19. Juli 2017 2 Likes

„Uns geht langsam, aber sicher der Planet aus!“

Ein Gespräch mit Kim Stanley Robinson, dem gefeierten Autor der Mars-Trilogie – Teil 2

Lesezeit: 10 min.

Bei seinem Besuch in Deutschland hatte ich die Gelegenheit, Kim Stanley Robinson auf einen Kaffee in Berlin zu treffen. Nachdem wir im ersten Teil ausführlich über das Amerika unter Donald Trump, Flüchtlings- und Klimakrisen sowie seine neuste Utopie „New York 2140“ (ab 9. Januar 2018 in unserem Shop) geplaudert hatten, kamen wir in Teil zwei auch auf seine Romane zu sprechen – und konnten doch die Politik nicht ganz lassen:
 

Was mir an Ihren Romanen am besten gefällt sind die langen Zeiträume, die Sie abdecken, diese Multi-Generationen-Projekte wie in der Mars-Trilogie (im Shop) oder Aurora (im Shop), und die Figuren, die langfristig denken. Ich habe das Gefühl, dass die meisten meiner Zeitgenossen ziemlich kurzsichtig sind –besonders in der Wirtschaft. Wir wollen alles, und wir wollen es jetzt sofort. Keiner weiß, was in fünf Jahren passieren wird. Keiner will sich vorstellen, wie es in hundert Jahren aussehen wird. Ich habe den Eindruck, dass das eines der Dinge ist, die sich ändern müssen, wenn wir die Welt wirklich verändern wollen, auch im Hinblick auf den Klimawandel. Wir müssen wieder anfangen, langfristig zu denken.

