11. Mai 2017 2 Likes

Ein Leben nach dem Tod

Giant Sparrows außergewöhnliches Adventure „What Remains of Edith Finch“

Lesezeit: 6 min.

Während die überwältigende Masse noch mit einem Hang zu naiven, wenig ernstzunehmenden Geschichten aufwartet, hat sich seit einigen Jahren speziell mit den sogenannten Walking Simulatoren am Big-Budget-Rand eine Game-Nische etabliert, das meist im wahrsten Sinne des Wortes einen alternativen Weg einschlägt. Titel wie Gone Home, Oxenfree oder zuletzt Night in the Woods widmen sich schweren, tiefsinnigen und oft genug bis zum schwer verdaulichen Abschluss Themen wie  Fatalismus, Einsamkeit oder Tod auf eine seriöse Art, die Blockbustern schon aus Sicht der Massentauglichkeit fremd sein muss. Die genannten Motive bilden nun auch bei What Remains of Edith Finch, dem neuesten Titel der Unfinished Swan-Macher des Indie-Studios Giant Sparrow, das dominante bis allgegenwärtige Fundament einer Story, die mehr sein will als launige Unterhaltung.

Ein typischer Ansatz für Giant Sparrow, denn sowohl bei The Unfinished Swan als auch seinem geistigen Nachfolger geht es abstrakt gedacht zunächst darum, das Unbekannte zu erkunden und sich in die Erzählstruktur erst hineinzufinden. In Unfinished Swan war das Unbekannte als weiße Landschaft konzipiert, die man mithilfe von Farbe weiter aufdeckt und weiterspinnt. Bei What Remains of Edith Finch geht es dagegen mehr um das Geheimnis hinter einer Verkettung tragischer Ereignisse in Verbindung mit einer düsteren Art des Storytelling, die aufgrund subjektiver Einfärbungen nie ganz in einer vollständigen Auflösung des Unbekannten  aufgehen kann. Bei beiden Titeln bleibt letztlich ein für manche Spieler je nach Sicht mehr oder weniger befriedigend interpretierbarer Rest, der sich nur in der eigenen Vorstellung zu einer Gesamtheit verbinden lässt.

An dieser Prämisse lässt What Remains of Edith Finch zu keiner Zeit auch nur den Hauch eines Zweifels aufkommen. Mit den Augen eines zunächst unbekannten Avatars, starten wir mit einem Tagebuch in der Hand eine Reise in die Vergangenheit und versuchen anhand des Durchlebens einer kuriosen bis tieftraurigen Familiengeschichte herauszufinden, wie es sich mit permanenter Todesangst vor Augen überhaupt leben lässt. Bei der Familie handelt es sich um den Clan der Finchs, der sich über mehrere Generationen erstreckt. In dem Tagebuch, das von Edith stammt und die uns mit ihrer Erzählerinnenstimme über die gut zwei Stunden lange Kampagne konstant mit ihren Gedanken und Gefühlen begleitet, finden wir den Familienstammbaum. Doch wo zu Beginn nur Namen entlang eines Baumes aufgelistet sind, besteht unser Ziel darin, diese Namen in gewisser Weise mit Leben zu füllen (in diesem Fall: eine Skizze der jeweiligen Person hinzufügen). Das erreichen wir, indem wir das Schicksal hinter den Namen ergründen und kleinere Informationsschnipsel in Form anklickbarer Objekte sammeln.

Unser Weg führt uns über ein märchenhaft idyllisches Wäldchen zum mehrstöckigen Anwesen der Familie, das schon länger verwaist ist . Komplexe Aufgaben wie echte Rätsel oder gar Action gibt es für uns auf unserer Entdeckungstour durch das Haus nicht zu tun. Alle Aktionen beschränken sich auf kleinere Aktionen, die weder Übung noch Grips erfordern. Die Entwickler legen wie bei den genannten Genre-Kollegen ihren Fokus auf die Atmosphäre und einen in sich stimmigen Erzählbogen, den sie zwar mit kleineren Gameplay-Mechaniken anreichern, jedoch nie zulasten der selbigen zu stark unterbrechen. Ein Scheitern ist daher auch nicht vorgesehen und so dürften selbst völlig ungeübte Spieler dem Erzählpfad bis zum Abschluss ohne Probleme folgen dürfen. Schon das Haus mit seinen vielen Zimmern führt uns wie an einer Schnur durch seine Geheimnisse und lässt uns mit jedem neu betretenen Raum ein weiteres Familienschicksal kennenlernen. Andere Figuren begegnen uns dabei nicht. Wir übernehmen nur jeweils imaginativ oder anhand eines Gegenstands motiviert in einer Art Rückblick das jeweilige Familienmitglied und begleiten es in den Tod.

Doch anders, als es so manch arg verfälschender Trailer vorab suggerierte, handelt sich hier nicht um einen Horrortrip oder gar ein Survival-Horror-Game. Die Stimmung ist während wir das verlassene und in mehrfacher Hinsicht liebevoll verschachtelte Haus abschreiten, zwar äußerst gedrückt,  aber bewusst nie gruselig. Das würde auch der Botschaft des Titels völlig zuwiderlaufen, da der Todesfluch, der offenbar auf der Familie liegt, trotz oder gerade aufgrund all der offensichtlichen Tragik der einzelnen Todesfälle als self-fulfilling prophecy daherkommt und nicht als ein von bösen Kräften aktiv initiiertes Geisterkomplott. Giant Sparrows Adventure als Horror-Game zu bezeichnen, macht ebenso wenig Sinn wie Resident Evil als Shooter oder Mass Effect als Action-Adventure zu klassifizieren. Das, worum es wirklich geht, wird mit solchem Etikettenschwindel krass verfehlt.

