21. Juni 2017 2 Likes

„Wir werden nie aufgeben!“

Ein Gespräch mit Kim Stanley Robinson, dem gefeierten Autor der Mars-Trilogie – Teil 1

Lesezeit: 16 min.

Es passiert nicht alle Tage, dass man die Gelegenheit bekommt, einen seiner Lieblingsautoren bei einer Tasse Tee Löcher in den Bauch fragen zu dürfen. Umso glücklicher war ich, als ich Kim Stanley Robinson, den Autor einiger meiner Lieblingsromane wie der Mars-Trilogie (im Shop), der Kalifornien-Trilogie (im Shop) oder „Aurora“ (im Shop), in Berlin treffen und ein Interview mit ihm führen durfte. Stan legte Ende März in Deutschland gleich zwei Zwischenstops ein: er hielt einen Vortrag im Klimahaus Bremerhaven und las wenige Tage später in Berlin aus seinem neuen RomanNew York 2140“ (im Shop), der im Mai 2018 auf Deutsch erscheinen wird. Das sei keine Promo-Tour, betont er gleich zu Beginn unseres Gesprächs:

Ich habe den Roman in New York vorgestellt und bin dann privat nach Barcelona auf ein Literaturfestival geflogen. Danach wollte ich Freunde in Deutschland besuchen, und die haben die beiden Lesungen in Bremerhaven und Berlin organisiert. Morgen fliege ich weiter nach London, wo ich „New York 2140“ vorstellen werde, weil es gerade in UK erschienen ist. Dann geht es zurück nach New York, wo ich an der Rutgers und an der Columbia University Vorträge halte, ehe ich wieder nach Hause fliege. Ich mache also eine Rundreise, die viel länger dauert als meine sonstigen Promo-Touren.

 

Eigentlich wollte ich das Gespräch mit einem ganz anderen Thema beginnen, aber einen Tag vor Ihrem Besuch hier hat Präsident Trump ein Dekret unterzeichnet, mit dem er Teile von Obamas Klimapolitik zurücknimmt. Außerdem nahm er Dekrete und Memoranden zurück, die die US-Regierung dazu anhalten, sich auf die Folgen des Klimawandels, darunter auch steigende Meeresspiegel, vorzubereiten. Also quasi auf die Welt, die Sie in „New York 2140“ schildern. Werden vier Jahre Trump tatsächlich das Aus einer starken Klimapolitik bedeuten, weil der Klimawandel heruntergespielt wird, sodass die Menschen ihn nicht mehr als ein Problem wahrnehmen?