Oh mein gütiger Gott, ja, da stimme ich Ihnen voll und ganz zu! Das ist ja auch der Grundgedanke der Science-Fiction: sie ist das Anti-Kapitalismus-Projekt schlechthin. Wenn Vierteljährlicher Profit und Aktionärsvermögen die einzig wahren Gesetze sind, erhält man die Zerstörung der Umwelt und der Leben der Menschen. Und das ist schlecht! Es könnte schlimmer nicht sein! Die grundsätzlichen Regeln, nach denen das System weltweit betrieben wird, sind schlicht und ergreifend zerstörerisch für alle bis auf dieses berühmte eine Prozent Superreiche. Warum die denken, dass sie das System weiterhin betreiben und am Laufen halten können, und wie sie ihre Handlungen vor sich selbst rechtfertigen, weiß ich nicht. Es ist vielleicht ein Fall von „falschem Bewusstsein“ (im Sinne von Friedrich Engels, E.B.). Vielleicht denken sie auch einfach nur an sich selbst und ihre Nachkommen, und nicht global. Vielleicht glauben sie, dass es irgendwann allen gut geht, wenn es ihnen gut geht, weil eine Flut eben alle Schiffchen zum Schwimmen bringt. Das stimmt so nicht. So oder so haben sie unrecht, und wir brauchen langfristiges Denken mehr als dringend. Als ich letzte Woche in Spanien war, habe ich gehört, dass man dort ein Ministerium für die Zukunft einrichten will, damit es ein Mitglied im Kabinett gibt, das für zukünftige Generationen spricht, so, wie wir Umweltminister haben, die für die Natur sprechen. Ich halte das für eine wunderbare Idee, die meiner Meinung nach aus dem Bedürfnis, langfristig zu denken, entstanden ist. Das Pariser Abkommen ist auch langfristig gedacht, deswegen war ich so begeistert davon. Dieses Denken kommt eher aus den Regierungen denn aus der Wirtschaft, denn die ist nicht darauf ausgelegt. Ich mag diese CEOs nicht. Die kommen von Wirtschaftsschulen, auf denen sie eine bestimmte Logik gelernt haben, nämlich die Logik des Systems, eine Ideologie. Sie gehen dann raus in die Welt und denken, wenn sie Millionäre werden können, indem sie das System legal manipulieren, ist alles in Ordnung. Das ist so kurzsichtig! Aber genau das passiert tagtäglich da draußen in der realen Welt, weil es eben keine Fakultät für politische Ökonomie gibt, die ihnen etwas anderes beibringen könnte! Und dann sind da noch die Analysen. Wenn die CEOs die richtigen Analysen lesen würden, würden sie verstehen, dass ihr Profit aus dem Verlust anderer entsteht, dass sie ihn sich angeeignet haben, indem sie andere dafür ausgebeutet haben – die ganzen alten Marxistischen Begriffe stimmen! Aber Marx und Engels haben sich nicht genug darauf konzentriert, wie der Kapitalismus sich die gesellschaftliche Kim Stanley Robinson: New York 2140Reproduktion – also die ganze unbezahlte Arbeit, die wir verrichten, um neue Menschen zu machen -, und die natürlichen Ressourcen aneignet. Es gibt eine ganze Reihe wirklich guter rot-grüner Synthesen, einen Öko-Marxismus. Und es gibt ein paar wirklich gute Analysen, die das Gesamtbild zusammensetzen und uns zeigen, dass uns langsam, aber sicher der Planet ausgeht. Der Kapitalismus kann nicht weiter wachsen, was er aber im Rahmen seiner klassischen Modelle tun muss. Deswegen ist er dem Untergang geweiht. Ihm gehen die Ressourcen aus. Er kann nicht ins Unendliche weiterwachsen. Ihre Generation ist die, die den Karren an die Wand fahren, die das Limit erreichen wird. Und wissen Sie was? Manche Leute werden dann sagen, das sei die Apokalypse, Armageddon, Zombies auf der Straße, hol besser dein Maschinengewehr! Aber so weit wird es nicht kommen. Es wird eher ein „Tod durch tausend Schnitte“. Die meisten werden sagen: „Oh nein, das geht alles schief, was sollen wir jetzt machen? Wir können doch den Kapitalismus nicht verändern!“ Wir nähern uns in kleinen Schritten dem Desaster, ohne jemals die Erlösung durch eine Apokalypse zu erfahren. Deswegen schreibe ich immer wieder Near-Future-Szenarien, in denen es eigentlich unmöglich ist, so weiterzumachen wie bisher, die Leute es aber trotzdem tun. Mir geht es um diese existenziellen Momente, wie Samuel Beckett: um Leute, die einfach weitermachen, die versuchen, einen Partner zu finden, Kinder zu zeugen und ihrem Leben einen Sinn zu geben. Das wird auch weiterhin passieren. Die Zombies kommen nicht. Und ich denke, dass das interessante Geschichten sind, die man gut erzählen kann, und dass nicht genug Autoren versuchen, sie zu erzählen. Ich bin der Meinung, dass wir Schriftsteller anfangen sollten, neue, ideologisch aufgeladene Geschichten zu erzählen, die den Leuten eine neue Art des Denkens beibringen. Ich glaube, dass das Publikum das wollen würde. Ich bin nur ein Science-Fiction-Autor, und ich habe eine lange Karriere hinter mir, und dennoch ist es für mich überraschend, dass die Menschen Geschichten, wie ich sie schreibe, heute mehr denn je lesen wollen. Ich bin jetzt beliebter als jemals zuvor, ich verkaufe mehr Bücher und werde auf mehr Konferenzen eingeladen. Ich bin zu so etwas wie einem hauptberuflichen Intellektuellen geworden, was man eine ganze Weile lang nicht sein durfte. Und das ist großartig! In der Vergangenheit wäre ein Intellektueller bestimmt kein Science-Fiction-Schriftsteller gewesen – das wäre so, als hätte man jemanden, der Comics zeichnet, als Künstler bezeichnet. Heute sind die Comiczeichner die Intellektuellen!

Ja, ich glaube auch, dass viele Menschen sich nach solchen Büchern sehnen und eine andere Art des Denkens lernen wollen, einfach weil Leute wie Donald Trump und die Rechtspopulisten überall an der Macht sind oder scheinbar kurz davor stehen, die Macht zu ergreifen.

