27. November 2017 2 Likes

Neunzig Minuten im All

Eine erste Leseprobe von Katie Khans aufregendem Debütroman „Schwerelos“

Lesezeit: 7 min.

Im September diesen Jahres hatten wir Ihnen „Schwerelos“ (im Shop), den Debütroman der hochtalentierten britischen Autorin Katie Khan, in unserem Ausblick bereits vorgestellt. Nun ist es endlich soweit, die dramatische Geschichte der beiden Astronauten Carys und Max ist ab dem 04.12.2017 im Buchhandel erhältlich. Für alle, die sich vorab schon einen ersten Eindruck verschaffen möchten, gibt es hier schon mal eine kurze Leseprobe. Wir wünschen Ihnen viel Vergnügen bei der Lektüre.

 

1

Das ist das Ende.« Sie taumeln ins Blickfeld: Carys atmet schwer, ein panisches Keuchen erfüllt ihren Fischglashelm. »Scheiße«, sagt sie. »Ich werde sterben.« Sie greift nach Max, doch die Bewegung stößt ihn fort, außerhalb ihrer Reichweite.

»Werden wir nicht.«

»Wir werden sterben.« Sie spricht abgehackt, unterbrochen von flachen Atemzügen, die im Glas von Max’ Helm sehr laut klingen. »O Gott …«

»Sag so was nicht«, erwidert er.

»Es ist die Wahrheit. O Gott …«

Sie fallen durch den Weltraum, wirbeln von ihrem Schiff fort, zwei pointillistische Kleckse auf einer unendlich dunklen Leinwand.

»Alles wird gut.«

Er blickt sich um, aber hier draußen gibt es nichts: nichts außer dem endlosen schwarzen Universum links von ihnen und der Erde, die in prächtigen Technicolor-Farben rechts von ihnen hängt. Er streckt sich nach Carys’ Fuß. Seine Fingerspitzen streifen ihren Stiefel, bevor er davonwirbelt, ohne etwas dagegen tun zu können.

»Wie kannst du so ruhig sein?«, fragt sie. »Oh, verdammt …«

»Hör auf, Carys. Komm schon, reiß dich zusammen.«

Ihr Fuß taumelt vor seinem Gesicht empor, und sein Gesicht schwingt zu ihren Knien hinunter. »Was können wir tun?«

Max zieht die Beine an den Körper, so weit er kann, versucht trotz seiner Panik herauszufinden, ob er seine Rotationsachse verändern kann. Den Drehpunkt? Die Achse? Er weiß es nicht. »Ich weiß es nicht«, sagt er, »aber du musst dich beruhigen, damit wir uns einen Überblick verschaffen können.«

»O Gott.« Sie wedelt mit Armen und Beinen, um irgendwie zu verhindern, dass sie vom Schiff abgetrieben wird, aber es ist sinnlos. »Was zum Teufel sollen wir tun?«

Der Aufprall hat sie stärker getroffen, und sie fliegt jetzt schneller fort als er. »Wir driften immer weiter auseinander, während wir fallen, Cari. Bald werden wir zu weit voneinander entfernt sein, um uns noch erreichen zu können.«

»Wir sind auf unterschiedlichen Flugbahnen«, sagt sie.

»Ja.« Er nimmt sich einen Moment, um nachzudenken. »Wir müssen wieder zusammenkommen«, sagt er dann. »Sofort.«

»Okay.«

»Bei drei schwingst du die Arme in meine Richtung, als würdest du in einen Pool eintauchen.« Er macht die Bewegung vor. »Beug den Oberkörper so weit wie möglich durch. Ich werde versuchen, die Beine nach oben zu schwingen, damit du sie packen kannst. Alles klar?«

»Bei drei.«

Es knistert in ihrer Funkverbindung.

»Eins.«

»Zwei …«

»Warte!« Carys hebt eine Hand. »Könnten wir den Zusammenstoß benutzen, um unseren Kurs zu ändern, damit wir zur Laertes zurückdriften?«

Mit dem mattschwarzen Rumpf und ohne sichtbare Lichter liegt die Laertes verlassen über ihnen, ein Schiff, das in der Nacht vorüberzieht. »Wie?«

»Vielleicht wenn einer von uns den anderen heftig genug stößt?«, fragt sie.

