18. Mai 2018

Der vergessene Grenzgänger

Christopher Ecker porträtiert Thomas M. Disch als Science-Fiction-Autor und Lyriker

Lesezeit: 4 min.

Thomas M. Disch gehört zu den wichtigsten Autoren der Science-Fiction, wird aber in Deutschland seit gut einem Vierteljahrhundert nicht mehr gedruckt. Anlässlich seines zehnten Todestags erscheint nun als Welterstveröffentlichung der Gedichtband „Endzone“, der aufgrund eines umfang- und kenntnisreichen Essays auch zur Sekundärliteratur gerechnet werden kann. Verantwortlich für das Buch zeichnet der genreaffine Schriftsteller Christopher Ecker, der mit Disch intensiv korrespondiert und dessen späte Lyrik selbst übersetzt hat.

Tom Disch: EndzoneThomas M. Disch (1940–2008) hätte man in den 1970er Jahren keinem SF-Leser vorzustellen brauchen. Bereits sein erster Roman „The Genocides“ (1965, dt. „Die Feuerteufel“) ließ aufmerken, wurde hier doch das altbekannte Invasionsmotiv originell weitergedacht: Die Außerirdischen nehmen die Menschheit kaum wahr, sondern sehen in ihr allenfalls Schädlinge, die einer Kultivierung der Erde mit riesenhaften Nutzpflanzen im Wege stehen. Zudem interessierte sich Disch wenig für Genrekonventionen, sondern widmete sich auch in seinen folgenden Büchern primär dem Menschen und seinen Verhaltensweisen; ein Ansatz, der ihn für die „New Wave“ qualifizierte, der literarischen Erneuerungsbewegung der Science-Fiction. Eine ihrer besten Geschichten wurde von Disch bereits 1964 geschrieben: In „Descending“ (dt. „Abwärts“) fährt ein Intellektueller eine Rolltreppe herab, die zu seiner Überraschung kein Ende nimmt. Dischs Lebensthema der Vereinzelung und Verlorenheit ist hier bereits auf den Punkt gebracht.

In den Folgejahren verfasste Disch dann die drei Romane, die bis heute zu den Meisterleistungen der Science-Fiction gehören. „Camp Concentration“ (1968) handelt von einem inhaftierten Kriegsdienstverweigerer, der gegen seinen Willen intelligenzsteigernden Experimenten unterworfen wird, während „On Wings of Song“ (1979, dt. „Auf Flügeln des Gesangs“) vom Scheitern des Künstlers in einer dystopischen Gesellschaft erzählt. Am eindrücklichsten ist aber womöglich „334“ (1972, dt. „Angoulême“), ein multiperspektivisch konzipierter Roman, der sich den Bewohnern eines staatlichen Sozialbaus widmet und als Parabel auf das menschliche Leben angelegt ist. Das Buch steht den Anti-Utopien „Morgenwelt“ und „Schafe blicken auf“ von John Brunner in nichts nach und ist wie diese auch weiterhin ebenso spannend wie eindrucksvoll zu lesen. Allerdings sind alle drei genannten Romane seit ihrer Wiederveröffentlichung in der zu Recht renommierten „Heyne Bibliothek der Science Fiction Literatur“ Mitte der 1980er Jahre nicht mehr lieferbar.

Nachfolgend zog sich Disch immer weiter aus der Science-Fiction zurück, obwohl er für die (auch verfilmte) Kurzgeschichte „Brave Little Toaster“ (dt. „Tapferer kleiner Toaster“) 1980 den Locus Award bekam. Zwar verfasste er weiterhin Drehbücher, Romane und Erzählungen, wobei er die unterschiedlichsten Genres bediente, aber die Absatzzahlen sanken. Für das Treatment, das er als Grundlage für den Disney-Erfolg The Lion King (1994) eingereicht hatte, wurde er mit einer vergleichsweise geringen Summe abgespeist. Viel Respekt erhielt er für die elf Gedichtbände, die unter dem Namen „Tom Disch“ bis zu seinem Tod erschienen; doch auch der Hugo 1999 für sein Sachbuch „The Dreams Our Stuff Is Made Of – How Science Fiction Conquered the World“ konnte nicht verhindern, dass Disch seinen großen SF-Roman „The Pressure of Time“ aufgrund hartnäckiger Schreibblockaden nicht fertig bekam. Nach einer Serie beispielloser Schicksalsschläge – unter anderem starb sein langjähriger Partner an Krebs, und ihm drohte der Rauswurf aus der jahrzehntelang genutzten gemeinsamen Wohnung – hat sich Thomas M. Disch am Unabhängigkeitstag 2008 das Leben genommen.

„Endzone“ fasst Dischs Schriftstellerlaufbahn in einem glänzend geschriebenen Aufsatz von Christopher Ecker zusammen, der rund ein Viertel des Buchs ausmacht, und geizt nicht mit bemerkenswerten Fotos und Faksimiles. Ecker hat auch die zweisprachig abgedruckten Gedichte von Disch übersetzt und kommentiert, wobei er immer wieder auf seinen Schriftwechsel mit dem Verfasser zurückgreift. Die von Disch in seinem Blog „Endzone“ veröffentlichte Lyrik hat nichts mit Science-Fiction zu tun, gibt aber einen ungeschönten und lakonischen Eindruck von Dischs Lebensumständen, den seine Fabulierlust und sein Humor bis zuletzt nicht verlassen haben:
 

Das Leben nach dem Tod

Die Leute fragen mich oft, wie man tot sein kann,
ohne es zu wissen. Tatsächlich haben
die meisten Geister keine Ahnung davon.
Sie gehen jahrelang ihren Geschäften nach,
spielen Bridge, machen Urlaub
in Florida, halten das Haus in Schuss,
verblassen zwar nach und nach um einige Photonen,
sind aber noch mehr oder weniger im Spiegel sichtbar.
Nur, wenn sie gezwungen sind, sich
in irgendeinen fleischlichen Austausch einzubringen, einen Kuss,
einen Faustkampf, dann geschieht es, dass sie
mit einem Ekelschauder die Erkenntnis erwischt,
dass sie Zombies sind, dass ihr Fleisch
eine Schüssel voll verfaulender Spaghetti und
kaputter Sprungfedern ist, dass sie
Monster in einem Horrorfilm sind. Und selbst dann
könnten sie noch Jahre so weitertaumeln,
auswärts in netten Restaurants essen,
aufs Cholesterin Acht geben, Fremden
alte Schnappschüsse ihrer Enkel zeigen.
Sogar ihren besten Freunden erzählen sie nicht,
dass sie tot sind. Es ist einfach viel zu peinlich.
 

Wer Lust hat, einem Grenzgänger wie Disch bei der Arbeit zuzusehen, kann hier neue Erfahrungen machen. Für alle anderen ist „Endzone“ als Sekundärwerk über einen wieder zu entdeckenden Großmeister (nicht nur) der Science-Fiction unentbehrlich. Zumal keine Geringeren als John Crowley und Dietmar Dath für Vor- beziehungsweise Nachwort zur Verfügung standen.

Tom Disch: Endzone. Letzte Gedichte • Aus dem Amerikanischen herausgegeben, übersetzt und mit einem Essay versehen von Christopher Ecker • Mitteldeutscher Verlag, Halle 2018 • 224 Seiten • € 24,–

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