Ja, das sehe ich genauso! Ich hoffe, wie gesagt, dass es das letzte Aufbäumen dieser Menschen ist, die geistig am falschen Ende der Geschichte angesiedelt sind, und dass sie einfach aussterben werden. Ich habe zugesehen, wie die Generation des Zweiten Weltkrieges ausgestorben ist. Meine Eltern haben mein Interesse an Jazz aus den Zwanziger- und Dreißigerjahren geweckt, der auch in den Vierzigern noch populär war und im Swing erhalten geblieben ist. Diese Generation ist so gut wie verschwunden. Diejenigen, die noch übrig sind, sind alle über neunzig. Diese ganzen Jazz-Festivals haben deswegen keine Besucher mehr. Statt fünfzehntausend Besucher kommen jetzt vielleicht noch fünftausend, und es werden immer weniger. Die alten Rechten, die Trump-Unterstützer, sehen eine Welt, in der sich die jungen Leute keinen Deut mehr um Gender scheren. Es interessiert sie einfach nicht. Ist doch alles nur Haut. Warum sollte man sich über Gender oder die sexuelle Orientierung anderer Menschen Gedanken machen? Erstens ist das unsinnig, und zweitens geht das niemanden etwas an! Die Diskriminierung läuft der Ideologie der jungen Generation von persönlicher Freiheit zuwider. Sie wird eines Tages aufhören, weil die alten Leute, die behaupten, das hätte mit dem Christentum zu tun, oder man habe das eben schon immer so gemacht, irgendwann nicht mehr da sein werden, und ihr politisches System wird auseinanderfallen. Die Kapitalisten werden verschwinden, weil die ökonomischen Probleme nur noch ein Prozent Profit erlauben. Das wird immer offensichtlicher. Irgendwann stellen selbst die Republikaner fest, dass sie gerne eine Krankenversicherung hätten und keine Angst davor haben wollen, alt und bitterarm zu werden. Viele Leute wählen gegen ihre eigenen Interessen bis zu dem Tag, an dem sie sterben, weil sie ihren Ideen gegenüber loyal sind. Aber sie werden sterben. Außerdem wird die jüngere Generation feststellen, dass sie ihre Stimmen abgeben sollte. Das würde in Amerika schon viel helfen. Trump wäre nicht Präsident geworden, wenn ausreichend viele junge Leute zur Wahl gegangen wären.

Kim Stanley Robinson: AuroraDas war bei der Brexit-Abstimmung in Großbritannien ja dasselbe.

Genau. Ich vermute, dass diejenigen, die den Brexit durchführen, die Geschichte nicht richtig verstehen und nicht an die Demokratie glauben. Mit dem Wählen ist es wie mit der Religion. Es spielt keine Rolle, ob man zur Wahl geht oder nicht. Eine Stimme unter acht Millionen wird nichts ausrichten. Wahlen werden nie von einer einzigen Stimme entschieden werden. Aber es ist ein Fehler, nicht hinzugehen, weil sich Stimmen akkumulieren und Interessensgruppen so Einfluss gewinnen. Die wiederum wirken sich auf den Generationskrieg und den Kapitalistischen Krieg aus, die Reichen gegen die Armen. Diese zwei Kriege sind definitiv im Gange. Die meisten von uns sind arm. Begriffe wie „Prekariat“, „Einkommensunterschiede“ und das Ein-Prozent-Konzept sind politische Stationen auf dem Weg zur Veränderung der Geschichte. Wir gehen diesen Weg, aber manchmal ein wenig langsamer, als Ihnen oder mir lieb ist.

Diese Idee von dem einen Prozent ist mir ohnehin unbegreiflich. Die ganzen Superreichen machen nur ein Prozent aus. Wie viele Leute sind das? Ein Reisebus voll?

Ja, so ungefähr.

Ich meine, die könnten nicht mal eine Fußballmannschaft aufstellen, wenn sie müssten! Irgendwann müssen die Menschen doch merken, dass dieses eine Prozent gar nicht in der Lage ist, uns wirklich etwas vorzuschreiben, wenn wir das nicht wollen.

Naja, das müssen sie auch nicht. Das ist Gramscis Hegemonie-Begriff. Er meint das Übereinkommen aller, nach bestimmten Regeln zu leben, die ihnen eigentlich schaden, aber ohne, dass sie dazu gezwungen werden müssten. Es ist ein ideologischer Trick. Zuerst wird einem eingetrichtert, dass es keine Alternative mehr gibt, also gibt man auf, nach einer zu suchen, und dann hat man verloren. Das eine Prozent macht genau dasselbe, und es muss uns zu nichts zwingen.

Dieser Slogan „Es gibt keine Alternative“ ist in Europa gerade wieder sehr beliebt. Zum Beispiel, wenn die derzeitige Politik Griechenland gegenüber verteidigt wird.