Ich kann Ihnen nicht sagen, wieviel Schaden Trump anrichten wird. Es ist offensichtlich, dass er es darauf anlegt, größtmöglichen Schaden zu verursachen. Aber ich hoffe, dass das System sich als stärker erweist, und dass sich am Ende zeigt, dass selbst der amerikanische Präsident den Kurs einer Zivilisation nicht ändern kann. Für mich stellt sich konkret die Frage, ob Trump versuchen wird, das Pariser Abkommen aufzukündigen. [Hier wurden wir von der Geschichte überholt: inzwischen hat Donald Trump angekündigt, dass die USA aus dem Pariser Abkommen austreten wollen. E.B.] Das Übereinkommen von Paris gehört zu den entscheidenden Meilensteinen in der Geschichte der Menschheit. Es ist einfach bemerkenswert. Schließlich haben die einzelnen Nationalstaaten keinen Grund, warum sie für den Klimaschutz zusammenarbeiten sollten. Sie hätten auch ein Nullsummenspiel spielen können, bei dem jede Nation versucht, ihre eigenen Interessen durchzusetzen und einfach weiterhin die Menge an CO2, die ihm zur Verfügung steht, in die Luft bläst. Wenn jedes Land das machen würde, würden wir fünfmal mehr CO2 ausstoßen, als wir dürfen. Das Pariser Abkommen hingegen sieht eine weltweite Reduktion der CO2-Emissionen vor, um der globalen Erwärmung entgegenzuwirken. Und alle wollen mitmachen. Einfach bemerkenswert! Ich habe mich gewundert, dass dieses Abkommen damals nicht mehr gefeiert wurde. Sicher, es trägt uns nur eine Hälfte des Wegs, und wir müssen es auch umsetzen. Aber als Ereignis an sich wurde nicht genug darüber berichtet. Wenn Trump also jetzt formell erklärt, dass die USA aus dem Pariser Abkommen aussteigen, werde ich zu dem Protestmarsch, den es dann in D.C. geben wird, gehen, auch wenn das wahrscheinlich nicht viel bringen wird und sich nicht allzu viele dafür interessieren werden. Aber ich muss mich den wenigen Demonstranten dann einfach anschließen. Es könnte durchaus sein, dass ich dann darüber nachdenke, dasselbe zu tun wie die Intifada in Palästina, obwohl das eine schlechte Strategie ist und dem Polizeistaat nur in die Hände spielt. Es ist besser, wenn ich mir meine Taktik bei Gandhi oder Martin Luther King abschaue. Oder bei Thoreau. Ich werde diese ganze Passiver-Widerstand-und-ziviler-Ungehorsam-Nummer durchziehen. Es gibt ja nur wenige Anarchisten, die verrückt genug sind, in solchen Situationen Gewalt anzuwenden, und das macht es dann für alle schlechter. Die meisten Leute sind bereit für den zivilen Widerstand, und diesen Bewegungen werde ich mich anschließen. Und hoffentlich bleiben die USA dann im Pariser Abkommen. Abgesehen davon ist Trump ein Idiot, ein Verrückter. Aber er wurde gewählt, weil fünfundvierzig Prozent der amerikanischen Bevölkerung wütend genug, dumm genug, entrechtet genug und verängstigt genug war, um ihn zu wählen. Das ist ein furchtbares Zeichen. Ich hoffe, dass das lediglich das letzte Aufbäumen einer aussterbenden reaktionären Front ist, und dass danach die jungen Menschen, die Frauen und so weiter die nötige Energie aufbringen, um gegen das zu kämpfen, wofür Donald Trump steht. Vielleicht wird es schon bald eine radikale Kehrtwende zum Positiven geben.

 

Ich denke, dass Sie damit nicht alleine dastehen. Hierzulande gibt es auch genügend Leute, die auf dasselbe hoffen – gerade im Hinblick auf die Rechtspopulisten. Sie versuchen, etwas Positives zu tun, und Wege zu finden, für etwas zu sein, statt immer nur dagegen.

Die EU und die Probleme, die ihr hier habt, sind interessant. Auf den ersten Blick scheinen sie die Probleme, die wir in Amerika haben, auf eine europäische Weise widerzuspiegeln. Es gibt natürlich auch Probleme in der EU, die wir nicht haben. Wir leben in politisch sehr verwirrenden Zeiten. Obwohl Trump es immer wieder behauptet, haben wir in den USA nicht einmal ansatzweise das Einwanderer-Problem, das ihr hier habt, weil Amerika ein Einwanderungsland ist. Bei uns ist diese Problematik massiv entschärft, obwohl Millionen Menschen einwandern. Trump spielt das in seinem Wahnsinn hoch. Er repräsentiert wirklich nur alte, weiße, arme Menschen. Mein Heimatstaat Kalifornien zum Beispiel wird von jeder Menge Latinos, Vietnamesen und Hmong bewohnt. Bei uns werden hunderte Sprachen gesprochen. Uns käme es nicht seltsam vor, wenn auf einmal scheinbar viele Menschen aus dem Mittleren Osten über die Grenzen kommen, weil uns das vertraut ist. Und es ist eigentlich auch kein echtes Problem, oder? Wenn aus sechs Prozent Muslime in einem Land auf einmal acht Prozent werden, ist das nicht gerade eine radikale Veränderung der Gesellschaft. Aber es ist genug, dass die Menschen in Europa Angst bekommen. In Amerika passiert das so nicht. Andererseits haben sowohl die Amerikaner als auch die Europäer Angst davor, zum Prekariat zu werden, ihre Jobs und ihre soziale Grundsicherung zu verlieren. Deswegen müssten eigentlich alle Sozialdemokraten oder Sozialisten sein. Aber dummerweise werden sie getäuscht, sodass sie jetzt denken, dass einzig ihre Unabhängigkeit sie retten kann und dass man der Regierung nicht erlauben darf, sich überall einzumischen. Dabei ist die Regierung in Wirklichkeit ihre beste Verteidigung! Hören Sie sich das an! Ich als alter Linker muss jetzt die Regierung verteidigen! Kaum zu glauben, oder? [Lacht.] Es ist verrückt, dass wir inzwischen so weit sind!

