24. April 2023 1 Likes

Zombiedramen, Puppensplatter und Exploitationfilme

Phantastik-Comic-Neuheiten im April

Lesezeit: 5 min.

Sammy Harkham verbeugt sich vor dem Grindhouse-Kino der 70er Jahre, Diego Agrimbau und Juan Manuel Tumburus lassen mörderische Kinder auf erschöpfte Soldaten los und Tillie Walden betritt das „Walking Dead“-Universum mit einem Spin-off.

 

Sammy Harkham: Blood of the Virgin

Einem Comic, in dessen Danksagungsliste Joe Dante auftaucht, kann man vertrauen. Mit Hauptfigur Seymour torkeln wir durch die US-amerikanische Grindhouse-Szene der 1970er. Der arbeitet als Cutter für einen protzigen Exploitation-Produzenten, fühlt sich aber zu Höherem berufen. Er schreibt Drehbücher, von denen wenig in den Filmen übrig bleibt und die ewige Aussicht auf die erste eigene Regiearbeit nährt seinen Narzissmus so sehr, dass er ständig den ohnehin fragilen Familiensegen aufs Spiel setzt. In diesem Comic darf man leidenschaftlich hassen. Aber auch schwelgen. Der Blick, den Zeichner Sammy Harkham auf diese Guerilla-Filmindustrie richtet, steckt voller Liebe fürs schnell runtergekurbelte Horrorkino. Wir schwitzen im Schneideraum, huschen über notdürftig hergerichtete Sets, lauschen allerlei Fachsimpeleien auf verdrogten Partys und kriegen zugleich eine ziemlich heruntergekommene Parallelwelt vor den Latz geknallt, durch die sich Harkham mit einer meisterhaft gestalteten Antiliebesgeschichte laviert. Kein Skandalgeschrei wie bei Kenneth Anger, sondern eine illusionslose Sicht auf die Hinterhöfe der Traumfabrik, wo Pragmatismus die wichtigste Währung ist. Abermals kann man Reprodukt nur danken, dass dieser fantastische Zeichner und Autor endlich ins Deutsche übertragen wird.

Sammy Harkham: Blood of the Virgin • Reprodukt, Berlin 2023 • 296 Seiten • Hardcover • € 39,00

 

Tillie Walden: Clementine Band 1

Tillie Walden zeichnet schneller als ihr Schatten und versteht es, jedes Genre mit feministischem Bauplan neu zusammenzusetzen. Ob Science-Fiction-Story („Auf einem Sonnenstrahl“), autobiographische Graphic Novel („Pirouetten“) oder lyncheskes Road Movie („West, West, Texas“), stets werden Themen und Motive überraschend aufgemöbelt. Nun ist also der Horror an der Reihe. Robert Kirkmans „The Walking Dead“ (im Shop) ist als Comicserie zwar beendet, das Franchise hat sich über die Jahre indes zu einem multimedialem Universum entwickelt. Die Titelfigur Clementine stammt aus dem Telltale-Game und Walden erzählt in diesem Spin-off-Auftakt (das drei Bände umfassen wird), wie sie sich als einbeinige 17-Jährige zusammen mit vier weiteren Jugendlichen zurückgezogen auf einem nur mit einem Sessellift zugänglichen Berg gegen die Zumutungen der Postapokalypse zu erwehren versucht. Das mag (noch) nicht der ganz große Wurf sein, mit denen man sonst von Walden versorgt wird, aber im Zombie-Subgenre mit originären Ideen zu reüssieren, ist mittlerweile auch keine leichte Aufgabe.

Tillie Walden: Clementine Band 1 • Cross Cult, Ludwigsburg 2023 • 256 Seiten • Hardcover • € 26,00

 

Diego Agrimbau, Juan Manuel Tumburus: Mit leeren Augen

Auch Puppenhorror scheint erschöpfend abgegrast, aber das Künstlerduo Diego Agrimbau und Juan Manuel Tumburus will in seiem Oneshot „Mit leeren Augen“ auch nicht den Eindruck erwecken, das Rad neu zu erfinden. Psychopatische Kinder, mörderische Puppen im opulenten frankobelgisch-naturalistischen Stil, dazu ein „Ab 18“-Sticker auf dem Cover, der die Erwartungen auf eine Splatter-Oper setzt. Tatsächlich sieht man hier nichts, was nicht bereits die EC-Comics der 1950er durchexerziert hätten, das aber mit vergleichbarer Unbekümmertheit. Schauplatz ist ein altes Landhaus mitten im Wald, in dem sich eine Gruppe Kinder von verirrten Soldaten ernährt, so diese aus Zufall ihre Wege kreuzen. Ein boshafter Spaß, der dadurch besticht, dem Spiel mit der Drastik keine epischen Absichten vorauszuschicken. Stattdessen münden die offenkundigen Kriegstraumata der Kinderfiguren in einem blutigen Inferno.

