Tanabe auch für diese „Weird Tales“-Story maximale Stimmungsbilder, wie sie nur wenigen Adepten gelingen. Überhaupt ist er einer der wenigen Manga-Künstler, die sich ganz in ihre Zeichenfähigkeiten vertiefen und nicht ein einziges Panel mit routiniertem Gleichmut abhandeln.
Gou Tanabe: Das Grauen von Dunwich Band 1 • Carlsen Manga, Hamburg 2024 • 216 Seiten • Softcover • € 14,00
Scott Snyder, Jock: The Book of Evil
Die nächste Print-Ausgabe von Scott Snyders Phantastik-Comic-Kollektion bei Comixology, im vorliegenden Fall handelt es sich um einen illustrierten Roman. Snyder entwirft eine klassische Dystopie, die keine Umwege nimmt: 50 Jahre in der Zukunft hat der Homo Verus den Homo Sapiens nahezu verdrängt. Ein Virus raubt den Menschen im Erwachsenenalter jedwede Empathie, sodass das gesellschaftliche Zusammenleben zwar weiterhin kapitalistisch organisiert ist, aber nunmehr endgültig auf ein Zweiklassensystem eingedampft wurde, dessen Strukturen mit unverhohlen grausamen Mitteln geschützt werden – ein Sozialdarwinismus, an dem sich niemand mehr stört. Bis auf vereinzelte Jugendliche, die in streng kontrollierten Arbeitervierteln ihrer Transformation harren. Unter ihnen versucht eine Gruppe aufs Land zu fliehen, um dort doch noch ein gutes Leben zu finden, das die Geschichtsschreibung womöglich unterschlägt. Gesäumt mit den allseits bekannten Gefahren, die ein solches Vorhaben in einem Überwachungsstaat bedeutet, ist Snyders Unbehagen am Zeitalter der Autokratien deutlich spürbar. Dies ist seine Flaschenpost.
Scott Snyder, Jock: The Book of Evil • Splitter Verlag, Bielefeld 2024 • 184 Seiten • Hardcover • € 29,80
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