 

Ich bin zwar keine ganz so alte Linke, aber ich finde mich hin und wieder in derselben Situation. Und dabei sitze ich jeden zweiten Freitag bei meiner Freundin in der Küche, trinke Wein und plane die Weltrevolution. Das ist wirklich verrückt!

[Lacht.] Ja, nicht wahr? Aber an diesem Punkt sind wir jetzt. Das ist ein sehr sonderbarer Moment in der Geschichte. Ich bin so links, wie man es als Amerikaner nur sein kann, aber ich bin auch ein sehr praktisch veranlagter Mensch. Ich unterstütze Pläne, bei denen tatsächlich absehbar ist, was als nächstes getan werden muss. Wenn wir ein bestimmtes Ziel in der Zukunft erreichen wollen, was müssten wir genau jetzt dafür tun? Weil ich Science-Fiction schreibe, kann ich sagen: „Ja, auf dem Mars machen wir das so und so, und es ist ganz anders als auf der Erde!“ Was ich tatsächlich tue, ist mich in der Zeit zurückzuschreiben, bis ich im Hier und Heute angekommen bin. „Green Earth“ beispielsweise ist in Wahrheit ein realistischer Roman über die Bush-Regierung. Vieles davon scheint schon passiert zu sein, einiges davon wird sicher erst in naher Zukunft passieren. Es gibt nur sehr wenige Autoren, die diese Sorte politischer Romane schreiben. Das, worauf ich bei „Green Earth“ wirklich sehr stolz bin, ist, dass mir ein Roman wie von Balzac gelungen ist, der sich um das Hier und Jetzt dreht und in dem das Individuum und seine Gesellschaft und Politik und die Geschichte dahinter dargestellt wird. So etwas schreibt heutzutage keiner mehr. Deswegen wurde „Green Earth“ als Science-Fiction vermarktet, und es ist eines meiner Bücher, das sich am besten verkauft. Die Science-Fiction Leser sagen dann: „Hey! Moment mal! Das ist ein Roman über ein Bürokratentreffen in Washington! Warum lese ich das? Ich wäre jetzt lieber auf Alpha Centauri!“ Die Mainstream-Leser, wie wir sie in Amerika nennen, lesen meine Bücher hingegen gar nicht, weil sie nicht wissen, dass ich nicht immer über Alpha Centauri schreibe. Sie sehen das Label „Science-Fiction“ und glauben, es muss so etwas wie Star Trek sein. Oder schlimmer, Star Wars! Ich musste also meine eigene Marke schaffen, meine Nische, und das ist mir gelungen, mit Hilfe meiner Verleger und durch Durchhaltevermögen. Es gibt keinen Namen für „mein“ Sub-Genre. Wissen Sie, wie ich es nennen würde? Science-Fiction! Ich definiere Science-Fiction als das, was mir gefällt und mich interessiert. Und das sind die nächsten 200 Jahre, plausible Zukunftsszenarien und eine Art literarischer Realismus, der auch die Geschichte mit einbezieht. Ich würde sagen, dass Ursula K. Le Guin (im Shop), die zu meinen großen Vorbildern gehört, wie überhaupt die ganze Generation der New Wave, die im Grunde eine Generation älter sind als ich und die alle sehr politische Science-Fiction-Autoren waren (und noch sind. Aber im Laufe der Zeit muss jeder Schriftsteller zu seiner eigenen Marke werden. Man muss sofort an seinem Schreibstil erkannt werden können. Und das ist mir auf jeden Fall gelungen.