Diego Agrimbau, Juan Manuel Tumburus: Mit leeren Augen • Splitter Verlag, Bielefeld 2023 • 80 Seiten • Hardcover • € 19,80

 

Hubert, Vincent Mallié: Tenebrae. Zweites Buch

2020 starb der französische Szenarist Hubert mit gerade mal 49 Jahren, darum ist auch das Abschlussalbum seiner zweibändigen Serie „Tenebrae“, ein posthum veröffentlichtes Werk, ein bitterer Genuss, veranschaulicht die Erzählung doch abermals, wie eigenwillig und genial er seine Plots entwickelte. Sah man sich im ersten Band noch mit einem nahezu konventionellen Fantasy-Märchen konfrontiert, folgt nun die unvorhersehbare Wende, ohne das Leitmotiv zu suspendieren. Denn jetzt stecken die verfluchte Königstochter Islen und der gefallene Ritter Azhur mitten im Paaralltag ihres selbstgewählten Exils und der Reiz der jungen Liebe weicht schnell der Drangsal des Überlebens unter ärmlichen Bedingungen. Und dann schleichen sich auch Zweifel in Islens Glauben an Azhurs Aufrichtigkeit und es stellt sich schon bald die Frage, ob sie womöglich Opfer seiner ziemlich männlich attribuierten Manipulationsversuche geworden ist und sich nun in einer neuen Abhängigkeit befindet. Oder trübt die missliche Lage einfach nur den Blick auf das gemeinsame Glück? Diese Ambivalenz macht aus „Tenebrae“ fast schon ein feministisches Traktat. Kein Topos, mit dem man im Fantasy-Comic sonderlich verwöhnt würde.

Hubert, Vincent Mallié: Tenebrae. Zweites Buch • Splitter Verlag, Bielefeld 2023 • 80 Seiten • Hardcover • € 19,80

 

Christian Godard, Julio Ribera: Der Vagabund der Unendlichkeit – Integral Band 1

An Gesamtausgaben mangelt es im deutschsprachigen Comicmarkt nicht und manchmal reibt man sich perplex die Augen, was alles in dieser Welle aus Marketinggründen zum Klassiker erklärt wird. „Der Vagabund der Unendlichkeit“ hingegen ist psychedelischer 70er-Science-Fiction-Irrsinn, wie er heutzutage wohl als ausgestorben gelten kann. Eine Space Opera auf Pilzen, die vom Leipziger Kleinverlag Kult Comics in acht Sammelbänden ediert wird. Das ist nicht nur mutig, sondern auch dringend geboten, weil die hiesige Publikationsgeschichte der frankobelgischen Serie ziemlich chaotische Wege nahm: Es gab Alben beim Condor Verlag und Volksverlag, bei Arboris und schließlich bei Feest, munter in chaotischer Reihenfolge publiziert. Nun erscheinen Axle Munshines kosmische Reisen endlich erstmals in korrekter Reihenfolge und um kundige Dossiers ergänzt. Bestimmt hat auch der große Wenzel Storch seinen Spaß daran.

Christian Godard, Julio Ribera: Der Vagabund der Unendlichkeit – Integral Band 1 • Kult Comics, Leipzig 2023 • 232 Seiten • Hardcover • € 39,00

 

Pure Fruit #27

Immer eine Empfehlung ist das Kieler Comicmagazins „Pure Fruit“. Das Thema der neuen Ausgabe lautet „Künstliche Intelligenz“, an dem sich die Künstler*innen Eva Muggenthaler, Brösel, Kim Schmidt, David von Bassewitz, Jens Rassmus, Lara Swiontek, Volker Sponholz, Gregor Hinz und Tim Eckhorst mal gewitzt, mal unbeeindruckt, mal finster abarbeiten. Das Heft findet man kostenlos in Cafés, Kneipen, Kinos, Buchhandlungen in Kiel und Umgebung, deutschlandweit in vielen Comicshops oder online unter diesem Link.

 

Abb. ganz oben aus Tillie Waldens „Clementine“ Band 1, Cross Cult.

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