„Es gibt keine Alternative“ ist einer der Lieblingssprüche der Rechten, weil sie versuchen, damit Realität und Geschichte zu kontrollieren. Sie versuchen, es so aussehen zu lassen, als blieben die Dinge, wie sie jetzt sind, für immer so. Aber in Wirklichkeit sind sie sehr veränderlich. Seit 2008 haben sie richtig Angst, weil ihnen damals beinahe alles um die Ohren geflogen und es zu einer waschechten Depression gekommen wäre, aus der vielleicht ein neuer New Deal entstanden wäre. Deswegen versuchen sie, die Löcher zu stopfen, wo sie nur können. Die Regierungen haben rund fünfzehn Billionen Dollar in die private Wirtschaft gesteckt, nur um sie am Leben zu erhalten, aber das Geld ist auf irgendwelchen Privatkonten verschwunden. Die Reichen sind eigentlich zu reich, als dass sie Angst haben müssten. Aber beim nächsten Mal könnte die Sache ganz anders aussehen. Hegemonie ist dabei der Schlüsselbegriff und sollte von jedem richtig verstanden werden, vor allem von den jungen Leuten. Diese politische Bildung wird allerdings nicht aus den Schulen kommen, weil die einfach nicht darauf ausgelegt sind. Schulen und Hochschulen würden in Schwierigkeiten geraten, wenn sie ideologisch ausbilden würden. Staatliche Schulen vermitteln die Ideologie des Staates. Ideologische Bildung sollte meiner Meinung nach besser aus Büchern und Filmen, also erzählten Geschichten, kommen. Wenn man nur noch Geschichten über das persönliche Leben erzählt, wer sich hat scheiden lassen oder zum Arzt musste oder eine Geisteskrankheit hat, reden wir nie darüber, wer warum seinen Job verloren hat. Wenn keine politischen Geschichten erzählt werden, bleibt die Hegemonie länger bestehen und hat viel mehr Macht, als sie haben sollte.

Ist das auch der Grund, warum Sie weiterhin Utopien schreiben? Sie könnten schließlich auch einfach die Angst der Leute anzapfen und sehr viel düstere Geschichten schreiben, die ja seit einiger Zeit im Trend liegen.

Ich habe eine Dystopie in den Achtzigern geschrieben, „Goldküste“ (im Shop). Das hat mir gereicht. Sie sind vielleicht einfacher zu schreiben, aber sie sind nicht nützlich. Als Schriftsteller finde sie außerdem wenig interessant. Mich überrascht es, dass so viele Dystopien geschrieben und gelesen werden. Obwohl ich glaube, dass die Tribute von Panem wirklich wichtig waren und uns einen Schlag ins Gesicht verpasst haben, ein bisschen wie seinerzeit 1984. Sie sind ein Ausdruck dafür, was die jungen Leute gerade fühlen.

Ich könnte diese Unterhaltung noch eine Weile fortsetzen, aber die Kellnerin hat gerade darauf hingewiesen, dass das Lokal gleich schließt. Haben Sie noch „letzte Worte“ an Ihre Fans in Deutschland?

Ich freue mich, dass „New York 2140“ im Januar 2018 bei Heyne erscheint! Ich arbeite auch gerne mit meinem Übersetzer Jakob Schmidt zusammen. Weil wir über so ernst über so viele ernste Dinge gesprochen haben, will ich noch sagen, dass ich versuche, humorvolle Bücher zu schreiben, die beim Lesen Spaß machen. Früher habe ich mir sehr viel mehr Sorgen gemacht als heute. Als ich die Mars-Trilogie (im Shop) geschrieben habe, wollte ich ernst sein, weil ich das Gewicht der ganzen Welt auf meinen Schultern glaubte. Ich dachte, ich könne vielleicht den Lauf der Welt ändern, wenn ich nur die richtige Utopie schriebe! Heutzutage mache ich mir darüber keine Sorgen mehr, weil ich erkannt habe, dass es so nicht läuft. Ich habe meine großen Romane geschrieben, also werfe ich jetzt einfach die Würfel, sehe, wie sie fallen, und habe Spaß dabei. Das Ergebnis ist „New York 2140“. „Aurora“ (im Shop) war nicht ganz so einfach – in „Aurora“ war ich regelrecht gefangen, der Roman war schwer zu schreiben, und es ist erstaunlich, dass das überhaupt einige Figuren überlebt haben. Ohne die KI, die diese Geschichte erzählt, wüsste ich nicht, was ich mit diesem Roman getan hätte. Und das machte mich irgendwie traurig, und deswegen wollte ich mit meinem nächsten Buch auf jeden Fall Spaß haben – und hatte ihn auch!

Das merke ich gerade beim Lesen – „New York 2140“ macht wirklich großen Spaß.

Das glaube ich Ihnen, und ich bin mir sicher, dass Sie ein paar Mal wirklich lachen werden!

Vielen Dank für das Gespräch!

Die Romane von Kim Stanley Robinson finden Sie in unserem Shop

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