 

Würden Sie sagen, dass in diesen „verrückten Zeiten“ diese Sorte Science-Fiction wichtiger denn je zuvor geworden ist? Weil Menschen durch sie an Themen herangeführt werden und Informationen, die Leute wie Trump unterdrücken wollen, in unterhaltsamer Form präsentiert bekommen?

Ja, das denke ich schon. Die Menschen suchen nach Hoffnung, sie suchen nach einem Plan. Sie fragen sich, ob die Zukunft wirklich so schlimm sein wird wie die ganzen Panikmacher behaupten. Sie wollen wissen, wie unsere Chancen stehen, wenn wir alles richtig machen. Deswegen ist utopische Science-Fiction schon immer so wichtig gewesen, zumindest die letzten 150 Jahre. In Amerika gibt es die sogenannte „progressive era“, die von dem Buch „Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf das Jahr 1887“ von Edward Bellamy inspiriert wurde. Es ist kein sonderlich tolles Buch, aber die Leute diskutierten in ihren Buchclubs darüber, und daraus wurde dann eine politische Bewegung. Es ist 1888 erschienen und handelt im Grunde von Sozialismus in Amerika. Als politischer Roman war es ein Riesenerfolg. Es inspirierte die Fortschrittsbewegungen und Menschen wie Teddy Roosevelt dazu, Gutes zu tun. Plötzlich durften alle wählen, in der Industrie dachte man um und so weiter. Das waren nicht Bellamys Ideen, er hat sich das alles nicht ausgedacht. Bellamy inspirierte im Übrigen auch H. G. Wells, der nach seinen frühen Romanen, von 1905 bis zu seinem Tod 1945, ebenfalls utopische Romane geschrieben hat – ganze vierzig Jahre lang! Wells war nicht nur mutig, sondern auch stur! [Lacht.] In seiner fundamentalen Sturheit bestand er darauf, dass die Menschen im Grunde anständig seien, sodass die Menschheit sich ihren Weg zu etwas Gutem planen könne. Als sich die UN im April 1945 zur Konferenz von San Francisco traf, um die internationale Ordnung wiederherzustellen, ging es auch um Dinge wie soziale Sicherheit und Meritokratie in der Wissenschaft – das ist H. G. Wells utopischer Vision zu verdanken, auf der er Buch für Buch bestanden und gesagt hatte, dass alles gut werden würde, wenn wir es auf diese Weise machten. An der Konferenz waren junge Staatsdiener beteiligt, fast alles Männer, und viele von ihnen Briten, die sich fragten, wie die Dinge von jetzt an laufen sollten. John Maynard Keynes und H. G. Wells haben so die internationale Ordnung nach dem Zweiten Weltkrieg bestimmt. Ich weiß nicht, ob eine Einflussnahme der utopischen Literatur in dieser Größenordnung heute noch möglich ist. Ich kann es mit meinen Romanen nur versuchen. Und ich bin fest dazu entschlossen. Ich halte viele Vorträge an Universitäten. Ich rede mit den Studenten, aber auch mit ihren Professoren, weil sie in der Regel diejenigen sind, die mich einladen. Ich spreche also mit Wissenschaftlern, meistens Umweltwissenschaftlern, darüber, was wir als nächstes machen und wie wir mit dem Klimawandel umgehen sollten.

 

Und was sagen Sie den Studenten? Was sollten wir als nächstes machen?