Max denkt nach. Vielleicht. Vielleicht? »Nein. Zuerst leinen wir uns an, dann überlegen wir, wie wir zurückkommen könnten. Bevor es zu spät dafür ist. Ich will dich nicht schon hier verlieren. Bereit?«

»Bereit.«

»Jetzt.«

Carys wirft den Körper nach vorn, während Max den Rücken streckt. Ihre Arme schwingen vor, während er die Beine in ihre Richtung stößt. Eine Sekunde lang hängen sie da wie umgekehrte Kommas, bevor sie sich durch die Drehung parallel ausrichten. Als sie sich nah genug sind, packt sie seine Beine und drückt seine Füße an sich. »Hab dich.«

Sie fallen Kopf an Fuß weiter, benutzen dann die Arme, um sich im Uhrzeigersinn zu drehen und langsam am anderen entlangzuhangeln, bis sie sich schließlich in die Augen blicken können.

»Hallo.« Sie legt die Arme um seinen Hals. Er zieht eine Leine aus der Tasche an seinem Oberschenkel und wickelt behutsam das schwebende Seil um sie beide, damit Carys nicht mehr von ihm wegtreiben kann.

Max atmet tief durch. »Wir brauchen einen Plan.« Er blickt zur Laertes zurück, die im Schatten des Alls lauert, während sie immer weiter vom Schiff forttreiben. »Wir müssen Hilfe holen.«

Carys hat sich auf Max’ Rückseite gezogen, wo sie im Tornister seines silbrigen Anzugs kramt. »Wer könnte uns helfen? Wir haben keine einzige Seele mehr gesehen, seit …«

»Ich weiß.«

»Wir haben Lampen«, sagt sie. »Seile, Wasser. Warum haben wir keinen Treibstoff mitgenommen? Wir sind so dumm.«

»Wir mussten versuchen …«

»Wir hätten uns die Zeit nehmen müssen. Du hättest mich zurückgehen lassen sollen und den Stickstoff …«

»Es war ein Notfall. Was hätte ich deiner Meinung nach tun sollen? Zusehen, wie dein Kopf schrumpft, während du erstickst und stirbst?«

Sie zieht sich wieder herum, sodass sie Helm an Helm sind, und sieht ihn vorwurfsvoll an. »So läuft das nicht ab, und das weißt du ganz genau. Die EVSA sagte, schrumpfende Köpfe wären ein Mythos des einundzwanzigsten Jahrhunderts, der von schlechten Filmen in die Welt gesetzt wurde.«

»Die EVSA hat vieles gesagt. Die EVSA hat auch gesagt, dass alles völlig sicher ist und nichts schiefgehen kann.« Max tippt auf den blauen Aufnäher der European Voivode Space Agency am Ärmel seines Anzugs. »Außerdem haben sie uns aufgefordert, eine Entschädigungsverzichtserklärung zu unterschreiben, falls du dich erinnerst.«

»Ich kann es einfach nicht glauben!« Sie blickt sich um. »Sollen wir es mit Osric probieren?«

»Ja. Natürlich. Ja!« Er drückt sie fest an sich.

Carys zieht das Flex über ihre Knöchel und bewegt die Finger, als würde sie tippen. Das Netzgewebe überträgt ihre Muskelreflexe und Fingerbewegungen auf eine unsichtbare Tastatur.

Osric, empfängst du mich?

Sie wartet.

Bist du da, Osric?

Ich bin da, Carys. Ein Ping ertönt in ihrem Audiokanal, und die Worte werden in blauer Farbe auf der linken Seite ihres Helms eingeblendet.

»Gott sei Dank! Max, ich habe Verbindung mit Osric.« Kannst du um Hilfe rufen?

Gewiss, Carys. Wen möchtest du rufen?

Die Basis? Die EVSA? Irgendwen?

»Frag, ob irgendwelche Schiffe in der Nähe sind«, sagt Max. »Nur für alle Fälle.«

Ist irgendjemand nah genug, um uns retten zu können, Osric?

Nein, Carys. Tut mir leid.

Bist du dir sicher?

Ja, Carys. Tut mir leid.

Kannst du mit der Erde sprechen?