Was storytechnisch wie inhaltlich nun bei Edith Finchs Blick auf ihre Familiengeschichte rundum erdrückend klingt, entpuppt sich allerdings bei genauerer Betrachtung nicht als notwendigerweise völlig depressives Erlebnis. Denn analog zu unserer Figur im Zusammenspiel mit Ediths Tagebuch liegt es auch an uns, dem Gezeigten auch eine fröhliche, ja sogar lebensbejahende Perspektive abzugewinnen. Denn so absurd es vielleicht klingen mag: wir erkunden ein Haus, das vor Liebe und Zuneigung im wahrsten Sinne aus allen Nähten platzt. Da die Familie größer war als das Haus, bauten die Finchs immer mehr Zimmer an, sodass das Anwesen wie ein riesiges, aber eben auch gemütliches Patchwork aussieht.

Es sind die vielen Details der Einrichtung wie prallgefüllte Bücherregale, Bilder, Spielsachen, Briefe oder sogar die Wanddekoration, die uns die Charaktere ebenso näherbringen wie deren teils verschrobene, teils ganz gewöhnliche Eigenschaften und kleinere Macken. Diese Fülle spiegelt sich wiederum in den kleinen Gameplay-Spielereien wider, die mit jedem Familienmitglied wechseln. So schlüpfen wir beispielsweise in der Vorstellung der hungrigen Molly in verschiedene (Tier-)Gestalten, um uns etwas zu Essen zu jagen, während wir mit dem ehemaligen Kinderstar Barbara passend zu ihrer Vergangenheit im Showbusiness einen kleinen Comic-Trip inklusive toller Reminiszenzen spielen dürfen (John Carpenter lässt grüßen) oder im Fall des vermissten Milton lediglich ein gezeichnetes Daumenkino ablaufen lassen, das sein Verschwinden pikanterweise in einem für die Familie ungewohnten Licht erscheinen lässt.

Bei aller Abwechslung besteht in den einzelnen Mechaniken vielleicht eine der wenigen Schwächen des Titels, da wir meist zunächst nicht wissen, was eigentlich in den Sequenzen zu tun ist und wie sie sich steuern lässt. Kurzes Herumprobieren löst zwar recht schnell mögliche Einstiegsprobleme, nimmt der Situation allerdings unnötig ein Stück weit ihre anfängliche Intensität. Außerdem schafft es nicht jede Sequenz, das Schicksal der jeweiligen Figur optimal mit der entsprechenden Mechanik zu verkoppeln und verpufft so in ihrer spielerischen Wirkung. Dass dies manchmal wiederum sehr wohl gelingt, beweist exemplarisch eine besonders erdrückende Passage mit einem Kleinkind, das in der Badewanne spielt. Denn hier bleibt aufgrund der Perspektive besonders deutlich offen, was sich wirklich ereignet hat und welche Schlüsse man aus dem eben Gespielten ziehen kann.

Will man die Kritikspirale zumindest ein wenig weiterdrehen, ließe sich außerdem mangelnder Wiederspielwert als zusätzlicher Negativpunkt anführen. Zwar lohnt es sich schon aufgrund der Details auf jeden Fall, das Haus nochmal zu besuchen, doch Ablauf und Inhalt bleiben völlig gleich und ob sich bei mehreren Durchgängen eine ähnlich intensive Stimmung aufbaut wie beim ersten Mal, kann stark bezweifelt werden. Doch dieser Kritikpunkt läuft bei einem Titel wie Edith Finch eigentlich ins Leere. Denn steht eher das einmalige Erzählen und Entdecken im Vordergrund, so dass das Adventure eher mit einer ambitionierten Visual Novel vergleichbar ist und es als solche vielleicht sogar noch besser funktioniert hätte.

Fazit

A sad story of life and death. Bei What Remains of Edith Finch handelt es sich um einen Walking Simulator, der in beeindruckend konsequenter, weil erdrückend unterschwelliger Art die Reihe melancholischer Indie-Games wie Night in the Woods fortsetzt. Die knapp zwei Stunden Spielzeit sprühen vor kleinen Details und einem trotz des eingeschränkten Settings liebevoll vielschichtigen Art-Designs, das in seiner Symbolik sicher bei jedem Spieler länger nachwirkt, der sich auf diesen Totenpfad einlässt.

Wie für Kenner des Genres hingegen nicht anders zu erwarten, gibt es hier wenig „Spiel“, doch dafür entschädigen die Entwickler mit einer behutsam aufgebauten Subtilität, die gerade bei einem schwierigen Thema wie dem Umgang mit dem Tod innerhalb einer Familie in dieser Form ihresgleichen sucht. So beweisen die Macher des großartigen The Unfinished Swan mit Nachdruck, dass Walking Simulatoren aktuell zu den erzählerisch stärksten Vertretern im Game-Kosmos zählen. Diese Erkenntnis bleibt definitiv eng mit dem Erbe von Edith Finch verbunden. Wie hoffentlich so vieles mehr.

What Remains of Edith Finch • Giant Sparrow/Annapurna Pictures • Adventure/Walking Simulator

Abb. © Giant Sparrow/Annapurna Pictures

 

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