Die Menschheit kann mit allem fertigwerden. Am meisten beeindrucken mich die Organisationen, die versuchen, das Aussterben von Arten zu verhindern. Wir Menschen können eine Menge Schaden anrichten, aber wenn wir verhindern, dass Arten aussterben, kann sich der Planet von diesem Schaden auch wieder erholen, weil die Ökologie sehr widerstandsfähig ist. Artensterben zu verhindern ist also ein lohnendes erstes Ziel. Danach sollten wir alles tun, was wir können. Der Klimawandel findet statt. Es gibt unterschiedliche Pläne, ihn zu verhindern, über die weltweit diskutiert wird. Einige davon stammen aus Deutschland. Das Potsdam Institut für Klimafolgenforschung etwa untersuchte, ob es möglich sei, Wassermassen auf die Antarktische Eiskappe zu pumpen, um den Meeresspiegel zu senken, und was das kosten würde. Ich liebe diesen Plan! Er stammt aus „Green Earth“! Ich habe vor Jahren darüber geschrieben und mir gedacht: „Wie verrückt ist das denn bitte?“ Und dann kommt das Potsdam Institut und rechnet das durch. Sie haben bestätigt, dass es in der Tat ein verrückter Plan ist. Man bräuchte rund zwanzig Prozent des weltweit produzierten Stroms dafür. Das ist eine Menge Strom! Aber es ist ja auch viel Wasser. Ich habe in „Green Earth“ viel zu einfach gedacht. Die meisten anderen Pläne sind nicht so verrückt, und es kommt eine Menge Gutes dabei heraus. Wir werden auch nie aufgeben. Die Menschheit wird niemals den Punkt erreichen, wo alle einfach die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und sagen: „Oh, wir haben’s vermasselt. Jetzt können wir uns nur noch hinsetzen und weinen!“ Vor allem die jungen Leute werden sagen: „Okay, das ist jetzt also unsere Welt. Was können wir tun, um die Dinge etwas besser zu machen? Wie können wir besser damit zurechtkommen?“ „Zurechtkommen“ ist eines der Wörter, die ich derzeit häufig benutze. Darin liegt eine gewisse Komik, die Sie auch sehen werden, wenn Sie „New York 2140“ gelesen haben. Der Roman ist im Grunde eine verspielte Komödie, „a romp“, wie wir das nennen. Die Figuren kümmern sich nicht darum, dass der Meeresspiegel um fünfzehn Meter gestiegen ist - das ist schließlich schon ein halbes Jahrhundert her. Das wäre ja so, wie wenn sich junge Leute heutzutage exzessiv Sorgen über den Zweiten Weltkrieg machen würden. Und es war nicht einmal ein Krieg, sondern eine Naturkatastrophe, die die Menschen aus Versehen verursacht haben. Es gibt in „New York 2140“ nicht wirklich viele Bösewichte. Wenn Menschen heutzutage gegen den Klimawandel kämpfen, werden sie oft zu Verbrechern. Aber die Leute, die ihn verursacht haben, haben einfach nur ihren Job gemacht, sonst nichts. „New York 2140“ ist also eine schräge Geschichte.

 

Soweit ich das dem Roman bisher entnehmen kann, ist das kapitalistische System, das zumindest zum Teil für das, was passiert ist, verantwortlich ist, immer noch da. Das hat sich also nicht verändert.