Nein, Carys. Tut mir leid.

Sie schreit verzweifelt auf. Der Laut wird in ihrem Helm und durch die Audioübertragung verzerrt. Warum nicht?

Mein Empfänger wurde während des Zwischenfalls beschädigt. Ich glaube, Max hat versucht, ihn zu reparieren, als wir Sauerstoff verloren haben, Carys.

Scheiße.

Wie bitte, Carys?

Entschuldigung, Osric. Tippfehler.

Kein Problem, Carys.

Wir haben ein großes Problem, Osric. Kannst du uns helfen?

Wie soll ich euch helfen, Carys?

Sie seufzt. »Max – ich drehe mich im Kreis, wenn ich mit diesem Ding rede.«

Er streicht über den Ärmel ihres Anzugs. »Ich hatte keine Zeit, mein Flex anzubringen, Cari, also musst du das vorläufig übernehmen. Finde so viel wie möglich heraus. Sind irgendwelche Schiffe in der Nähe?«

Sie schüttelt den Kopf.

Osric, flext sie, kannst du die Laertes zu uns schicken?

Negativ, Carys. Die Navigationssysteme reagieren nicht.

Kannst du sie irgendwie bewegen?

Negativ, Carys. Die Navigationssysteme reagieren nicht.

Sie wenden?

Negativ, Carys. Die Navigationssysteme reagieren nicht, einschließlich der Manövriersysteme, die mir erlauben würden, die Laertes zu rotieren.

Wenn sie sich die Haare raufen könnte, würde sie es tun, aber ihre Hände sind in den Handschuhen gefangen, und ihre lohfarbenen Zöpfe sind im Fischglas ihres Helms eingeschlossen. Das kleine Gänseblümchen, das hinter ihrer Ohrkrempe steckt, ist leicht verrutscht. Kannst du für uns kalkulieren, wie wir zum Schiff zurückkehren können?

Carys? Ich möchte darauf hinweisen, dass ein dringlicheres …

Kalkuliere, wie wir zum Schiff zurückkehren können, Osric.

Laut Situationsanalyse befindet ihr euch auf einer Flugbahn, die keine Rückkehr zur Laertes ermöglicht, sofern ihr keine Stickstoffdüsen benutzt. Verfügt ihr über Stickstoffdüsen, Carys?

Könntest du bitte aufhören, meinen Namen an jeden Satz anzuhängen, Osric?

Gewiss.

Vielen Dank. Nein, wir haben keinen Treibstoff. Irgendeine andere Möglichkeit?

Bitte warte, während die Situationsanalyse läuft, Carys.

Beeil dich! »Osric sagt, dass wir ohne Stickstoffdüsen nicht zum Schiff zurückkehren können.«

Max zieht eine Grimasse. »Sicher?«

Carys? Ich möchte darauf hinweisen, dass ein dringlicheres …

Warte!

»Was könnten wir sonst noch probieren? Osric sagt, dass die Navigationssysteme ausgefallen sind. Soll ich fragen, ob …?«

Carys?

Was ist, Osric?

Die Situationsanalyse ergibt, dass eure Sauerstofftanks nicht voll sind.

Wir waren recht lange außerhalb der Laertes.

Die Summe der verbleibenden Atemluft und des verbrauchten Sauerstoffs ist nicht gleich der Gesamtkapazität der Tanks.

Was soll das heißen? Sprich Europäisch, Osric. Bitte!

Eure Sauerstofftanks waren nicht gänzlich aufgefüllt.

Was?

Des Weiteren ergibt sich aus der Situationsanalyse, dass sie undicht sind.

»Was?« Die Überraschung lässt sie vergessen, dass Osric sie nicht hören kann, also tippt sie es schnell ein. Was?

Eure beiden Sauerstofftanks wurden beschädigt, Carys.

Wie viel Luft haben wir noch?

»Cari?«, fragt Max.

Berechnung läuft …

Beeil dich, Osric!

Ich fürchte, eure Atemluft reicht nur noch für neunzig Minuten, Carys.

 

Katie Khan: „Schwerelos“ ∙ Roman ∙ Aus dem Englischen von Bernhard Kempen ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2017 ∙ 416 Seiten ∙ Preis des E-Books € 11,99 (im Shop)

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