Das ändert sich im Laufe des Romans. Das kommt ziemlich am Ende. „New York 2140“ ist die Geschichte einer Revolution – und ich hoffe, dass sie Sie zum Lachen bringt. Denn selbst diese Revolution ist eine Komödie. Sie hat mit der Weigerung, Steuern zu zahlen, und der Macht des Volkes zu tun. Der weltweite Finanzmarkt braucht uns ganz normale Menschen, um zu funktionieren. Er ist wie ein Parasit, der unser Blut braucht, um zu überleben. Es ist wie bei einem Pferd, das eine Fliege am Hintern hat: es kann sie verscheuchen, aber dann kommt die Fliege einfach wieder. Oder es kann sie töten. Ich habe viel mit radikalen Ökonomen, Politologen und Soziologen gesprochen, die alle versuchen, eine neue, post-kapitalistische Wirtschaftsform zu entwickeln. Einen ihrer Pläne schildere ich in meinem Roman. Und der ist ziemlich lustig. Denn obwohl der Finanzmarkt angeblich die ganze Welt regiert und man sich ihm nicht entziehen kann – das ist Kapitalismus -, ist er überschuldet und deswegen schwach und fragil. Man könnte ihn mit einfachen Mitteln zu Fall bringen. Zum Beispiel, wenn man einen Crash wie den von 2008 absichtlich herbeiführt, was sehr einfach möglich ist. Deswegen sind die Banker und Börsenmakler ja auch so verzweifelt. Ich kann Ihnen diesen Teil der Geschichte kurz erzählen, das ist kein Spoiler: in „New York 2140“ geschieht genau das, der Börsencrash von 2008 wiederholt sich. Damals hat die US-Regierung General Motors verstaatlicht, um die Firma zu retten. In meinem Roman werden die Banken und Investmentfirmen von der Regierung gekauft und dadurch gerettet. Damit werden sie im wahrsten Sinne des Wortes die Banken des Volkes – eine staatliche Genossenschaftsbank. Die Gewinne, die sie nach der Verstaatlichung machen, sind „obszön“, aber sie fließen in die Staatskasse. Plötzlich hat die Regierung das Geld für Dinge wie Gesundheitsfürsorge, kostenlose schulische und universitäre Ausbildung, soziale Absicherung und wahrscheinlich sogar für ein Vollbeschäftigungsprogramm. Letzteres hätte eine Revolution unserer Denkweise zufolge: wenn jeder einen garantierten Arbeitsplatz hätte, würde es keine Konkurrenz mehr um die Arbeitskraft geben, und keiner würde mehr schlecht bezahlte Jobs annehmen, weil das besser ist, als gar keinen Job zu haben. Die grundlegendsten Lebenshaltungskosten würden von der Regierung übernommen, solange man sich sozial einbringt - und es gibt eine Menge Stellen, an denen Arbeitskräfte nützlich eingesetzt werden könnten! Deswegen verstehe ich nicht, warum es in manchen europäischen Ländern bis zu fünfundzwanzig Prozent Arbeitslose unter den jungen Menschen gibt, wo es doch so viel wichtige Arbeit im sozialen Bereich zu tun gäbe. Das Arbeitslosenproblem ist eine dieser schrägen Verzerrungen des kapitalistischen Systems: eigentlich dürfte es nicht existieren, denn die Arbeit ist ja da! Wenn die Regierung für diese Arbeit gut bezahlen könnte – und die Regierung wäre reich, weil sie sich den Finanzmarkt gekrallt hat -, dann sähe die Sache anders aus. Ich habe also einen recht plausiblen Plan für die Revolution in „New York 2140“. Es ist nicht nur „alles muss besser werden, und um das zu erreichen, wedeln wir einmal mit dem Zauberstab“. Es ist eher ein politisches Programm. Und auch ich habe mir das nicht ausgedacht. Ich habe den Sozialismus ebenso wenig erfunden wie den Postkapitalismus.

 

Ich freue mich schon darauf, das zu lesen, weil ich das Gefühl habe, dass wir so einen Plan dringend gebrauchen könnten.

[Lacht.] Wir brauchen alle einen Plan!

 

Ich habe den Eindruck, dass der Finanzmarkt mit seiner seltsamen Sprache und seinen Ritualen darauf ausgelegt ist, dass normale Menschen nicht verstehen sollen, was dort eigentlich vor sich geht, weil sie sonst erkennen würden, wie stupide das ganze System ist.

Jep. Ganz genau.

 

Mir ist das so richtig im Zuge der Griechenland-Krise klar geworden, als ich mich fragte, woher eigentlich diese ganzen Zahlen kommen. Das waren so absurd hohe Beträge, und ich konnte mir nicht vorstellen, dass es überhaupt einen realen Gegenwert dafür geben sollte. Ich kam zu dem Schluss, dass an den Börsen mit Fantasiezahlen gehandelt wird – es sind nur Zahlen auf Papier, mehr nicht. Und das sollte die Macht haben, das Leben von Milliarden Menschen zu beeinflussen?

Es ist interessant, dass Sie das sagen, weil es im Finanzmarkt tatsächlich echte und imaginäre Zahlen gibt, und es ist schwer, sie voneinander zu unterscheiden. Und die Finanzmärkte profitieren davon, dass wir das nicht können und nichts darüber wissen. Derivate zum Beispiel werden auf der Basis von Geld, das noch nicht verdient wurde, zusammengestellt. Es gibt eine Menge Papier, das kein echtes Geld ist, sondern einfach nur Papier, aber es wird gehandelt und für wertvoll gehalten. Gut, auch echtes Geld ist in höchstem Grade problematisch, in einem fundamentalen philosophischen Sinne. Je mehr ich mich mit Ökonomie befasse, desto öfter denke ich: „Oh mein Gott, das ist ein Albtraum!“ Ökonomie ist ein weites Feld, wie die Science-Fiction. Es gibt einen Teilbereich, der im Grunde Soziologie mit Zahlen ist, und einen anderen, der versucht, jeden zu betrügen – kompletter Bullshit. Und dazwischen liegen Welten. Manchmal vermischen sich diese beiden Teilgebiete, aber normalerweise sind sie sehr gut zu unterscheiden. Und beide fallen unter den Oberbegriff Ökonomie. Und Ökonomie ist eigentlich immer eine Diskussion über den Kapitalismus. Allein das Wort „Ökonomie“ besagt ja bereits, dass der Kapitalismus regiert und wir ihn studieren. Wenn man hingegen über andere Themen wie den Postkapitalismus oder den Sozialismus spricht, gerät man auf das Gebiet der politischen Wirtschaftswissenschaften. Das ist ein völlig anderer Wissenschaftszweig, der an den amerikanischen Universitäten so gut wie tot ist. Die Fakultäten verschwanden im 19. Jahrhundert, nach dem Sieg des Kapitalismus. Wir haben also nur Wirtschaftswissenschaften ohne politische Ökonomie – wir hätten uns ebenso gut das halbe Gehirn wegpusten können!

 

Andere mögliche Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme werden ja auch massiv dämonisiert.

Ja, genau!

 

Man kann gar nicht mehr über Sozialismus oder, noch schlimmer, Marxismus diskutieren, ohne dass alle Anwesenden völlig schockiert sind.

Ganz genau! Sie werden mit den Totalitären Systemen und den Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts in Verbindung gebracht, und deswegen darf man nicht darüber reden. Aber Marx kommt immer wieder zurück. Er ist ein sehr guter Analytiker der Geschichte. Als jemand, der versucht, die Zukunft vorherzusagen hingegen … Jeder ist schlecht darin, die Zukunft vorherzusagen. Es spielt also keine Rolle, ob es Karl Marx ist, der es versucht. Immer, wenn er das macht, wird er zum Science-Fiction-Autor. Ich weiß so gut wie jeder andere auch, dass man als Science-Fiction-Autor einfach nur rät und in der Regel danebenliegt, weil die Realität bizarrer ist, als wir uns das vorstellen können.

 

Es ist ja auch nicht Ihr Job, die Zukunft vorherzusagen.

[Lacht.] Stimmt. Mein Job ist es, Zukunftsszenarien zu entwerfen, die plausibel sind. Ich würde nie sagen, dass dieses oder jenes wirklich geschehen wird. Einige der Sachen, die in „New York 2140“ passieren, sind schon im Jahr 2008 passiert, andere Ereignisse sollten meiner Meinung nach besser morgen passieren, andere können nicht vor dem Jahr 2500 passieren. Trotzdem sind all diese Ereignisse in diesem fiktionalen Jahr 2140 zusammengemischt. Das ist das, was Science-Fiction tun sollte, und ganz sicher keine Vorhersage.

 

Es wäre auch irgendwie beunruhigend, wenn Sie das wirklich könnten.

Ja, dann wird es ziemlich biblisch. [Lacht.] Prophezeiungen sind immer furchtbar.

 

Teil zwei dieses Interviews finden Sie hierDie Romane von Kim Stanley Robinson finden Sie in unserem Shop

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